Archiv


Wagner lässt grüßen

Es ist die große deutsche Sage: das Nibelungenlied. Mythen ranken sich darum, und irgendwo dahinter soll auch eine wahre Geschichte schlummern. Im Odenwald soll sich diese abgespielt haben. Dort stößt man vielerorts auf die Legende von Drachen und Helden.

Von Gabi Schlag und Dörte Wustrack |
    König Gunther, die schöne Kriemhild, der tapfere Siegfried, die unbezwingbare Brünhild, und der verräterische Hagen, ein fluchbeladener Schatz, unrechtmäßige Liebesbeziehungen, törichter Heldenmut, Treue, Verrat und Rache: Nicht nur die Handlung der Nibelungensage ist höchst aufregend und vielversprechend, sondern auch die Orte, an denen der mittelalterliche Dichter sie hat spielen lassen: im Odenwald und in Worms am Rhein.

    Wabernd bricht sich das Licht durch den Mischwald, dünsten die Quellen nebelige Wolken aufs wellige Moos. Kühl verschluckt der frühe Morgen alle menschlichen Laute. Friedlich, aber auch geheimnisvoll bietet er sich dar, der Odenwald. Hier zwischen Worms, Heidelberg und Darmstadt, wo sich auf fast jedem Hügel eine Burg befindet, soll es gewesen sein, das Jagdgebiet der Nibelungen, von Siegfried, Gunther und Hagen. Hier jagten sie nach Hirschen, Wildschweinen und Enten, aber auch nach Einhörnern, und vor allem nach Drachen.

    Das Nibelungenlied weiß zu berichten, dass der Recke Siegfried von Xanten den gefürchteten Lindwurm Fafner getötet und in dessen Blut gebadet haben soll, um unverwundbar zu werden. Was ihm auch fast gelungen wäre, hätte nicht während des Bades ein Lindenblatt eine Stelle seiner Schulter bedeckt. Eigentlich soll sich die Geschichte ja auf dem Drachenfels bei Königswinter zugetragen haben, aber auch die kleine Stadt Lindenfels in der Nähe von Reichelsheim im Odenwald schmückt sich sehr gerne mit der Nibelungengeschichte. Deshalb gibt es hier das einzige Drachenmuseum der Welt.

    "Wir wollen den Leuten erklären, wie der Mythos Drachen entstanden ist. Das zeigen wir anhand von vielen Beispielen von Darstellungen von Drachen. Einmal die positiven Drachen, die Drachen des Ostens, einmal die mehr Negativ-Drachen des Westens. Obwohl wir auch da zeigen können, dass der Drache nicht nur das Böse verkörpert, auch hier bei uns, sondern auch die Macht. Die alte Reichsstadt Worms hat sich mit sehr viel Drachen geschmückt, da spielt der Drachen eine positive Rolle als Machtsymbol dieser alten Reichsstadt."

    Hier gibt es alles, was mit Drachen zu tun hat, von der winzigen Drachenminiatur bis hin zum riesigen T-Rex-Schädel, Drachendarstellungen der Östlichen Kultur und die der westlichen Welt, Plüschdrachen, Drachenspiele, Drachenverkleidungen, Schwerter und Drachenkochbücher. Der ehemalige Lehrer Peter Woitge ist Leiter des Drachenmuseums, das sich auch von außen mit eindrucksvollen Skulpturen als solches zu erkennen gibt.

    "Wir stehen hier im Drachengarten, und der Drachengarten und das Museum befinden sich unterhalb der Lindenfels Burg, die etwa im 11. Jahrhundert entstanden ist, Teile sind noch zu sehen. Hier stehen wir vor einer Holzskulptur, etwas filigraner, die zeigt den Siegfried allein im Wald, so hat‘s die Künstlerin genannt. Der Siegfried steht hier und merkt nicht, dass über ihm ein Drache thront, wenn er das gewusst hätte, dann hätte er sich vielleicht auch an dieser Stelle im Odenthal als Drachentöter betätigt."

    Das Aussehen des Drachens erinnert an ein schlangenartiges Mischwesen, in dem sich Eigenschaften von Reptilien, Vögeln und Raubtieren miteinander verbinden. Als Held stellt sich ihm oft ein einfacher Mann entgegen: ein Schneider, ein Sterngucker oder ein Dieb. Entsprechend ist der Sieg nicht immer mit Waffengewalt zu gewinnen, sondern bedarf einer List. Häufig muss eine Jungfrau gerettet werden.

    Der Recke Siegfried jedoch gewann keine Jungfrau, sondern den Schatz, den Fafner, der Drache, bewachte. Doch obwohl Siegfried den Drachen bezwang, sollte der Schatz ihm kein Glück bringen.

    Der böse Hagen erstach den Helden Siegfried hinterrücks an dieser Quelle im Odenwald. Kriemhild hatte dem Mörder Hagen Siegfrieds einzige verwundbare Stelle verraten, damit dieser ihn beschütze. Beate Dillmann ist Mitarbeiterin im Geopark Bergstraße/Odenwald und veranstaltet Individualreisen zu den Orten des Nibelungenliedes:

    "Wir stehen hier am Siegfriedbrunnen in Grasellenbach, einer der vielen Siegfriedbrunnen im Odenwald. Hier soll Hagen vor 1600 Jahren den Siegfried meuchlings ermordet haben. Im Odenwald streiten sich viele darum, den Brunnen zu haben, an dem der Hagen den Siegfried meuchlings ermordet hat. Es ist klar, sie wollen alle etwas vom Kuchen abhaben, was das Nibelungenlied für den Odenwald bringt. Aber wir Odenwälder haben uns darauf geeinigt, dass in Grasselenbach der echte Siegfriedbrunnen ist."

    Der Meuchelmord an der Quelle war der Auslöser für Kriemhilds Rache, die zum verhängnisvollen Untergang der Burgunden, im zweiten Teil des Nibelungenliedes führt. Damit die Besucher auf den Spuren der Nibelungen wandern können, hat der Geo-Naturpark Bergstraße/Odenwald den über 100 Kilometer langen Nibelungensteig konzipiert.

    "Er führt über Höhenzüge des Odenwalds, wenn man ihn komplett bewandert, geht es auf 4000 Meter. Es gibt viele Tafeln unterwegs, die die Geschichte der Nibelungen immer wieder erklären. Kinder, Erwachsene können da wunderbar ihre Freude daran haben. Man kann sich das in Tagesetappen einteilen oder auch nur ein kleines Stück aussuchen, für ein paar Stunden und die besonders interessanten Stellen. "

    Einige Kilometer westlich vom Odenwald liegt Worms, wo König Gunther, seine Schwester Kriemhild und der Recke Hagen, später auch Siegfried und Brünhild am Hofe zu Worms als das Geschlecht der Burgunden residierten. Der Wormser Dom, erbaut im Jahre 1000, prägt das Stadtbild. Weltkulturerbe und jährlich von unzähligen Touristen besucht, soll sich an seinem Nordportal eine Szene des Nibelungenliedes abgespielt haben: der Streit der Königinnen Kriemhild und Brünhild um die Rangfolge. Brünhild verbietet Kriemhild, zuerst einzutreten - mit der Begründung, dass sie nur die Frau eines Dienstmannes sei.

    Nach ausgiebigen Provokationen offenbart Kriemhild in ihrer Wut das Geschehen der Hochzeitsnacht: Nicht Brünhilds Ehemann Gunter hatte sie bezwungen, sondern Kriemhilds Mann Siegfried, unter seiner Tarnkappe verborgen, hatte ihren Widerstand gebrochen. Die zu Tode gekränkte Brünhild fordert von Hagen und ihrem Ehemann die Ermordung Siegfrieds.

    Hier an der alten Stadtmauer in Worms ist der Nibelungensage ein ganzes Museum gewidmet. Im ersten Turm der Stadtmauer wird die eigentliche Sage nacherzählt, im zweiten Turm darf der Zuhörer auf stilisierten Thronen Platz nehmen und dem ursprünglichen Nibelungenlied lauschen, das am Hofe gesungen vorgetragen wurde.
    In 39 "Aventiuren" berichtet das Nibelungenlied von feinen Rittersleuten und höfischem Leben.

    Die Dichtung um den Drachentöter Siegfried ist ein herausragendes Beispiel europäischer Heldenepik, vergleichbar mit der griechischen Trojasage - und seit 2009 Unesco-Weltdokumentenerbe. Im Nibelungenmuseum ist man diesem einzigartigen Stück Literatur gerecht geworden: Museumsleiter Olaf Mückain:

    "Die Nibelungen sind ein in erster Linie literarischer Stoff, und Literaturmuseen funktionieren grundsätzlich anders als herkömmliche Kunstmuseen. Die Literatur ist ein Medium und als solche schwer aufstellbar, d.h., im Fall Nibelungen kommt hinzu, dass es keine überlieferten archäologischen Zeugnisse gibt und aus diesem Grund man lieber darauf verzichtet hat, mit Repliken zu arbeiten und sich ganz auf die Geschichte konzentrieren wollte. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Art begehbares Hörbuch mit modernen Medien angereichert, um dem Zeitgeist ein bisschen entgegenzukommen."

    Per Audioguide folgt der Besucher dem zwölf Stationen langen Pfad. Der namenlose Dichter des Nibelungenliedes erzählt seine Geschichte. Die Stationen zeigen Ausschnitte aus dem Film "Die Nibelungen" von Fritz Lang.
    Der Mythos der Nibelungen hat sie alle fasziniert: Dichter, Komponisten, Politiker. Nachdem das Nibelungenlied des unbekannten Dichters aus dem 13. Jahrhundert lange in Klöstern und Schlössern geschlummert hatte, wurde es Mitte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt und sehr bald als "Ilias des Nordens" bezeichnet.
    Das Nibelungenlied wurde zum deutschen Nationalepos. Richard Wagner nutzte es als Vorlage für die längste und pathetischste Opernkomposition der Weltliteratur: den Ring des Nibelungen.
    Fritz Lang und Thea von Harbou machten die Nibelungen zum Filmstoff.
    Und schließlich wurde die Dichtung von den Nazis als Epos vereinnahmt, das Werte wie "bedingungslose Gefolgschaft" und "unverbrüchliche Treue" propagiere.

    Dabei wird keiner dieser Werte im Nibelungenlied besonders hervorgehoben, im Gegenteil: Man könnte das Werk als Warnung vor Gewalt, Maßlosigkeit und blinder Rachsucht begreifen. Doch die Maschinerie der Nibelungen-Mythenproduktion führte häufig zu verzerrten Bildern. Deshalb war es seit der völligen Inbesitznahme der Nibelungen durch die Nationalsozialisten sehr still geworden.
    Bis sich 2002 in Worms am Rhein Dieter Wedel und Mario Adorf fragten:

    Dieter Wedel:
    "Wie sehen die Siegfrieds unserer Tage aus? Wenn Siegfried, der kommt mit seinen zwölf Recken, das ist ein bisschen ein Jesus-Zitat, und die müssen wirklich wie Skywalker mit seinem Gefolge da reinreiten und manchmal sprechen die alle im Chor."

    Die Nibelungenfestspiele waren geboren. Und rissen die Stadt Worms aus ihrem Dornröschenschlaf: Während der Festspiele, die jährlich im Juli und August vor dem Wormser Dom stattfinden, verdreifacht sich die Einwohnerzahl.

    Bis zu 160.000 Zuschauer versetzen die Stadt in den Ausnahmezustand und in allen Gaststätten werden Hagenbräu und Geschnetzeltes a la Brünhild serviert.

    Olaf Mückain:
    "Die Nibelungenfestspiele haben die Geltung von Worms und die Präsenz der Nibelungen in der Region und in Deutschland enorm vorangebracht. Die Bürger identifizieren sich mit diesem Thema und nicht zuletzt profitiert die Kultur der Stadt davon, weil es wie ein Sog ist, der vieles andere nach vorne mit sich zieht."

    Im Mythenlabor des Nibelungenmuseums können die Kinder, aber auch die Erwachsenen nach dem suchen, was die Nibelungensage – neben all dem archetypischen, was darin verhandelt wird - so unsterblich macht: dem Schatz. Von dem man nicht weiß, ob es ihn überhaupt jemals gab, und falls doch, ob er überhaupt noch da liegt, auf dem Grund des Rheins. Viele sind davon überzeugt.

    Noch immer suchen Rheingoldsucher nach dem Rheingold. Zum Beispiel hier in Gernsheim, wo Hagen laut Nibelungenlied den Schatz in den Fluss gekippt haben soll.

    "Gefunden haben wir zwar noch nix, aber der Weg ist das Ziel. Man kann seine Freizeit echt langweiliger verbringen."
    "Ja, und schließlich, irgendwo muss er ja sein, der Schatz."

    Das ist das Faszinierende am Nibelungenlied: Hinter dem Märchenschleier aus Drachen und Helden, Tarnkappen und Zauberringen soll sich ein Faktenkern befinden. Ein Mythos, den man begehen kann: nichts wie hin.