Der Wahlausgang war denkbar knapp: Der unterlegene Bolsonaro erhielt nach Angaben des Wahlgerichts 49,1 Prozent der Stimmen. Unter den Anhänger Lulas in Städten überall im Land brach hingegen Jubel aus. Der neugewählte Präsident twitterte ein Bild der brasilianischen Flagge und schrieb dazu ein einziges Wort: „Demokratie“.
In Sao Paolo richtete Lula persönlich das Wort an die jubelnde Menschenmenge. Brasilien brauche nun Frieden und Einheit. Niemand wolle in einem gespaltenen Land leben, sagte der 77-Jährige in seiner Siegesansprache. Er ging unter anderem auf die Hungerkrise in Brasilien ein und versprach, gegen die Abholzung im Amazonasgebiet vorzugehen. Brasilien ist das fünftgrößte Land der Welt und zu einem großen Teil von Regenwald bedeckt, der als grüne Lunge der Erde gilt. Unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro nahm die Zerstörung des Regenwalds im Amazonas-Gebiet drastisch zu, was ihm angesichts des fortschreitenden Klimawandels international Kritik einbrachte.
Der Ex-Präsident und linke Hoffnungsträger Luiz Inácio „Lula“ da Silva hatte schon die erste Runde der Präsidentschaftswahlen gewonnen, allerdings knapper als in Umfragen prognostiziert. Brasilien ist gespalten, der Wahlkampf hatte das Land weiter polarisiert. In der Stichwahl waren mehr als 156 Millionen Wahlberechtigte erneut zur Abstimmung aufgerufen. In Brasilien herrscht Wahlpflicht – dennoch blieben bei der ersten Runde 32 Millionen Stimmberechtigte den Urnen fern.
Wird Bolsonaro das Wahlergebnis anerkennen?
Gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl fanden in der viertgrößten Demokratie der Welt Parlamentswahlen statt. Bolsonaros aktuelle Partei Partido Liberal gewann 101 Sitze und ist damit nun die größte Fraktion im Abgeordnetenhaus. Seine Partei und Verbündete stellen ebenfalls die meisten Senatoren und punkteten auch bei den Gouverneurswahlen. Der Konservatismus ist stark in Brasilien und es geht schon lange die Sorge um, dass Bolsonaro seinem Idol Donald Trump folgend das Ergebnis der Stichwahl im Falle seiner Niederlage nicht anerkennen könnte. Seit Wochen äußert er Zweifel am elektronischen Wahlsystem in Brasilien.
Wofür steht Lula?
Luiz Inácio "Lula" da Silva war bereits zwei Amtszeiten lang Präsident von Brasilien, von 2003 bis 2011. Der 76-Jährige stammt aus der Arbeiterbewegung, war einst Präsident der Metallarbeiter-Gewerkschaft und führte den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Militärdiktatur an. Anfang der 1980er-Jahre war er Mitbegründer der Arbeiterpartei PT. Seine Wahl zum Präsidenten 2003 war für viele Menschen mit der Hoffnung auf einen Wandel und die Verbesserung der Lebensverhältnisse besonders verbunden, vor allem in der Unter- und Mittelschicht. Tatsächlich gelang es ihm, die Wirtschaft zu stabilisieren und den Hunger in Brasilien drastisch zu reduzieren, Millionen schafften durch staatliche Sozialprogramme den Ausstieg aus der Armut.
Der Fortschritt konnte damals auch dank boomender Wirtschaft und hoher Preise für exportierte Rohstoffe und andere Produkte erzielt werden. Heute dürfte es ungleich schwerer werden, Millionen aus der Armut und in Bildung zu bringen. Dennoch ist Lula auch jetzt wieder Hoffnungsträger für viele, insbesondere für die armen Bevölkerungsschichten. Im Weg steht im allerdings, dass an seiner Arbeiterpartei noch immer das Image der Korruption haftet, weil sie während Lulas Amtszeit Abgeordnete anderer Parteien bestach, damit diese für bestimmte Projekte stimmten.
Lula selbst wurde ebenfalls wegen Korruption verurteilt und durfte deshalb nicht als Kandidat an der Präsidentschaftswahl 2018 teilnehmen. Im November 2019 wurde er nach 580 Tagen Haft aus dem Gefängnis entlassen. Im März 2021 hob der Oberste Gerichtshof die Urteile gegen Lula schließlich auf, mit der Begründung, dass es letzten Endes keine stichhaltigen Beweise gegen ihn gab. Lula bezeichnet die Strafverfolgung gegen ihn bis heute als einen politischen Prozess.
Wohin wird Lula Brasilien steuern?
Lula präsentierte sich im Wahlkampf als Kandidat der nationalen Versöhnung und verfolgt eine sozialpolitische Agenda. Sein Wahlprogramm umfasst erneut den Kampf gegen Erwerbslosigkeit, Armut und soziale Ungleichheit. Zudem hat er sich gegen die Zerstörung des Regenwalds und die Ausbeutung der Gebiete der indigenen Gemeinschaften ausgesprochen. Seine frühere Umweltministerin Marina Silva hat ihre Unterstützung für Lula verkündet und einen 26-Punkte-Plan vorgelegt, den der 76-Jährige nach dem Wahlsieg umsetzen möchte. Dazu sollen eine ambitionierte Zielsetzung zur Reduzierung von Treibhausgasen sowie die Einrichtung indigener und ökologischer Schutzzonen gehören. Für Lula ist Silvas Unterstützung auch deshalb wichtig, weil sie einer evangelikalen Kirche angehört - ein Umfeld, das bislang eher Bolsonaro unterstützt.
Lulas größte Unterstützerbasis befindet sich im armen Nordosten des Landes und unter den Menschen mit geringen und mittleren Einkommen. Er konnte aber seine Zustimmung im Zentrumslager ausbauen und hat in der Vergangenheit schon bewiesen, dass er auch mit politischen Gegnern Allianzen schmieden kann. Als Vizepräsidentschaftskandidaten hat er Geraldo Alckmin ausgewählt, Mitgründer der wirtschaftsliberalen sozialdemokratischen Partei PSDB und selbst ehemaliger Präsidentschaftskandidat. Derartige Allianzen bedeuten allerdings auch immer die Notwenigkeit vieler Kompromisse.
Wofür steht Bolsonaro?
Der Ex-Militär und langjährige Abgeordnete unterschiedlicher Parteien Jair Bolsonaro wurde 2018 ins Präsidentenamt gewählt, mit Unterstützung der streng konservativen Anhänger der evangelikalen Pfingstkirchen. Seine Positionen sind rechtsradikal: Immer wieder hat er sich verächtlich über die Demokratie und ihre Institutionen geäußert und die brasilianische Militärdiktatur (1964 bis 1984) gelobt, fiel durch frauenfeindliche, homophobe und rassistischen Aussagen auf.
Das Coronavirus tat der 67-Jährige lange als "kleine Grippe" ab, was zusammen mit einem schlechten Management der Pandemie dazu geführt hat, dass Brasilien nach den USA die meisten Corona-Toten zu beklagen hat: 700.000 Menschen starben seit Beginn der Pandemie an dem Virus. Zwar wächst Brasiliens Wirtschaft und auch die Nahrungsmittelproduktion lief trotz Krise weiter. Brasilien ist einer der größten Exporteure von Fleisch, Soja und Mais. Bei der Bevölkerung kommt davon allerdings wenig an: Der Hunger hat im Land wieder stark zugenommen, 33 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer haben einer nationalen Studie zufolge nicht genügend zu essen, viele leben von der Hand in den Mund. Sozialprogramme und Mittel für Kultur und Bildung hat Bolsonaro gekürzt.
Eingelöst hat Bolsonaro sein Versprechen, das Waffenrecht zu liberalisieren: Alle Brasilianer, die älter als 25 Jahre sind, können unter bestimmten Voraussetzungen bis zu vier Schusswaffen erwerben und sie zu Hause oder am Arbeitsplatz aufbewahren. Politikern, Landwirten, Lastwagenfahrern, Jägern und Sportschützen ist es erlaubt, automatische Gewehre in der Öffentlichkeit mit sich zu führen. Auch den Import und Vertrieb von Waffen in Brasilien hat Bolsonaro erleichtert, die zulässigen Verkaufsmengen von Munition erhöht. Der Organisation Brasilianisches Forum für öffentliche Sicherheit zufolge hat sich die Zahl der Waffenbesitzer in Brasilien unter Bolsonaro nahezu versechsfacht.
Die Weltgemeinschaft blickt vor allem wegen des Raubbaus an der Natur auf Brasilien: Die Abholzung in der Amazonas-Region hat unter Bolsonaro Rekordwerte erreicht. Er sieht das Amazonasgebiet vor allem als wirtschaftliche Ressource, demontierte Behörden und schwächte Gesetze, die den größten Regenwald der Erde schützen sollten. Frei gewordenen Posten besetzte er mit evangelikalen Pastoren oder fachfremden Militärs. Die organisierte Kriminalität profitiert: Holzschmuggel, illegaler Goldbergbau, Drogenhandel machen sich breit, während die indigene Bevölkerung zusehen muss, wie ihre Gebiete für die wirtschaftliche Ausbeutung freigegeben werden.
Wie könnte Bolsonaro sich jetzt verhalten?
Nach dem Wahlsieg Lulas steht ein Szenario wie in den USA im Raum, wo Bolsonaros Vorbild Donald Trump den Sieg Joe Bidens bei der Präsidentschaftswahl 2020 nicht akzeptierte und noch monatelang von Betrug sprach. Auch Bolsonaros Attacken auf das brasilianische Wahlsystem und auf Institutionen wie den Obersten Gerichtshof, der die Urteile gegen Lula aufgehoben hatte, zeigen, wie es um sein Demokratieverständnis steht und nähren Befürchtungen, er könnte das Wahlergebnis nicht anerkennen und sogar einen Putsch erwägen. Vom Ausgang der ersten Wahlrunde sah sich Bolsonaro allerdings bestätigt. Er hatte immer behauptet, dass die Wahlumfragen nichts taugten oder gefälscht seien: „Wir haben die Lüge besiegt“, erklärte Bolsonaro.
In von Agrarindustrie geprägten Gebieten und bei den Evangelikalen hat Bolsonaro nach wie vor großen Rückhalt. Dort gewann er auch die meisten Stimmen bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Direkt im Anschluss zog seine Regierung zwar die Auszahlung von Sozialleistungen für Familien vor, linke Parteien werteten das aber eher als Versuch des „Stimmenkaufs“ vor der Stichwahl denn als sozialpolitische Überzeugung. In seinen Äußerungen über den linken Herausforderer Lula versuchte Bolsonaro, mit Verweisen auf Venezuela und das dortige sozialistische Regime ein Schreckgespenst des Niedergangs heraufzubeschwören.
Quellen: Anne Herrberg, Burkhard Birke, Ivo Marusczyk, Nina Voigt