Christine Heuer: Ursula von der Leyen ist nominiert für das höchste europäische Amt. Die CDU-Politikerin soll Präsidentin der Europäischen Kommission werden. Wie sie gekürt wurde, in langen Gesprächen der Regierungschefs hinter verschlossenen Türen und unter Ausschaltung der Spitzenkandidaten bei der Europawahl, das hat für viel Unmut gesorgt – am meisten wohl bei den deutschen Sozialdemokraten. Ihre Abgeordneten im Europaparlament wollen von der Leyen nicht wählen. Heute stellt sich die Kandidatin persönlich der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament vor.
Mit dabei dann die neue Abgeordnete Katarina Barley. Sie war ja bei der Wahl Spitzenkandidatin der deutschen SPD. Ich konnte um sieben Uhr, also vor einer guten Stunde mit Katarina Barley sprechen, und habe sie zuerst gefragt: Wenn Ursula von der Leyen heute in ihrer Fraktion vorspricht, was vor allem will sie, will Katarina Barley dann von ihr wissen?
Katarina Barley: Na ja. Die Spitzenkandidaten im Europawahlkampf hatten ja die Möglichkeit und auch die Pflicht, in vielen Monaten darzulegen, wie sie sich Europa vorstellen und was sie tun wollen, wenn sie Kommissionspräsidenten werden sollten. Das wissen wir von Ursula von der Leyen noch nicht, auch ich nicht, obwohl ich ziemlich lange neben ihr auf der Regierungsbank gesessen habe. Es wird darum gehen, alle möglichen Fragen zu ihren Vorstellungen, zu ihren politischen Vorstellungen für Europa zu stellen.
"Es geht ja nicht nur um die Person Ursula von der Leyen"
Heuer: Bleibt es denn beim geschlossenen Nein der deutschen Sozialdemokraten im Europaparlament zur Personalie von der Leyen?
Barley: Uns Sozialdemokraten geht es ja um mehrere Dinge. Es geht ja nicht nur um die Person Ursula von der Leyen, sondern es geht darum zum einen, dass das, was man den Bürgerinnen und Bürgern vor der Wahl versprochen hat, jetzt nicht eingehalten wird. Die Bürgerinnen und Bürger hatten die Möglichkeit, Frans Timmermans und Manfred Weber und auch andere Kandidatinnen und Kandidaten kennenzulernen, sich ein Bild zu machen und dann zu entscheiden. Das war die Idee dieses Spitzenkandidaten-Prinzips und ist es noch. Davon rückt man jetzt ab und zaubert jemand anders aus dem Hut. Das ist das eine.
Was ich noch fast schlimmer finde ist, dass es am Ende die sehr problematischen, rechtsstaatlich problematischen Staaten und Regierungschefs waren, die Frans Timmermans verhindert haben, den Sozialdemokraten. Es gab ja schon eine Mehrheit für ihn und dann waren es am Ende die Herren Orbán, Kaczynski, Salvini, die Nein gesagt haben zu ihm. Das ist etwas, was wir uns als Parlament nicht gefallen lassen dürfen, dass genau diese Menschen jetzt darüber entscheiden, wen wir als Kommissionspräsidenten wählen.
Heuer: Okay. Den Punkt haben Sie gemacht, Frau Barley. – Nun hat Ihre Fraktion, die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament, genau heute die Möglichkeit, sich ein persönliches Bild von Ursula von der Leyen zu machen. Deshalb noch mal meine Frage: Steht denn schon fest, dass es beim geschlossenen Nein der deutschen Sozialdemokraten zur Personalie von der Leyen bleibt?
Barley: Bei uns haben sich alle 16 Mitglieder sehr klar geäußert, dass sie aus grundsätzlichen Gründen diesem Personalvorschlag nicht zustimmen können. Das haben sie vorher gesagt und ich gehe auch davon aus, dass es dabei bleibt.
Heuer: Nun sagt Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Vorsitzende in Deutschland, wenn von der Leyen am Einspruch der deutschen Sozialdemokraten scheitern sollte, dann wäre das "eine maximale und massive Belastung der Regierungsarbeit und der Koalition. In Deutschland." Wollen Sie die Koalition in Berlin riskieren über diese Personalie?
Barley: Wir handeln ja da nicht unabgesprochen in Europa.
"Den Sozialdemokraten die Pistole auf die Brust gesetzt"
Heuer: Was sagen denn die anderen Sozialdemokraten oder Sozialisten in Ihrer Fraktion? Sehen die das so wie die deutschen?
Barley: Das ist sehr unterschiedlich. Aber ich wollte jetzt vor allen Dingen darauf hinaus, dass auch die drei kommissarischen SPD-Vorsitzenden in Deutschland es so sehen. Es ist auch so, wenn Sie sehr kurzfristig darüber informiert werden, dass jemand Neues aus dem Hut gezaubert wird, und dann von Ihnen erwartet wird, dass Sie zustimmen, zumal bei einer Personalie, wo man ja auch aus anderen Gründen noch sagen kann, das ist ein bisschen tricky – wir haben einen Untersuchungsausschuss laufen, der sich mit Unregelmäßigkeiten in der Finanzierung beschäftigt. Das sind ja alles Fragen, die man in der Koalition auch mal vorher klären muss.
Frau Kramp-Karrenbauer kann jetzt nicht anders. Ich habe da auch ein gewisses Verständnis für, dass sie so handeln muss. Aber klar ist. Frau von der Leyen war nie im Gespräch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Die Union hat sie aus dem Hut gezaubert, oder die europäischen Regierungschefs mit Frau Merkels Billigung am Ende, und das kann man nicht erwarten.
Heuer: Frau Barley, das haben Sie gesagt. Aber meine Frage war – und ich wiederhole das noch mal: Sind Sie bereit, am Scheitern lassen dieser Personalie die Koalition in Berlin scheitern zu lassen?
Barley: Die wird nicht daran scheitern. Wenn sie an irgendwas scheitern würde, dann daran, dass innerhalb von zwei Stunden den Sozialdemokraten die Pistole auf die Brust gesetzt wird, friss oder stirb. Das ist ja nicht eine Personalie, die wir uns ausgedacht haben. Insofern: Daran wird die nicht scheitern. Das haben auch Malu Dreyer und andere schon deutlich gemacht. Ich verstehe das, das ist eine Drohkulisse.
"Die müssen jetzt die Drohkulisse aufbauen"
Heuer: Aus der CDU klingt das ein bisschen anders.
Barley: Ja, natürlich! Das müssen die auch. Die müssen jetzt die Drohkulisse aufbauen. Die wollen, dass sie möglichst viele Stimmen für Frau von der Leyen bekommen. Das ist normal. Aber daran wird die Koalition nicht scheitern.
Heuer: Sollten die deutschen Sozialdemokraten sich durchsetzen und Ursula von der Leyen wird vielleicht am Ende tatsächlich nicht Präsidentin der Europäischen Kommission, dann hätten wir eine Institutionenkrise in Europa, Frau Barley. Ist das ein Risiko, das Sie ernsthaft eingehen wollen, um noch mal diesen Punkt zu mache, wir waren dagegen und wir wollten eigentlich jemand anderen?
Barley: Ich finde immer schön, wie da der schwarze Peter hin- und hergeschoben wird. Das Europäische Parlament hat vor dieser Wahl ganz klargemacht, allen ganz klargemacht, es wird am Ende vom Europäischen Parlament nur ein Spitzenkandidat gewählt. Punkt! Das war allen Beteiligten klar. Wir hatten zwischendurch einen Spitzenkandidaten, der die erforderliche Mehrheit im Rat hatte, nämlich Frans Timmermans. Verhindert haben das Polen, Ungarn, Italien. Auf die haben die anderen Regierungschefs letztendlich Rücksicht genommen.
Und jetzt soll es das Parlament sein, was eine Institutionenkrise auslöst? – Wenn es eine Institutionenkrise geben sollte, dann ist das dadurch entstanden, dass der Rat sich über die ganz klare, vorher ausdrücklich deutlich gemachte Vorgabe des Europäischen Parlaments hinweggesetzt hat. Die Regeln sind: Der Rat schlägt vor und das Parlament wählt. So ist es richtig.
Heuer: Aber ein bisschen hat das Parlament das ja auch verschlafen. Wenn Sie so treu dem Spitzenkandidaten-Prinzip folgen wollen, warum hat denn das Europäische Parlament mit den Sozialdemokraten nicht einfach den Wahlsieger gekürt und gesagt, den wollen wir haben: Manfred Weber von der CSU. Daran wäre der Rat nicht vorbei gekommen, Frau Barley. Das haben Sie nicht getan! Das ist an den Sozialdemokraten gescheitert unter anderem.
Barley: Entschuldigung! Wie gesagt, dieses schwarze Peter Spiel ist wirklich – Der Rat schlägt vor und das Parlament entscheidet, und genauso wenig wie wir uns vorschreiben lassen, wen wir wählen sollen, lässt sich auch der Rat vorschreiben, wen er vorschlägt. Wir sehen das doch auch in nationalen Wahlen. In Bremen jetzt zum Beispiel stellt den Regierungschef nicht die stärkste Partei, und das gibt es ganz, ganz oft. Es geht einfach darum: Wer hat am Ende …
"Am Ende war es Timmermans, der eine Mehrheit im Rat hatte"
Heuer: Aber das Parlament hat sich ja auch nicht auf Timmermans geeinigt. Es ist doch ein Fehler der Abgeordneten, dass sie nicht im Vorfeld klar gesagt haben, wer ihr Kandidat ist. Das hat ja bei Juncker damals auch funktioniert. Daran hat der Rat sich dann halten müssen, weil das Votum zu stark war, um es zu übergehen.
Barley: Im Vorfeld hat Macron schon klargemacht, dass für ihn die Personalie Weber mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Wir haben auf der anderen Seite gesehen, dass Frans Timmermans eine große, große Zahl von Abgeordneten hinter sich versammeln kann. Und die Realität spricht doch auch dafür. Am Ende war es Frans Timmermans, der eine Mehrheit im Rat hatte. Macron war dafür, Merkel war dafür, alle waren dafür – bis auf genau die Regierungschefs, die ich schon genannt habe: Orbán, Salvini und so weiter.
Heuer: Sie sehen da kein Versäumnis des Parlaments?
Barley: Nein! – Nein! – Ich sehe ein Versäumnis darin, dass man den Spitzenkandidaten, der eine Mehrheit hatte, am Ende nicht gewählt hat, weil man eingeknickt ist vor den Autokraten. Und warum? Das ist jetzt nämlich auch noch interessant. Die haben ja gar keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Frans Timmermans nicht wollten, weil er derjenige ist, der für Rechtsstaatlichkeit zuständig war in der letzten Kommission. Er war derjenige, der die Artikel-sieben-Verfahren eingeleitet hat. Da haben diese Regierungschefs aus Polen und Ungarn und Italien gesagt, das ist uns zu viel Kontrolle, das ist uns zu viel Rechtsstaatlichkeit, wir wollen nicht so stark unter Druck geraten, wenn wir rechtsstaatliche Normen nicht einhalten.
Das war der Grund, warum sie Frans Timmermans abgelehnt haben. Und verstehen Sie bitte, dass wir so eine Logik nicht akzeptieren können. Orbán war derjenige, der das gefeiert hat, dass jetzt Ursula von der Leyen nominiert worden ist, und auch der polnische Regierungschef.
Heuer: Dann gucken wir noch mal schnell nach vorne, Frau Barley. Die Grünen sind ein bisschen pragmatischer als die deutschen Sozialdemokraten. Die sagen, wir wollen mal mit von der Leyen sprechen und wir stellen dann mal Bedingungen an sie und formulieren unsere Wünsche für den Fall, dass sie Kommissionspräsidentin wird. Ihre Entscheidung scheint, ja schon vor diesem Gespräch festzustehen. Oder gäbe es eine Bedingung, wo Sie sagen würden, wenn Ursula von der Leyen uns das verspricht, dann denken wir doch noch mal über ihre Wahl möglicherweise auch positiv nach?
Barley: Es gibt diese demokratischen Fragen, genau die Fragen, um die es ja jetzt im Grunde auch geht: Wie kann man das Spitzenkandidaten-Prinzip fest verankern? Wie kann das Parlament ein Initiativrecht bekommen, selbst auch Gesetze in Gang setzen? Nur das Problem an diesen Fragen ist: Das kann Frau von der Leyen gar nicht versprechen, weil das nicht eine Aufgabe der Kommission ist, sondern des Rates.
Heuer: Aber sie könnte ja sagen, sie setzt sich dafür ein.
Barley: Toll!
Heuer: Würde Ihnen das nicht reichen?
Barley: Nein, das würde uns nicht reichen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.