Sandra Schulz: Meinungsforscher gehen von der wohl knappsten Wahl der letzten Jahrzehnte aus. Seit heute Morgen sind in Großbritannien die Wahllokale für die Unterhauswahlen eröffnet. Eine hauchdünne Mehrheit für den konservative Premier Cameron sehen die Umfragen, allerdings auch nicht alle. Die Rede ist von nur einem Prozent Abstand oder noch weniger zum Labour-Herausforderer Ed Miliband.
Am Telefon begrüße ich Bert van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg. Guten Tag!
Bert van Roosebeke: Guten Tag!
Schulz: Wie wichtig ist die Unterhauswahl in Großbritannien heute für Europa?
van Roosebeke: Die ist, glaube ich, erst mal entscheidend. Die entscheidende Frage ist, ob David Cameron oder Ed Miliband die Regierung stellt und wie Ihr Korrespondent gerade gesagt hat: Wenn Cameron die Regierung stellt, dann haben wir bis Ende 2017 ein Referendum.
Schulz: Aber wir haben es gerade auch gehört: Selbst wenn Labour gewinnen sollte, wäre das Szenario, die Drohung mit einem Referendum, ja noch nicht vom Tisch. Warum macht das so einen Unterschied?
van Roosebeke: Ich glaube, wenn Cameron die Regierung stellen wird - und das ist, glaube ich, neben den großen Unwahrscheinlichkeiten immer noch das wahrscheinlichste Szenario -, gehen wir eigentlich davon aus, dass dieses Referendum zugunsten der EU ausgehen wird.
Die Lage in Großbritannien ist momentan so, dass 45 Prozent der Bevölkerung sich dafür ausspricht, in der EU zu bleiben. Das war 2012 ja noch ganz anders, da waren nur 28 bereit dafür. Die gesamte britische Wirtschaft, einschließlich der City, des Finanzmarktplatzes in London, spricht sich sehr stark für einen Verbleib in der EU aus, und das ist alles klassisches Wahlklientel der Konservativen.
Die Lage in Großbritannien ist momentan so, dass 45 Prozent der Bevölkerung sich dafür ausspricht, in der EU zu bleiben. Das war 2012 ja noch ganz anders, da waren nur 28 bereit dafür. Die gesamte britische Wirtschaft, einschließlich der City, des Finanzmarktplatzes in London, spricht sich sehr stark für einen Verbleib in der EU aus, und das ist alles klassisches Wahlklientel der Konservativen.
Auch Cameron hat eigentlich gesagt, er möchte doch sehr gerne in der EU bleiben. Nur möchte er ein gewisses "New Settlement", hat er es genannt, eine neue Vereinbarung mit der EU vereinbaren, und ich glaube, dass da viele Parteien in der EU, auch Deutschland, bereit sein werden, auf Cameron zuzugehen, und ihm etwas geben werden, was er dann Ende 2017 den Wählern in einem Referendum vorlegen kann.
Schulz: Warum ist denn aber vor dem Hintergrund die Nervosität auch in Europa, in der EU eine so ganz erhebliche? Was spricht denn überhaupt dagegen, dass Großbritannien das so intensiv mit sich selbst bespricht, wie es zur EU steht?
van Roosebeke: Ich glaube, da spricht sehr wenig dagegen. Ich glaube, dass das Ganze nicht so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird. Ich glaube, dass vielleicht viele Parteien auf dem Festland auch die Lage in Großbritannien nicht richtig begreifen vielleicht. Natürlich weiß jeder, UKIP wächst. Die Gegebenheiten im britischen System, im Wahlsystem sind aber auch so, dass die 15 Prozent in den Wahlumfragen für UKIP sich halt nicht übersetzen in Sitze im Parlament.
Die parlamentarische Mehrheit ist nach wie vor sehr groß für einen Verbleib in der EU, und vielleicht ein bisschen anders als Ihr Korrespondent gerade würde ich eigentlich sogar behaupten, es wäre vielleicht mal gut, wenn Cameron gewählt wird, das Referendum durchführt auf Basis einer wie auch immer gearteten neuen Vereinbarung mit der EU und dann sich eine klare Mehrheit der Briten dafür ausspricht. Dann hätten wir, sage ich mal, eine Weile lang Klarheit und Ruhe mit Großbritannien.
"Ich sehe eine Chance für die EU in dem möglichen Referendum"
Schulz: Aber wäre es für Europa nicht ein Rückschlag überhaupt, diese Position zu haben, dass eines der wichtigsten EU-Länder sagt, wir überlegen uns das jetzt mal, wir fragen uns mal?
van Roosebeke: Ach, das weiß ich noch nicht mal. Cameron hat wie gesagt nie gesagt, er will austreten. Er hat gesagt, er legt die Frage vor, und Grundlage der Frage wird dann diese neue Vereinbarung sein.
Ich glaube, man stellt sich das so vor oder man kann es so sehen: Es gibt eine gewisse Unzufriedenheit an der britischen Politik in der Bevölkerung über die Art und Weise, wie man jetzt mit der EU zusammenarbeitet, und diese Unzufriedenheit, muss man sagen, gibt es in einer Reihe von anderen Ländern genauso.
Wenn Sie sich Holland anschauen, Deutschland, Frankreich, die Umfragen sind auch nicht gerade sehr positiv und vieles dessen, was in der britischen Bevölkerung lebt, lebt auch in anderen Ländern der EU. Also man kann es aus meiner Sicht auch als Chance sehen für die EU, Fragen zu diskutieren, die dahin gehen, Subsidiarität, Bürokratieabbau, wie können wir die Rechte der nationalen Parlamente, auch in Deutschland des Bundestages stärken in der Beteiligung der EU-Politik.
Das sind alles legitime Fragen. Die kann man diskutieren, da kann man Lösungen finden, alles ohne Vertragsänderungen, denen von allen 28 Staaten zuzustimmen wäre und die völlig unrealistisch sind. Alles ohne Vertragsänderung möglich und da sehe ich eigentlich eine Chance für die EU, nicht nur das Problem mit Großbritannien zu lösen, aber auch die eigene Legitimität in den anderen 27 Staaten zu stärken.
Schulz: Wenn wir das Gedankenspiel jetzt noch weiter vorantreiben und unterstellen, es käme zu dem Referendum und die Briten würden sich entgegen der Umfragen, die jetzt im Moment kursieren, auch für einen Austritt aus der EU entscheiden, was wäre daran überhaupt so schlimm?
van Roosebeke: Das Problem läge erst mal in Großbritannien. Man kann die Frage heute eigentlich überhaupt nicht beantworten. Entscheidend wäre, welche Regelungen würden denn für das Verhältnis Großbritannien und Rest-EU nach einem solchen Referendum überhaupt zutreffen.
Ich sehe im Moment aber nicht wirklich das Szenario, wie das für die Briten als Gesellschaft und vor allem als Wirtschaft natürlich von Vorteil sein kann.
Die 27 anderen Staaten hätten überhaupt gar kein Interesse daran, es Großbritannien einfach zu machen und die Nutzung gewisser Vorteile, natürlich den Binnenmarkt und die freie Bewegung von Gütern und vor allem von Kapital zu vereinfachen, weil dann könnten natürlich auch andere Mitgliedsstaaten auf die Idee kommen, auszutreten und es Großbritannien gleich zu machen. Sprich die 27 Staaten werden versuchen und erfolgreich versuchen, meiner Meinung nach, Großbritannien diesen Austritt zu verwehren.
Schulz: Wenn Sie das so gelassen sehen, als Anfang vom Ende würden Sie das jedenfalls nicht sehen?
Roosebeke: Nein. Wenn Cameron die Wahl gewinnt und das Referendum auch tatsächlich durchführt, sind die übrigen 27 Mitgliedsstaaten gut beraten, Cameron etwas zu geben, was er seinem Publikum Ende 2017 auch anbieten kann. Man muss Cameron noch zugutehalten: Er hat in jeder Rede über die Beziehungen zur EU vermieden, über die Zurückverlagerung von Kompetenzen an Großbritannien zu sprechen. Er hat tunlichst vermieden, eine Vertragsänderung zwingend notwendig zu machen.
"Harte Änderungen kann man Cameron nicht anbieten"
Schulz: Aber dann sagen Sie doch noch mal, was die EU Großbritannien dann anbieten könnte. Es hat ja in der Geschichte auch schon allerlei Privilegien für Großbritannien immer wieder gegeben.
Roosebeke: Harte Änderungen kann man ihm nicht anbieten. Die Einschränkung der Einwanderung auch in die sogenannten britischen Sozialsysteme, die kann man ihm ohne Vertragsänderung sicherlich nicht anbieten. Das will die Bundesrepublik nicht, das wollen mehrere andere Staaten auch nicht. Das wären Änderungen, die so dermaßen grundlegend sind, die die vier Grundfreiheiten der EU berühren. Das wird sicher nicht passieren.
Was passieren kann, sind sehr weiche Änderungen, die eigentlich relativ unumstritten sind, wie gesagt: Bürokratieabbau, eine frühe Beteiligung der nationalen Parlamente durch die Europäische Kommission, wenn sie darüber nachdenkt, neue Richtlinien oder Verordnungen vorzuschlagen, Subsidiaritätsrügen, die man vereinfacht.
Das sind alles Sachen, die teilweise durch die neue Kommission schon aufgegriffen wurden und die man Großbritannien problemlos anbieten kann, und dann kann Herr Cameron das aufgeschmückt seinen Wählern Ende 2017 vorlegen. Damit hätte sein potenzieller oder wahrscheinlicher Koalitionspartner von den Liberalen auch überhaupt gar kein Problem. Und wenn die Briten dem dann zustimmen, dann hätten wir wie gesagt für eine Weile lang das Verhältnis zur EU geklärt.
Schulz: Bert van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg und hier heute in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Vielen Dank!
Roosebeke: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.