Zuletzt hatte es ein informelles Abkommen zwischen christdemokratischen und der sozialdemokratischen Fraktion gegeben, wonach man sich gegenseitig unterstütze - das gilt nicht mehr. Insgesamt bewerben sich sieben Abgeordnete. Als leichter Favorit gilt der Italiener Antonio Tajani. Er ist bereits Vizepräsident des Parlaments und war früher EU-Industriekommissar.
"Das ist insofern gut, weil es einen Wettbewerb um Inhalte gibt", sagte Lambsdorff, der selbst Vize-Präsident des Europäischen Parlaments ist. Es gebe neben dem Brexit und der Zukunft der Eurozone viele weitere Themen inhaltliche Punkte.
Lambsdorff hob den Dialog zwischen den Fraktionen hervor. 751 Abgeordnete habe das Parlament, selbst die größte Fraktion EVP brauche mit ihren 217 Abgeordneten daher Allianzen mit anderen Fraktionen.
Harter Brexit? "Nicht überraschend"
Dass Großbritannien derweil einen "harten Brexit" anstrebt, findet Lambsdorff "nicht überraschend". Der weiche Ausstieg sei nie eine reale Option gewesen. "Der harte Brexit ist einzige Weg. Es is unmöglich, irgendetwas anderes zu diskutieren." Wenn Großbritannien die Freizügigkeit in der EU in Frage stelle, könne es keine andere Lösung geben. Lambsdorff sagte mit Blick auf eine mögliche britisch-amerikanische Allianz in Wirtschaftsfragen: "Die EU wird den Brexit überstehen, und wir werden mit den Amerikanern gut zusammenarbeiten. Das wird auch Donald Trump irgendwann verstehen."
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Das hat es so in der jüngeren Geschichte noch nicht gegeben. Wenn das Europäische Parlament heute seinen nächsten Präsidenten wählt, den Nachfolger des Sozialdemokraten Martin Schulz, dann ist gar nicht schon vorher klar, wer es wird. Sieben Kandidaten treten an, rein rechnerisch hat der Kandidat der konservativen EVP-Fraktion die besten Chancen, der Italiener Antonio Tajani. Aber kampflos wird ihm der Mann der Sozialisten, Gianni Pittella, das Feld nicht überlassen. Zum ersten Mal seit langem könnte es auf eine Stichwahl rauslaufen am Abend und über so viel Spannung im Europäischen Parlament kann ich jetzt mit dem Vizepräsidenten sprechen, mit dem FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff. Schönen guten Morgen!
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Frau Schulz.
Schulz: An der Spitze des Europäischen Parlaments wird künftig niemand stehen, dessen Name hinter verschlossenen Türen ausgekungelt wurde. Wagt das Europäische Parlament mehr Demokratie?
"Ein offenes Rennen"
Graf Lambsdorff: Wenn Sie so wollen ja. Es ist ein völlig offenes Rennen, eine neue Situation. Es gab ja am Anfang der Legislaturperiode ein informelles Abkommen zwischen den beiden großen Fraktionen Christdemokraten und Sozialdemokraten, dass man sich gegenseitig unterstützt bei den beiden Hälften des Parlaments, jeweils den Präsidenten zu stellen. Das Abkommen ist kollabiert, die Sozialdemokraten fühlen sich nicht länger daran gebunden und in dem Moment wurde hier das offene Rennen eröffnet.
Schulz: Und das ist gut?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, es ist insofern gut, als dass es tatsächlich einen Wettbewerb auch um Inhalte gibt. Wir haben gestern Gespräche geführt als Liberale jetzt mal mit den Christdemokraten. Da geht es darum zum Beispiel, was will man inhaltlich gemeinsam erreichen, wenn man den Kandidaten der Christdemokraten unterstützt. Da kann man reden über Vorbereitungsgruppe für einen Konvent zur Reform der Europäischen Union. Dass die Reform notwendig ist, bestreitet niemand, aber gerade die Mitgliedsstaaten sind beim Konvent so skeptisch. Wie geht es weiter mit der Eurozone? Wie wird das Europäische Parlament in den Brexit eingebunden? Es gibt eine ganze Reihe auch inhaltlicher Punkte, die jetzt hier neben der Frage diskutiert werden, aber natürlich im Zusammenhang damit, wer denn der nächste Präsident des Hauses werden soll.
Schulz: Jetzt hatten Sie diesen Pakt gerade zitiert zwischen Konservativen und Sozialisten. Da hatten die Liberalen ja auch mitgemacht. Wenn Sie jetzt sagen, das ist eigentlich gar nicht schlecht, dass dieser Pakt gescheitert ist, warum haben Sie dann da erst mit unterschrieben oder Ihr Vorsitzender Verhofstadt?
Graf Lambsdorff: Guy Verhofstadt ist ein paar Wochen später diesem Pakt beigetreten, aus einem Grund, und zwar ging es darum, die damals ja im Parlament neu vertretene Fraktion oder sich bildende Fraktion der Rechtsradikalen fernzuhalten von repräsentativen Positionen im Parlament und auch Nigel Farage, den Anführer der UKIP. Es war eine Vereinbarung zwischen verschiedenen Fraktionen, sich darauf zu einigen zu sagen, Leute, die Europa aufs Blut bekämpfen, die sollten keine Positionen im Europäischen Parlament bekommen, bei denen sie quasi gegen ihre eigene Überzeugung ja proeuropäisch auftreten müssten. Insofern gab es da diesen Beitritt. Aber auch das ist inzwischen Geschichte, Wasser unter der Brücke. Dieser Pakt, den gibt es nicht mehr.
"Allianzbildung ist absolut notwendig"
Schulz: Jetzt wird es möglicherweise ja so sein, wenn wir rein auf die Mehrheitsverhältnisse schauen, dann hat ja Antonio Tajani die besten Chancen. Das ist der Kandidat der Konservativen. Das ist gleichzeitig der Pressesprecher von Silvio Berlusconi. Und es könnte sein, dass er auch Stimmen bekommt aus diesen Reihen, die Sie gerade zitieren, von den Euroskeptikern. Ist das jetzt die Trumpisierung Europas?
Graf Lambsdorff: Nein, das ist es nicht, und Antonio Tajani war mal der Pressesprecher von Silvio Berlusconi. Er war zwischendurch natürlich schon lange Jahre europäischer Kommissar für die Industriepolitik. Es ist ein erfahrener Mann. Gianni Pittella, der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, führt ja auch einen sehr engagierten Wahlkampf. Alle Fraktionen haben Kandidaten. Wir als Liberale haben mit Guy Verhofstadt den ehemaligen Premierminister Belgiens im Rennen. Auch die Grünen haben jemanden aufgestellt, die Konservativen. Das Interessante ist ja folgendes: Wir haben 751 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Aber selbst die größte Fraktion, die Christdemokraten haben 217. Das heißt, die Allianzbildung, die jetzt gerade auch läuft, und die Gespräche, die jetzt gerade laufen, sind absolut notwendig. Man muss über Fraktionsgrenzen hier miteinander reden, wie man sich inhaltlich sortiert und was dann daraus folgt für die Verteilung der Positionen.
"Soft Brexit war immer eine Schimäre"
Schulz: Alexander Graf Lambsdorff, wir müssen heute Morgen noch auf ein anderes Thema schauen. In London zeichnet sich jetzt ab, dass Premierministerin May ihr Land aus dem Binnenmarkt herausführen will, dass sie den harten Brexit will. Vor ihrer Grundsatzrede, die sie heute ja halten will, da zitiert heute Morgen schon der "Daily Telegraph" aus ihrem Redemanuskript. Wie schätzen Sie diese Meldungen ein?
Graf Lambsdorff: Überhaupt nicht überraschend. Der sogenannte "Soft Brexit", der weiche Ausstieg nach dem Motto, Großbritannien verlässt zwar die Europäische Union, bleibt aber im Binnenmarkt, erlangt gleichzeitig die Freiheit von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes und kann sich verabschieden aus der Personenfreizügigkeit, das war immer eine Schimäre. Es hat nie eine reale Option für diesen sogenannten "Soft Brexit" gegeben. Das heißt das, was heute als harter Brexit bezeichnet wird, ist der einzige gangbare Weg, nämlich zu sagen, wenn wir als Großbritannien die Einschränkungen bei der Personenfreizügigkeit, einer der vier Freiheiten des europäischen Binnenmarktes, wenn wir mit denen wirklich ernst machen wollen, dann ist es vollkommen unmöglich, irgendetwas anderes zu diskutieren als den harten Brexit. Insofern geht es mir jetzt gar nicht so sehr um das Ob des harten Brexit, sondern das Wie. Welche Verhandlungslinie gibt Frau May vor? Welche anderen Fragen will sie erörtern? Wo setzt sie die Prioritäten für die kommenden Verhandlungen? Wir hören ja aus Großbritannien mal diese Äußerung, mal jene. Aber ein zusammenhängendes Konzept haben wir bisher nicht gesehen. Deswegen: Ich freue mich auf die Rede. Die Rede muss jetzt dieses Konzept hoffentlich liefern. Und dann kann man auch endlich in ernsthafte Gespräche eintreten.
"Die Europäische Union wird den Brexit überstehen"
Schulz: Und damit, dass es zuletzt Freundlichkeiten aus Washington gegeben hat, von Donald Trump, dem President-elect der Vereinigten Staaten, der die Spalter hier in Europa ja ganz entschieden unterstützt, den Zusammenhang sehen Sie nicht?
Graf Lambsdorff: Nein, ich sehe da keinen Zusammenhang. Die Rede von Frau May, da wurde lange dran geschrieben, bevor bekannt wurde, dass President-elect Trump in der "Times" und in der "Bild" dieses Interview gegeben hat. Ich würde da keinen zu engen Zusammenhang sehen. Ich glaube, dass Donald Trump in Sachen Europäischer Union auf die falschen Leute hört. Der eben schon erwähnte Nigel Farage war ja bei ihm im Trump Tower. Ich glaube, wer den als Kompass nimmt für seine eigene Europapolitik, der wird sich notwendigerweise da noch mal überlegen müssen, ob das wirklich der beste Ratgeber ist. Die Europäische Union wird den Brexit überstehen und wir werden mit den Amerikanern gut zusammenarbeiten. Das wird auch Donald Trump irgendwann verstehen.
Schulz: Und das sagen Sie auch nicht, obwohl Donald Trump gestern seine Einschätzung abgegeben hat, Europa, die Europäische Union, das sei ohnehin für Deutschland nur ein Mittel zum Zweck?
Graf Lambsdorff: Nein. Das ist eine Formulierung, die wir so schon auch von den Euroskeptikern kennen, dass die Europäische Union ein Hebel sei, um Deutschlands Macht in Europa zu vergrößern. Wenn man sich die Geschichte der Europäischen Union und ihre ganze Entwicklung anschaut, dann sieht man doch sofort, dass das überhaupt nicht der Fall ist. Es geht im Wesentlichen im Kern noch immer um die Friedenssicherung auf unserem Kontinent durch den friedlichen Interessenausgleich unserer Mitgliedsstaaten, durch eine Demokratisierung über das Europäische Parlament und eine gemeinsame Rechtsordnung, die die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof garantieren. Diese Formulierung dort ist aus der populistischen Mottenkiste genommen. Das liegt einfach daran, dass Trump zu lange mit Nigel Farage Kaffee getrunken hat.
Schulz: Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, heute hier bei uns in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Danke Ihnen ganz herzlich.
Graf Lambsdorff: Danke Ihnen, Frau Schulz.
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