Für beide große Parteien werde der Ausgang der Unterhaus-Wahlen bitter, erwartet Anthony Glees, der an der Universität Buckingham Politikwissenschaft lehrt. Der eigentliche Gewinner sei Schottland: "Wenn David Cameron morgen wieder in Downing Street sitzt, dann ist er verpflichtet, ein EU-Referendum abzuhalten, und dann hauen die Schotten ab. Jetzt beißt ihn die EU-Frage in beide Beine", sagte Glees im DLF.
Doch auch wenn Camerons Herausforderer Ed Miliband Regierungschef werde, stünden die Zeichen auf einer Unabhängigkeits Schottland. Der Labour-Chef könne den schottischen Linksnationalisten im Falle einer Zusammenarbeit kaum eine größere Unabhängigkeit verwehren. Beide Parteien seien linksgerichtet, was eine Zusammenarbeit nicht unwahrscheinlich mache.
Grundsätzlich offenbare sich in Großbritannien nun, dass sich in den vergangenen Jahren ein Mehrparteiensystem herausgebildet habe, doch noch immer ein Mehrheitswahlrecht bestehe, so Glees.
Jasper Barenberg: Die Unterhauswahlen heute in Großbritannien - ein wichtiger Tag auch aus europäischer Sicht, findet Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments.
O-Ton Martin Schulz: „Wenn David Cameron diese Wahl gewinnen sollte, wird er sein Versprechen eines Referendums halten müssen. Das wird seine eigene Partei von ihm verlangen. Das bringt möglicherweise Großbritannien und die EU in eine sehr, sehr schwierige Situation. Er hat sich damit eine Kampfzone eingehandelt, in der er nicht immer selbst Herr des Verfahrens ist, und das ist, glaube ich, für einen Premierminister eines so bedeutenden Landes wie Großbritannien schwierig.
Barenberg: Ein totes Rennen nennen Beobachter die Ausgangslage am Wahltag in Großbritannien. Noch bis heute Abend um elf unserer Zeit können sich die Briten in 650 Wahlkreisen für einen Kandidaten entscheiden und damit über einen Sitz im Abgeordnetenhaus. Die Umfragen signalisieren ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen David Cameron und Ed Miliband. Eine absolute Mehrheit dürfte keiner von beiden erreichen. Also wird es darauf ankommen, vor allem wie die kleineren Parteien abschneiden. Alle Blicke richten sich in diesem Zusammenhang auf Schottland, wo der separatistischen schottischen Nationalpartei SNP ein großer Erfolg zugetraut wird.
Am Telefon begrüße ich Anthony Glees, den Politikwissenschaftler der Universität von Buckingham, immer wieder ein gern gehörter Gast bei uns im Programm. Schönen guten Morgen!
Am Telefon begrüße ich Anthony Glees, den Politikwissenschaftler der Universität von Buckingham, immer wieder ein gern gehörter Gast bei uns im Programm. Schönen guten Morgen!
Anthony Glees: Guten Morgen!
Barenberg: Anthony Glees, vor fünf Jahren galt es noch als Ausrutscher geradezu, als absolute Ausnahme. Jetzt läuft es wieder darauf hinaus, dass eine Koalitionsregierung nötig wird oder etwas in der Art. Was ist mit den Briten los?
Glees: Die Frage ist gut, die Frage ist berechtigt und ich glaube, man kann sagen, die Probleme, die wir heute und morgen sehen werden und vielleicht noch in den kommenden Wochen und Monaten, die auch wahrscheinlich zu einer großen Staatskrise führen werden, das sind Probleme, vor denen die Briten sehr lange weggelaufen sind und sie haben versucht, diese Probleme zu verdrängen. Jetzt aber liegt die Rechnung da und heute und morgen müssen die Briten dafür bezahlen.
Die Staatskrise kommt daher, dass wir ein Mehr-Parteien-Staat geworden sind in den letzten zehn, 15 Jahren, aber immer noch ein Mehrheitswahlrecht haben, und der Anteil der Stimmen, die die beiden noch großen Volksparteien Labour und Tories bekommen haben, sind immer kleiner geworden. Also es ist auch nicht nochmals 2010. Soweit wir es wissen von Meinungsumfragen, wird es noch schlimmer für die zwei großen Parteien heute sein als vor fünf Jahren.
Die Staatskrise kommt daher, dass wir ein Mehr-Parteien-Staat geworden sind in den letzten zehn, 15 Jahren, aber immer noch ein Mehrheitswahlrecht haben, und der Anteil der Stimmen, die die beiden noch großen Volksparteien Labour und Tories bekommen haben, sind immer kleiner geworden. Also es ist auch nicht nochmals 2010. Soweit wir es wissen von Meinungsumfragen, wird es noch schlimmer für die zwei großen Parteien heute sein als vor fünf Jahren.
"Ed Miliband scheint mehr Studentenpolitiker"
Barenberg: Lassen Sie mich diesen Gedanken der Staatskrise noch mal aufgreifen und etwas dagegenhalten, denn Beobachter sagen ja, das Personal ist einfach nicht attraktiv genug, weder David Cameron noch Ed Miliband. Die sehen also ganz unmittelbare Gründe und keine so grundstürzenden, die Sie jetzt haben anklingen lassen.
Glees: Ja, das könnte man sagen. Cameron ist ein sehr gelassener Typ, hochmütig auf alle Fälle und kommt nicht immer sehr gut an. Ed Miliband scheint mehr Studentenpolitiker zu sein. Der hat nie einen richtigen Job in seinem Leben gehabt. Aber die Tories hätten auf die wirtschaftliche Verbesserung in Großbritannien rechnen können. Das haben sie zuerst versucht in der Wahlkampagne. Von George Osborne, dem Schatzmeister, Schatzkanzler, hört man jetzt kein Wort mehr in der Kampagne. Und es ist eine gute Frage, warum die Tories von den wirtschaftlichen Verbesserungen keinen Gewinn machen können.
Barenberg: Wie lautet Ihre Antwort, denn David Cameron hat in der Tat wirtschaftlich sehr gute Zahlen vorzuweisen?
Glees: Ja, genau! Ich würde sagen, weil die politische Landschaft in Großbritannien sich verändert hat und weil David Cameron genau wie alle anderen Politiker vor den großen Problemen immer weggelaufen sind. Ich denke an Schottland, die schottische Krise, ich denke an die Europäische Union und die EU-Krise. Das sind sehr, sehr große Probleme und man hat sie versucht, auf feine englische Art einfach zu ignorieren. Und ich muss noch hinzufügen: Ed Miliband, sein Spiel ist auch ganz klar und ganz geschickt gemacht. Er hat mit allem auf seine Stammwähler, auf Labour-Stammwähler gezielt, dauernd von den arbeitenden Leuten gesprochen. Aber das war auch ein Fehlgriff, denn die Stammwähler, das sind nicht genug. Das sind vielleicht höchstens 30 Prozent der Bevölkerung, der Wähler, die diese Botschaft hören werden. Also misslungen! Wo man auch hinsieht ist es misslungen.
"Nicola Sturgeon und die schottischen Nationalisten werden das Gesicht Großbritanniens für immer verändern"
Barenberg: Umso mehr wird es möglicherweise auf Nicola Sturgeon ankommen beziehungsweise die Schottische Nationalpartei. Ich habe gerade mit unserem Korrespondenten ein bisschen darüber gesprochen. Wird sie so oder so eine wichtige Rolle spielen in den nächsten Jahren, ob es nun eine Minderheitsregierung gibt, eine Tolerierung oder was auch immer?
Glees: So oder so, wenn die Meinungsumfragen richtig sind. Das muss jeder Politologe immer betonen. Die waren 1992 ganz falsch. Da haben die Tories eine große Mehrheit bekommen und keine der Meinungsumfragen hat das richtig vorhergesagt. Aber wenn es so heute ausfällt, wie es zu sein scheint, dann werden es Nicola Sturgeon und die schottischen Nationalisten sein, die das Gesicht Großbritanniens für immer verändern werden. Das ist eine der zwei großen Fragen unserer jetzigen Zeit. Und Sturgeon wird, wenn sie so viele Sitze hat, nicht abhauen von Westminster, bis sie das bekommen hat, was sie haben möchte, und sie wird es nur von Ed Miliband bekommen können.
Barenberg: Das ist die Unabhängigkeit Schottlands.
Glees: Die Unabhängigkeit.
Barenberg: Der SNP werden ja 50 Sitze oder mehr zugetraut. Sagen Sie uns noch: Welchen Unterschied wird es denn unter dem Strich dann machen, ob nun Cameron Premier bleibt, oder Ed Miliband in Downing Street Nr. ten einzieht?
Glees: Bei Schottland wird es, glaube ich, besser sein. Die Scheidung, wenn man so sagen kann, Schottland, England und Nordirland und Wales wird einfacher bei Ed Miliband sein. Die beiden Parteien sind links liegende Parteien und sie verstehen sich, man fürchtet, auf griechische Art, aber die verstehen sich auch wirtschaftlich. Für David Cameron wird die Schottland-Frage sehr schwer lösbar auf rationalem Wege, eben weil wenn die Schotten auch den Mund halten, ist David Cameron verpflichtet, ein EU-Referendum in 2017 zu führen. Wenn er das aber macht, werden die Schotten dann auch ein Referendum verlangen, weil eine Mehrheit der Schotten gar nicht aus der EU austreten möchte. Wenn morgen Früh David Cameron wieder in Downing Street sitzt, dann ist er verpflichtet - das war ein roter Strich, hat er gesagt -, ein EU-Referendum zu haben, und wenn er dies tut, dann hauen die Schotten ab durch ihr eigenes Referendum.
Barenberg: Und dann, Anthony Glees, wird auch Alexander Graf Lambsdorff Recht behalten, der EU-Parlamentarier, der sagt, David Cameron hat ein Trümmerfeld auf europäischer Ebene hinterlassen.
Glees: Das ist leider richtig. Man kann es verstehen, warum er das getan hat. Die Probleme für ihn waren sehr, sehr schwierig. Aber manchmal in der Politik muss man auch führen können. Manchmal in der Politik muss man auch sehr tapfer sein. Und da war die EU-Frage für David Cameron bezeichnend. Er ist davongelaufen und jetzt beißt ihn diese EU-Frage in beiden Beinen und ich glaube, er wird stolpern.
Barenberg: Sagt Anthony Glees, der Politikwissenschaftler der Universität Buckingham. Schönen Dank für das Gespräch, Grüße nach Großbritannien.
Glees: Gerne geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.