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Wahl in Großbritannien
Alles ist möglich

Großbritannien steuert auf eine völlig unvorhersehbare Parlamentswahl am 7. Mai zu. Wenn keine stabile Mehrheit der Konservativen oder der Labour-Partei zustande kommt, drohen Destabilisierung, Legitimitäts- und Verfassungskrise. Grund dafür sei unter anderem das ungerechte, veraltete Wahlsystem.

Von Jochen Spengler | 11.03.2015
    David Cameron redet am 7. März im Norden Londons auf einer Wahlkampfveranstaltung zu den Parlamentswahlen am 7. Mai. Im Hintergrund viele Wahlplakate.
    Bleibt David Cameron im Amt des Premierministers? Genauso ungewiss sind die Prognosen zu den Mehrheitsverhältnissen im Unterhaus. (dpa / picture alliance / Facundo Arrizabalaga)
    Ja, es sei vertrackt, gibt einer der einflussreichsten Verfassungsexperten des Landes zu. Aber Professor Vernon Bogdanor vom King's College ist Brite, als solcher Pragmatiker und befürchtet daher nicht gleich den Untergang des United Kingdom: "Was auch immer geschieht, ist es doch sinnvoll daran zu erinnern, dass wir weniger instabil sind als Länder auf dem Kontinent, mit Ausnahme von Skandinavien und Deutschland. Wir haben keine extreme linke Partei wie Syriza oder Podemos, keine extrem rechte islamfeindliche Partei wie den Front National oder die Schwedischen Demokraten, und es gibt auch keine große wirtschaftliche Instabilität."
    Diese Relativierung vorausgeschickt, macht Professor Bogdanor, der einst in Oxford den heutigen Premier David Cameron unterrichtete, dann aber doch auf die Besonderheit der politischen Lage in Großbritannien aufmerksam: In einem Zeitalter, wo englische oder schottische Identität mehr zähle als Ideologie, liefen die Wähler dem politischen Establishment davon und sorgten so für das Ende des Zweiparteiensystems: "Es ist das erste Mal in unserer Geschichte und ohne Beispiel, dass wir in England fünf Parteien haben, die mindestens fünf Prozent der Wählerstimmen bekommen: Konservative, Labour, Liberaldemokraten, Ukip und die Grünen. Und in Schottland sind es sogar sechs Parteien und in Wales ebenso."
    Das Ende des Zweiparteiensystems?
    Die neue Unübersichtlichkeit hat zur Folge, dass keine der beiden großen Parteien eine absolute Mehrheit erwartet, und dass der Wahlausgang selbst kaum zu prognostizieren ist. So erzählt der Professor von einem Treffen mit vier Politikwissenschaftlern, die aufgrund ihrer mathematischen Modelle und wissenschaftlichen Statistiken zu völlig unterschiedlichen Vorhersagen kamen: "Zwei sagten, Labour werde die Mehrheit der Sitze erobern, zwei sahen die Konservativen vorn, und der Vorsitzende fasste dann sehr umsichtig zusammen, dass er voraussage, dass dies eine Wahl sei, die unmöglich vorauszusagen sei, er sich dieser Voraussage aber nicht völlig sicher sei."
    Weil ihnen die rechtspopulistische Ukip Wählerstimmen abjagt, dürften David Camerons Tories die absolute Mehrheit verfehlen. Da aber zugleich die bislang mitregierenden Liberalen erheblich verlieren werden, wird es vermutlich nicht einmal zur Mehrheit für eine Koalition langen - weder für eine schwarz-gelbe noch für eine rot-gelbe. Wahrscheinlichstes Ergebnis: eine Minderheitsregierung. Entweder der Konservativen, oder aber von Labour.
    Für eine absolute Mehrheit der Sozialdemokraten dürfte es ebenfalls nicht reichen. Denn Parteichef Ed Miliband muss fürchten, dass die bisherige schottische Labour-Hochburg geschliffen wird und er mehrere Dutzend Sitze an die Schottische Nationalpartei verliert. Die SNP könnte in Westminster drittstärkste Partei werden: "Every vote cast for another party including the SNP makes the prospect for a Tory government more likely."
    Eindringlich warnt Miliband, dass jede Stimme für die SNP eine Tory-Regierung wahrscheinlicher mache. Er übergeht, dass auch eine andere Option denkbar ist: eine Labour-Minderheitsregierung - geduldet von den schottischen SNP-Separatisten. Für Noch-Premier David Cameron eine nahezu diabolische Perspektive. "Ed Miliband schließt kein Abkommen oder die Unterstützung durch die SNP aus. Das sollte er tun, wenn er sich um dieses Land sorgt. Man kann doch nicht die Leute, die unser Land auseinander brechen wollen, an die Regierung lassen."
    Wahlsystem offenbart Unterschiede zwischen England und Schottland
    So groß ist die Unruhe im englischen konservativen Lager, dass Ex-Bildungsminister Lord Baker sogar das eigentlich Undenkbare ins Spiel bringt: eine große Koalition: "Das passiert doch in anderen Staaten. Weil Angela Merkel, als die Liberalen dahin schwanden, keine Mehrheit hatte, hat sie eine Allianz aus Sozialdemokraten und Konservativen gebildet. Und das könnte hier der Weg sein."
    Doch den will vorerst niemand außer dem Lord beschreiten. Da erscheint noch eher denkbar, dass in einer Verfassungskonvention das ungerechte, veraltete Wahlsystem reformiert wird. Professor Bogdanor hofft auf Veränderung Richtung Verhältniswahl; nicht nur um den Wählerwillen fairer abzubilden, sondern auch, um das Königreich zusammenzuhalten: "Wenn wir eine Labour-Minderheitsregierung mit SNP-Duldung bekommen, so hat die mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Mehrheit in England, und umgekehrt wird eine konservative Regierung keine Mehrheit in Schottland haben. Das liegt an dem Mehrheitswahlrecht. Die Tories stellen jetzt einen von 59 schottischen Abgeordneten, aber sie haben 17 Prozent der Stimmen bekommen. Das Wahlsystem überspitzt auf diese Weise die Unterschiede zwischen England und Schottland und verstärkt so den Druck für eine Trennung."