Tobias Armbrüster: Am kommenden Sonntag wählen die Ungarn ein neues Parlament. Acht Millionen Wahlberechtigte in einem Land, das in Europa immer wieder für Schlagzeilen sorgt, vor allem, weil sich die Regierung von Viktor Orbán immer wieder gegen Entscheidungen aus Brüssel in Stellung gebracht hat, vor allem dann, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Daran wird sich wohl auch in den kommenden Jahren wenig ändern, denn alle Umfragen sehen Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei schon jetzt als deutlichen Gewinner.
Am Telefon ist der ungarische Politikwissenschaftler Bulcsu Hunyadi. Er ist Analyst bei Political Capital, das ist ein Forschungsinstitut in Budapest. Schönen guten Morgen, Herr Hunyadi!
Bulcsu Hunyadi: Schönen guten Morgen aus Budapest!
Armbrüster: Herr Hunyadi, wie sicher ist das denn genau, wie sicher ist der Sieg von Viktor Orbán jetzt schon?
Hunyadi: Ich würde sagen, es werden die unvorhersehbarsten Wahlen in Ungarn sein seit dem politischen Wandel 1989. Ich glaube, alle drei Optionen sind eigentlich offen. Nach der höchsten Wahrscheinlichkeit wird wieder die Regierungspartei die Wahlen mit einer einfachen Mehrheit gewinnen. Aber es kann auch passieren, dass Fidesz die Wahlen mit einer Zweidrittelmehrheit gewinnen wird, und es kann auch passieren, dass die Oppositionsparteien die Wahlen gewinnen werden.
Mit Flüchtlingspolitik "neue Anhänger angeworben"
Armbrüster: Wenn wir jetzt mal davon ausgehen, dass Viktor Orbán tatsächlich gewinnt, das sagen ja zumindest sehr viele Meinungsforschungsinstitute. Warum ist er so populär in Ungarn?
Hunyadi: Seit 2015 setzt Viktor Orbán alles auf Flüchtlingspolitik, auf das Thema Migration. Er hat es geschafft, mit diesem Thema die ganze politische Landschaft in Ungarn neu zu strukturieren. Er hat mit diesem Thema neue Anhänger angeworben, und er hat es auch geschafft, andere Themen komplett vom Tisch zu wischen.
Armbrüster: Welche Themen sind das zum Beispiel, welche Themen könnten die Ungarn eigentlich noch beschäftigen außer der Flüchtlingspolitik?
Hunyadi: Wie Sie wissen, das ist von der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 sehr stark beeinflusst worden, es sind ganz viele Flüchtlinge nach Ungarn gekommen. Seit diesem Jahr aber sind diese Flüchtlinge von Ungarn weitergezogen, und es leben heute in Ungarn kaum Flüchtlinge. Die Bevölkerung in Ungarn ist daher mit diesem Thema nicht mehr direkt konfrontiert.
Die Opposition versucht daher auch, das Interesse auf andere Themen zu lenken, wie zum Beispiel Korruption in Regierungskreisen oder den Zustand der Bildungsinstitutionen oder der Zustand im Gesundheitssektor. Das sind die wichtigsten Themen für die Oppositionsparteien.
"Oppositionsparteien sind in einer schwierigen Situation"
Armbrüster: Und wie erfolgreich ist die Opposition damit, diese Themen im Wahlkampf zu setzen?
Hunyadi: Die Opposition hat limitierte Optionen, weil der Großteil der Medien durch die Regierungspartei kontrolliert wird, und es gibt auch andere Hindernisse für die Oppositionsparteien, sie sind zum Beispiel sehr zersplittert. Es gibt fünf Oppositionsparteien im linken Sektor der politischen Landschaft, und es gibt eine rechtsextremistische Oppositionspartei, die Jobbik-Partei. Es gibt also viele Ideologien und ideologische Unterschiede zwischen den Oppositionsparteien, und es gibt natürlich auch Macht- und Interessenkonflikte zwischen den Oppositionsparteien.
Die Oppositionsparteien sind auch deswegen in einer schwierigen Situation, weil viele Politiker von diesen älteren Oppositionsparteien sehr diskreditiert sind in den Augen der Öffentlichkeit, und viele der Oppositionsparteien haben es auch in den letzten Jahren versäumt, inhaltliche politische Arbeit und auch politische Arbeit vor Ort zu leisten. Sie konnten daher keine neuen Anhänger anwerben.
Armbrüster: Herr Hunyadi, Sie müssen uns etwas vertraut machen mit den politischen Parteien in Ungarn. Wir lesen hier immer vor allen Dingen von einer Oppositionspartei, das ist die Jobbik-Partei. Die galt mal als rechtsextrem, soll es aber inzwischen nicht mehr sein. Können Sie uns die Entwicklung dieser Partei etwas erklären?
Hunyadi: Jobbik wurde Anfang der 2000er-Jahre gegründet, und Jobbik war anfangs eine sehr radikale, sehr extreme Partei. Seit 2014, 2015 verfolgt Jobbik eine andere Strategie. Sie versucht sich neu zu positionieren und sich als eine moderate konservative Partei darzustellen. Dieser Wandel betrifft aber nur das Image und die Rhetorik der Partei. Bezüglich der Ideologie, den fachpolitischen Positionen und der Zusammensetzung der Partei ist Jobbik weiterhin als eine rechtsextremistische Partei einzuordnen.
"Mehrheit wünscht sich eine konservative Politik"
Armbrüster: Können wir dann zusammenfassend feststellen, dass, egal wie das Ergebnis nun konkret aussehen wird, also wie sich das auf die Parteien am Sonntag verteilen wird, es gibt nach wie vor eine große Mehrheit in Ungarn für eine sagen wir mal konservative Politik?
Hunyadi: Auf jeden Fall. Wenn man die Ergebnisse von Fidesz und Jobbik in den Meinungsumfragen addiert, dann bekommt man eine Zahl von ungefähr 60, 70 Prozent oder sagen wir mal 50 Prozent mindestens. Das ist schon fast die Mehrheit der Gesellschaft, die sich eine konservative Politik wünscht. Auf der anderen Seite zum Beispiel, wenn man heutzutage in Ungarn gefragt wird, ob man mit dem System im Ganzen oder mit der Demokratie, dem Zustand der Demokratie zufrieden ist, dann sehen Sie, sind die Menschen viel kritischer. Und wenn es um fachpolitische Fragen geht, dann sind die Menschen wiederum kritisch mit der Regierung.
Armbrüster: Was heißt das dann alles für die Europäische Union? Worauf muss sich die EU in den kommenden vier Jahren einstellen?
Hunyadi: Da die Wahlergebnisse noch nicht vorherzusagen sind, ist es schwierig zu sagen, worauf die EU sich einstellen soll. Aber falls Fidesz die Wahlen wieder gewinnt, kann die EU weiterhin mit Konflikten mit Ungarn rechnen, und die EU kann auch damit rechnen, dass die Positionen von rechtspopulistischen Parteien in Europa und auch in der EU gestärkt werden.
Armbrüster: Der ungarische Politikwissenschaftler Bulcsu Hunyadi heute Morgen hier bei uns liv in den Informationen am Morgen, zu den Wahlen am Sonntag in Ungarn. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen, Herr Hunyadi!
Hunyadi: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.