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Wahlannullierung in der Türkei
"Was steigt, ist die Frustration des Durchschnittsbürgers"

Zwei weitere Wahlen in Istanbul müssten wiederholt werden, wenn es rechtliche Gründe für die Annullierung der Bürgermeisterwahl gäbe, sagte Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung im Dlf. Den Menschen in der Türkei werde deutlich, dass ein Machtwechsel auf demokratischem Weg nicht mehr möglich sei.

Kristian Brakel im Gespräch mit Mario Dobovisek |
Passanten gehen an Wahlplakate von Recep Tayyip Erdogan und Muharrem Ince in Istanbul im Juni 2018 vorbei. |
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht mit allen Mitteln seine Macht und die seiner Partei AKP abzusichern (picture alliance / Emrah Gurel)
Mario Dobovisek: Als mit den ersten Tastentelefonen der kleine Knopf mit den zwei Kreisen drauf eingeführt wurde, war das eine Revolution für all jene, die öfter hintereinander die gleiche Nummer wählen mussten: die automatische Wahlwiederholung. Einer Volte gleich kommt aus Sicht des Wahlsiegers in Istanbul auch die Entscheidung der türkischen Wahlkommission, denn auch sie hat auf Antrag von Erdogans AKP sozusagen die Taste mit den zwei Kreisen gedrückt: Wahlwiederholung in Istanbul. Dafür wird sie aus dem Ausland kritisiert und von der AKP bejubelt.
In Istanbul begrüße ich Kristian Brakel. Er leitet das Türkei-Büro der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Tag, Herr Brakel!
Kristian Brakel: Hallo!
Dobovisek: Die Wahlkommission, der Wahlrat hat das Wahlergebnis annulliert, weil es Unregelmäßigkeiten im Istanbuler Wahlvorstand gegeben habe. Können Sie den Vorwurf der Unregelmäßigkeiten nachvollziehen?
Brakel: Ich kann das bisher, so wie es kommentiert worden ist, nicht nachvollziehen. Wir haben ja auch die vollständige Begründung noch nicht vorliegen. Das was bisher durchgesickert ist, dass es hieß, einige der Wahlvorstände, der Leute, die im Prinzip an den Urnen sind und die Auszählung vornehmen, die müssten nach dem neuen Wahlgesetz Staatsbedienstete sein und das sei nicht der Fall gewesen. Das mag durchaus stimmen, das kann durchaus sein. Nur sind das ja zum Teil die gleichen Wahlvorstände, die etwa bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl letztes Jahr oder auch beim Verfassungsreferendum 2017 da gesessen haben. Und da hat das niemand angefochten.
"Man wird sicherstellen, dass die AKP vorne liegt"
Dobovisek: Was würde das denn für die zurückliegenden Wahlen bedeuten? Sind die dann auch nicht gültig?
Brakel: Ich glaube, wenn wir davon ausgehen würden, dass es hier eigentlich um eine rein rechtliche Frage geht, dann ja. Aber das ist ja keine rein rechtliche Frage. Ich glaube, das kann man schon daran erkennen: Es wurde ja bei der letzten, bei der Kommunalwahl nicht nur über den Bürgermeister von Istanbul abgestimmt, sondern es wurde auch abgestimmt über das Regionalparlament in Istanbul und die verschiedenen Bezirksbürgermeister. Zwar sind das unterschiedliche Wahlzettel, aber die kommen alle in den gleichen Umschlag und kommen auch in die gleiche Urne in den gleichen Wahllokalen. Das bedeutet: Wenn, dann hätte man schon alle drei Wahlen annullieren müssen. Annulliert wurde aber seltsamerweise nur die da, wo die AKP den Kürzeren gezogen hat.
Dobovisek: Also nicht juristisch, wie Sie sagen, sondern ich drehe das mal weiter: eher politisch. – Will die AKP jetzt so lange wählen lassen, bis das Ergebnis passt? So sehen es heute jedenfalls auch Außenpolitiker von SPD und CDU.
Brakel: Ja. Das ist ja auch nichts Neues. Wir haben 2015 gehabt, wenn Sie sich erinnern, da gab es die Juni-Wahl zum Parlament. Damals hatte die AKP ihre absolute Mehrheit verloren. Dann ist es nicht zu einer Koalitionsbildung gekommen, unter anderem, weil Präsident Erdogan sich dem verweigert hat. Und dann hat man einfach im November 2015 neu wählen lassen und hat dann die absolute Mehrheit wieder eingefahren mit fast 60 Prozent. Das ist nichts besonderes Neues. Ich glaube, es wird jetzt nicht noch weitere Wahlen und Wahlen geben, sondern man wird einfach sicherstellen, dass beim nächsten Wahlgang die AKP dann vorne liegt. Präsident Erdogan hat bereits schon Gesetzesänderungen angekündigt, jetzt gerade in einer Rede gesagt, wir müssen alles tun, damit es nicht mehr zu solchen Fehlern im Prinzip kommen kann wie bei der letzten Wahl. Mit Fehlern meinte er Unregelmäßigkeiten. Aber natürlich ist der Verdacht nahe, dass es da darum geht, Dinge zu tun, die es verunmöglichen, dass auf legale Weise noch mal ein Machtwechsel in der Türkei stattfindet.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geht im April 2019 an einer Ehrengarde in hellblauen Uniformen vorbei.
Ein legaler Machtwechsel in der Türkei scheint kaum noch möglich, meint Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung (picture alliance / Evrim Aydin)
Dobovisek: Was sagt uns das über Erdogans Macht, wenn Sie schon das Wort Macht gerade gebrauchen? Das Wort Macht hat eine große Rolle in dieser präsidentiellen Form, die er ja selber mit dem Referendum umgesetzt und durchgesetzt hat. Was sagt uns das über die verbliebene Demokratie in der Türkei?
Brakel: Dieses Präsidialsystem, das haben wir ja in erster Linie, weil es eigentlich mit diesem System Erdogan schon seit 2013 bergab geht. Seit den Gezi-Protesten ist die Legitimität der AKP, der Regierung stark geschwächt worden und die Regierung hat immer wieder versucht, diese Legitimität auf verschiedene neue Weisen sich neu anzueignen, zu erneuern in den Augen der Bevölkerung. Unter anderem ist das durch diesen Sicherheitsdiskurs passiert, 2015/2016 mit dem Kampf gegen den Terrorismus, dem wirklichen und dem vermeintlichen. Aber auch das zieht jetzt nicht mehr so gut. Vorher war es die Wirtschaft, auch die zieht jetzt aktuell nicht mehr so gut.
Mit schwindender Legitimität steigt die Repression
Dobovisek: Die Lira ist gerade wieder aktuell gefallen, eben auch gerade wegen der Entscheidung, der Annullierung der Wahl.
Brakel: Ja, genau! Das ist etwas, was ja die Märkte vorausgesagt hatten. Der Chef des Industrieverbandes Tüsiad hatte sich gestern noch geäußert und hat extra davon abgeraten, dass jetzt noch mal Wahlen kommen sollten. Auch den hat Erdogan jetzt gerade in seiner letzten Rede noch mal mit Worten bedacht, die nicht besonders schmeichelhaft sind. Macht hat einfach diese Eigenschaft, dass sie sich über Zeit abnutzt und verbraucht und diese Legitimität immer wieder erneuert werden muss. In einem demokratischen System passiert das über Wahlen. Aber wir sehen das ja selbst bei unserer eigenen Bundeskanzlerin, die nicht so autokratisch ist. Selbst die wird jetzt von der Macht scheiden müssen, weil einfach irgendwann ein Wechsel angesagt ist. Und in einem System, in dem das nicht mehr möglich ist, da gibt es nur eine Möglichkeit, um diese Macht zu erhalten, und das ist Repression. Im Zuge, wie die Legitimität schwindet, und im Zuge, wie man nicht mehr darauf setzen kann, dass man an der Urne die Mehrheit einfährt, in dem Zuge muss die Repression verstärkt werden. Von daher stehen der Türkei vermutlich in den nächsten Jahren eher unruhigere Zeiten bevor.
Dobovisek: Blicken wir nicht auf die nächsten Jahre, sondern erst mal tatsächlich auf das, was direkt vor der Tür steht: die Neuwahlen in Istanbul. Jetzt könnte man sagen, diejenigen, die den Oppositionskandidaten gewählt haben, werden ihn wieder wählen; die anderen werden weiter bei der AKP bleiben. Aber lassen sich die Menschen in Istanbul - Sie leben in der Türkei, nehmen die Stimmung wahr - von den aktuellen Repressionen beeindrucken?
Brakel: Ich kann natürlich nur für einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung sprechen, in den Stadtvierteln, in denen ich lebe beziehungsweise in denen ich arbeite, und dann natürlich mit den Leuten, mit denen ich Kontakt habe, von denen ich sehr offen sagen muss, dass die Masse natürlich jetzt keine AKP-Wählerinnen und Wähler sind. Für die ist das ein herber Schlag. Wir haben gestern auch vereinzelte Demonstrationen gesehen beziehungsweise dieses Aneinanderschlagen von Töpfen und Pfannen, was wir aus der Gezi-Zeit kennen beziehungsweise vom Verfassungsreferendum, was Leute machen, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Das ist schon merkbar, dass es natürlich Leute gibt, die diese Frustration haben. Dass sie damit für eine Mehrheit der Menschen in Istanbul sprechen, dazu kann ich nichts sagen. Das weiß ich nicht.
Ich glaube, es gibt immer noch sehr viele Leute, die der AKP die Treue halten, und wir haben das auch gerade im Beitrag gehört. Viele Leute durchdringen natürlich auch nicht so. Die Wahlkommission hat das jetzt annulliert, dann werden die schon Recht haben, und kümmern sich dann nicht mehr besonders viel darum. Aber ich glaube, was steigt, ist die Frustration des Durchschnittsbürgers, selbst der Leute, die nicht so politisch sind, weil sie sagen: Es ist gar nicht mehr möglich, auf demokratischem Weg überhaupt einen Machtwechsel herbeizuführen. Und das ist etwas, was für jeden Staat, nicht nur für die Türkei sehr, sehr gefährlich ist, weil es natürlich Wasser auf die Mühlen von Extremisten ist.
Klare Positionierung Deutschlands und der EU notwendig
Dobovisek: Weil Sie sagen, das ist gefährlich: Wieviel Sprengstoff, wieviel Sprengkraft birgt gerade diese Situation jetzt mit den Neuwahlen, die vor der Tür stehen, mit einer gespaltenen Stadt, die vielleicht auch steht für ein gespaltenes Land?
Brakel: Es gibt diese sozialen Spaltungen, aber ich vermag jetzt nicht zu sagen, dass sich das wirklich in Gewalt entladen wird. Sie müssen sehen: Die Sicherheitskräfte sind sehr, sehr präsent seit Gezi. Die Möglichkeit, öffentlich große Demonstrationen zu organisieren, die nicht von den Sicherheitskräften kontrolliert werden können, die ist sehr, sehr gering. Und natürlich die Angst der Leute, die tendenziell unzufrieden sind, ist sehr, sehr hoch, beziehungsweise eine Mischung zwischen Frustration und Angst vielleicht. Es gibt auch sehr viele Leute, die einfach sagen: Gut, wir wollen mit Politik nichts zu tun haben. Das ist nicht besser geworden in den letzten Jahren und wir halten uns da einfach raus und wir hoffen, dass das vorübergeht. Oder eben viele junge Leute, die sagen, wir hoffen, dass wir irgendwann ins Ausland gehen können.
Dobovisek: Was sollte die EU jetzt machen? Was sollte Deutschland machen? Sich eher raushalten oder sich klar positionieren, einmischen?
Brakel: Eine klare Positionierung ist auf jeden Fall notwendig, zu sagen, dass das etwas ist, was zu den nicht demokratischen Gepflogenheiten entspricht. Das entspricht nicht den Standards etwa des Europarats, die die Türkei ja selber unterzeichnet hat. Der Generalsekretär des Europarats hat das gestern schon deutlich gemacht. Wenn es Probleme bei der Durchführung von Wahlen gibt, was die Standards angeht, dann müssen die vor der Wahl angesprochen werden, nicht danach. Aber man muss auch sagen, der Einfluss, den man von außen auf diese Geschehnisse nehmen kann, der ist sehr, sehr gering. Was man tun kann an Stelle der EU: Man kann natürlich überlegen, sollte jetzt ein anderer Bürgermeister hier ins Amt gehievt werden, ist das noch ein legitimer Ansprechpartner, etwa zum Beispiel, wenn es um die Abwicklung von EU-Projekten geht. Es gibt ja viele Milliarden Euro, die zum Teil durch solche Projekte ins Land kommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.