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Waguih Ghali: "Snooker in Kairo"
Die Suche nach einer ägyptischen Identität

Als eine Zeit der kulturellen und politischen Blüte werden heute in Ägypten die 1950er verklärt. Waguih Ghali zeichnet in "Snooker in Kairo" ein anderes Bild. Seine Figuren haben sich in einer apolitischen Luxus-Welt eingerichtet, in der gefolterte Dissidenten nicht vorkommen.

Von Dina Netz |
    Blick vom Dach der Mu'ayyad Moschee durch die über dem Stadttor Bab Zuweila aufragenden Minarette auf die Zitadelle mit Kairos Wahrzeichen, der Mohammed Ali Moschee.
    Blick auf Kairos Wahrzeichen, die Mohammed-Ali-Moschee (Arved Gintenreiter / dpa)
    Die 1950er-Jahre werden in vielen arabischen Ländern verklärt: als eine Zeit der intellektuellen und kulturellen Blüte, der politischen und wirtschaftlichen Bedeutsamkeit. Der Name Nasser steht in Ägypten heute nicht nur für die Unabhängigkeit, sondern auch für die lange herbeigesehnte Rückbesinnung auf die eigene Identität.
    Waguih Ghali zeichnet in "Snooker in Kairo" ein ganz anderes Bild vom Ägypten der 50er-Jahre. Seine Figuren entstammen der reichen Oberschicht, die durch und durch europäisiert ist: Man verbringt die Tage bei Polo oder Bridge im Club. Man nennt die armen Ägypter, die einem zu Hause den Tee kochen und die sich am Suez-Kanal von den Briten abknallen lassen, abschätzig "Fellachen".
    Man hat sich bequem in einer apolitischen Luxus-Welt eingerichtet, in der Dissidenten, die gefoltert und umgebracht werden, nicht vorkommen. Und man parliert auf Französisch oder auf Englisch mit Oxford-Akzent, so wie Ghalis Hauptfigur Ram und seine Freunde, die auf britische Schulen gegangen sind:
    "Die Kultiviertheit Europas hat etwas Gutes und Natürliches in uns getötet, es ein für alle Mal getötet... unwiederbringlich. Heute ist mir bewusst, dass wir beide, Font und auch ich, das Beste verloren haben, was wir je besessen haben: das Geschenk unserer Geburt gewissermaßen; etwas, das unbeschreiblich ist, aber gesetzt und geheimnisvoll und vor allem natürlich. Wir haben es unwiederbringlich verloren. Und alle, die wissen, was es ist, können es nicht besitzen... Schleichend habe ich mein natürliches Selbst verloren. Ich bin nur noch eine Figur in einem Roman oder in einem anderen Produkt der Phantasie; bin der Schauspieler in meinem eigenen Theater; bin der Zuschauer in meinem eigenen improvisierten Stück."
    Korruptes System, blasierte Oberschicht
    "Snooker in Kairo" erschien zufällig kurz vor der Arabellion 2011 in einer arabischen Neuübersetzung. Der Roman wurde während des Arabischen Frühlings zu einem Kultbuch. Und das hat sicher damit zu tun, wie aktuell die Suche nach einer ägyptischen Identität bis heute ist und wie Waguih Ghali das Ägypten unter Nasser beschreibt: als korruptes System, in dem sich die blasierte Oberschicht skrupellos auf Kosten der restlichen Bevölkerung bereichert und in Saus und Braus lebt.
    Auf Kosten einer Bevölkerung, die kaum das Nötigste zum Leben hat. Zwar wurden unter Nasser viele Besitztümer verstaatlicht, aber Ghali kostet es genussvoll aus, die Tricks zu beschreiben, mit denen die Reichen sich auch unter den neuen Bedingungen wieder bequem einrichteten. Ghali sah offenbar schon in den 1950er-Jahren ganz klar, dass sich an den Zuständen in Ägypten durch Nassers Regentschaft nichts Grundlegendes ändern würde:
    "Das Groppi's war inzwischen rappelvoll mit Leuten, alle gut gekleidet und großzügig mit ihren Bestellungen. Ich war wütend, dass die Revolution keinem dieser Leute einen ordentlichen Schlag verpasst hatte. Warum sprachen sie weiter Französisch? Sie alle jammern, jetzt nicht mehr genug Geld zu haben, führen aber den gewohnten Lebensstil weiter."
    Kürzlich ist Omar Robert Hamiltons "Stadt der Rebellion" auf Deutsch erschienen, ein Revolutions-Tagebuch des Arabischen Frühlings in Kairo. Und es ist erschreckend, wie stark sich die beiden Bücher in den Beschreibungen Ägyptens ähneln. Mit einem wesentlichen Unterschied: Bei Hamilton geht die gut ausgebildete junge Generation auf die Straße, opfert ihr Leben für den Traum von einem demokratischen Ägypten. Bei Ghali geben sich viele junge Leute gern dem mondänen Luxusleben ihrer Schicht hin. Einige wenige werden politisch aktiv.
    Ghalis Protagonist Ram steht beispielhaft für all Jene, die keine rechte Haltung finden, die einerseits ungern auf ihre Annehmlichkeiten verzichten, zugleich aber nicht die Augen vor den Zuständen in ihrem Land verschließen können.
    Die Unmoral einer ganzen Kaste
    Rams Vater hat sein Geld an der Börse verspielt, so dass Ram und seine Mutter seither von den Almosen leben müssen, die ihnen die mütterliche Familie zugesteht. Kein Problem, die Mutter stammt aus einer reichen koptischen Familie. Aber die beiden leben immer in Abhängigkeit. Und Ram, belesen, bestens ausgebildet, allerdings ohne Studienabschluss, macht keine Anstalten, einen der bürgerlichen Berufe zu ergreifen, die man ihm reihenweise andient. Nach einem Einsatz am Suez-Kanal und einem längeren Aufenthalt in Europa ist er enttäuscht von der vermeintlich neuen Zeit in Ägypten.
    Er verbringt die Tage damit, mit seinen Kumpels große Mengen Alkohol zu trinken und Geld beim Snooker zu gewinnen. Ram ist das enfant terrible seiner Familie und ein Paradebeispiel für einen, der die Dekadenz und Unmoral seiner Kaste ganz klar sieht, der aber nicht die Kraft hat, sich davon zu lösen. "La Dolce Vita" ist einfach zu komfortabel. Und was passiert, wenn man sich selbst und seine Umgebung verachtet? Man wird zynisch.
    Der einzige aufrichtige Mann in Rams Umgebung ist Font, sein brüderlicher Freund aus Kindertagen, der es, genau so klug und gebildet wie Ram, vorzieht, einen Gemüsekarren durch Kairo zu ziehen, statt Teil des Systems zu werden.
    "'Font', sagte ich ein anderes Mal, als ich ordentlich einen in der Krone hatte und guter Dinge war. 'Font', sagte ich, 'du bist so ziemlich der einzige angry young man in ganz Ägypten.' Und dann lachte ich. Ich fand mich sehr witzig.
    'Verzieh dich', war seine Antwort. 'Verzieh dich und lass dich weiter von diesen Parasiten durchfüttern.'"
    Rams blasierter Zynismus rührt wohl auch von einer enttäuschten Liebe her. Seit vielen Jahren ist er in die Jüdin Edna verliebt, was politisch nicht opportun ist, obwohl Edna mit dem Feind Israel überhaupt nichts zu tun hat – sie ist Ägypterin. Die Definition von Ägyptisch-Sein verlief offenbar schon damals über Ausgrenzung.
    Zwischen Edna und Ram steht aber nicht nur die Religion, sondern auch die Politik. Im Gegensatz zu Ram kämpft Edna für mehr Gerechtigkeit in Ägypten. Sie kämpft so ernsthaft, dass kein Platz für die Liebe bleibt. Auch dieser Topos, dass politischer Idealismus das eigentliche Leben verschlingt, taucht übrigens bei Omar Robert Hamilton in heutigen Zeiten wieder auf.
    Ironisches Parlando statt politisches Traktat
    Die Frauenfiguren kommen insgesamt bei Ghali etwas besser weg als die Männer, trotzdem sind sie alles andere als Hoffnungsträgerinnen. Die ägyptischen Frauen haben schlicht im Lande nichts zu melden und sind deshalb auch weniger anfällig für Ränke- und Machtspiele. Sie sind dazu verurteilt, auf eine gute Partie zu warten.
    Trotz Ghalis deutlicher Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen in Ägypten liest sich "Snooker in Kairo" mitnichten wie ein Traktat. Ganz im Gegenteil, sein Tonfall ist ein ironisches Parlando, in dem sich pointierte Dialoge mit präzisen Beschreibungen und originellen Betrachtungen abwechseln.
    Wohl wegen dieser Erzählhaltung und wegen des beschriebenen Milieus vergleicht der Verlag den Roman mit F. Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby". Im Klappentext wird Ram außerdem als "ägyptischer Fänger im Roggen" bezeichnet. Tommasi di Lampedusas "Leopard" fällt einem noch ein. Daran erinnert die Art, wie die Reichen auch unter der Nasser-Regierung wieder ihre Pfründe zu sichern suchen nach dem Motto: "Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, ist es nötig, dass alles sich verändert."
    Diese literarischen Bezüge haben ihre Berechtigung. Doch eigentlich ist Waguih Ghali ein literarischer Außenseiter, zumindest in der ägyptischen Literatur. Seine politische Weitsicht und Deutlichkeit, sein Humor und seine literarische Eleganz suchen bis heute Ihresgleichen. "Snooker in Kairo" ist ein politisch geradezu erschreckend aufschlussreiches und aktuelles Buch. Doch nicht nur deshalb lohnt es, den Roman neu oder wieder zu lesen, sondern auch wegen seiner literarischen und psychologischen Finesse.
    Waguih Ghali: "Snooker in Kairo" Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch. Mit einer Einführung von Diana Athill
    Verlag C.H. Beck, München 2018. 256 Seiten, 22 Euro.