Philipp May: In Deutschland ist die Hängepartie beendet. Dafür hat die nächste Hängepartie aber gerade begonnen: Ein Rechtsruck und keine klare Mehrheit in Italien nach der Parlamentswahl gestern. Wie geht es jetzt weiter?
Ganz frisch ist es aktuell: Soeben hat der Parteichef der abgewählten Partito Democratico, Matteo Renzi, seinen Rücktritt angekündigt. Die italienischen Sozialdemokraten sind ja dezidiert proeuropäisch. Aber 52 Prozent haben für europaskeptische Parteien gestimmt bei den Parlamentswahlen in Italien.
Darüber spreche ich jetzt mit Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag!
Joachim Fritz-Vannahme: Schönen guten Tag.
May: Verabschiedet sich Italien gerade von der EU?
Fritz-Vannahme: Nun, das ist ein ganz deutliches Signal an die EU. Wir haben, wie wir eben gehört haben, ja jede Menge Gewinner in Italien, keinen richtigen Sieger. Das wird man sehen. Aber wir haben einen eindeutigen Verlierer: Das ist die Europäische Union. Das zeichnete sich übrigens in den Umfragen vor dieser Wahl, auch in den Umfragen der Bertelsmann-Stiftung deutlich ab. Da ist viel von Desillusionierung, Unzufriedenheit, Pessimismus, auch was die persönliche Lebensführung angeht, zu spüren gewesen. Und eine rekordniedrige Marke: Nur 56 Prozent der befragten Italiener waren noch für einen Verbleib ihres Landes in der EU. Das ist der absolute Minusrekord innerhalb der Europäischen Union.
"Ein ganz deutlicher Notruf"
Und das ist natürlich eine Tendenz, die wir durchaus gespürt haben über die letzten Jahre. Der Zweckoptimismus des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Gentiloni, der noch vorher sagte, die Angstmacher, die werden nicht gewinnen, war halt nur Zweckoptimismus. Wir wissen das seit langem, dass die Unzufriedenheit wächst, und das durchaus aus guten Gründen, handfesten Gründen. Es ist ja nicht nur eine Unzufriedenheit mit dem politischen Personal, sondern Italien findet, egal wer da nun in den letzten Jahren regiert hat, nicht so richtig raus aus einem Teufelskreis aus mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, Kapitalflucht, Armut, Arbeitslosigkeit, hoher Staatsverschuldung.
Das sind ja die Eckdaten, die aus europäischer Perspektive erst mal von Bedeutung sind und wichtig sind, und alles andere folgt dann nach. Wie die Italiener damit am Ende umgehen, müssen sie selber entscheiden. Hier sehe ich keine proeuropäische Antwort, sondern eindeutig auch eine Botschaft an die EU, an Brüssel, wir wollen das mit euch so nicht mehr weitermachen.
May: Das heißt, was muss die EU tun?
Fritz-Vannahme: Die EU kann im Augenblick nur abwarten und darauf vertrauen, dass in diesem Gründungsmitglied der Europäischen Union die alte Tradition scheinbarer Disziplinlosigkeit am Ende doch irgendwo eine Regierung hervorbringt, die dann vielleicht nicht zu den ganz großen Reformen die Kraft findet, aber doch wesentlich vielleicht zumindest zum Management des Nötigen irgendwo greift. Italien ist ja entgegen dem, was manchmal von außen gesehen wird, gar nicht so reformunfähig und -unwillig die letzten Jahre gewesen. Da gab es eine Arbeitsmarktreform, der Bankensektor wurde reformiert, das Rentensystem wurde reformiert.
Nur all das reicht nicht, das greift nicht. Wir haben es nach wie vor mit ökonomischen und sozialen Eckdaten zu tun, die einfach erschreckend sind. Wenn jeder dritte Jugendliche ohne Arbeit bleibt und immer mehr gut ausgebildete Italiener ihr Glück jenseits der italienischen Grenzen suchen, dann ist das doch ein ganz deutlicher Notruf.
"Es gibt auf europäischer Ebene gewollte Schwächen"
May: Europa kann gar nichts tun. Zeigt das nicht auch das Problem der Europäischen Union, dass man im Prinzip hilflos nur auf Land für Land gucken kann, wie sich ein Land nach dem anderen von Europa abwendet?
Fritz-Vannahme: Es gibt auf europäischer Ebene ja gewollte Schwächen. Es gibt nicht so etwas wie ein europäisches Investitionsprogramm. Das ist in den letzten Jahren im Zuge der Sparpolitik ja immer wieder diskutiert worden und dann verworfen worden, weil nicht ganz zu Unrecht gesagt worden ist, solange die Länder, die Mitgliedsstaaten nicht zuhause ihre Probleme ein Stück weit gelöst haben, kann man ihnen von außen auch nur ganz beschränkt helfen.
Das ist, glaube ich, nirgendwo so deutlich wie in Italien, mit über 130 Prozent des Inlandsprodukts verschuldet und damit natürlich gefesselt. Welcher Staat, welche Regierung soll bei einer solchen Zinslast eigentlich noch ein Investitionsprogramm auflegen? Die Investitionen sind auch in Italien schon in den letzten Jahren, wenn überhaupt, noch aus der Privatwirtschaft gekommen. Die brauchen aber stabile und verlässliche Rahmenbedingungen. Die sind zum Teil, wie ich eben gesagt habe, verbessert worden, aber das scheint wohl immer noch nicht zu genügen, denn Italien leidet unter Kapitalflucht. Das Kapital geht aus dem Land.
May: Ist das nicht verwunderlich, dass man im Rest Europas scheinbar ruhig auf die Italiener schaut? Sie haben gerade gesagt, man ist dieses Chaos ja auch ein bisschen gewohnt bei den Italienern. Nur wenn ich an letztes Jahr denke, da war die ganze Zeit von Schicksalswahlen die Rede, zuerst in Frankreich, dann in Holland. Jetzt gar nicht. Jetzt guckt man da relativ gelassen drauf.
Fritz-Vannahme: Ja. Ich glaube, das ist vielleicht auch ein bisschen ein Fehler jetzt der europäischen Wahrnehmung. Die Zuspitzung, auch personelle Zuspitzung, hoch dramatisch in Frankreich, die war natürlich für Außenstehende leicht zu begreifen. Das war eine Duellsituation.
Hier haben wir es, wie auch Ihr Korrespondent ja eben beschrieben hat, mit einer langen Riege großer, zum Teil junger, zum Teil alter Männer zu tun, bei denen man nicht immer ganz genau weiß, ob sie morgen noch für das stehen, was sie gestern gesagt haben. Das ist natürlich in der Duellsituation in der Zuspitzung nicht halb so dramatisch wie das, was wir in Frankreich erlebt haben, oder selbst die Hängepartie, die wir in Deutschland in den letzten sechs Monaten erleben durften.
Dublin-Regeln und Lastenausgleich
Und dann kommt der zweite Faktor dazu, wie Sie ganz richtig sagen. Man hat sich da ein Stück weit dran gewöhnt. Ich glaube, das wird die 66. Regierung in 70 Jahren werden, die die nächste Regierung sein wird. Irgendwo reagiert man da schulterzuckend, aber das ist gefährlich, wie ich gesagt habe. Die wirtschaftlichen Eckdaten, auch die soziale Lage in Italien ist so, dass dieser Wutschrei, dieser Notruf der italienischen Wähler auch außerhalb von Italien gehört werden sollte.
May: Herr Fritz-Vannahme, die wirtschaftliche Lage ist immer das eine. Was sich aber durch jede europäische Wahl zieht, wie ja auch schon in Deutschland, war jetzt auch für die Italiener das beherrschende Thema: die EU-Flüchtlingspolitik. Welche Konsequenz muss Europa ziehen?
Fritz-Vannahme: Erst mal muss Europa mit den Italienern, nicht nur mit den Italienern, ich würde auch die Griechen hier nennen, auf eine ganz andere Form Solidarität beweisen, als es das in der Vergangenheit getan hat. Ich denke da jetzt nicht sofort wieder an die Osteuropäer. Es gibt da in der Vergangenheit auch die eine oder andere Haltung, die in Berlin, in Brüssel, in Paris zu spüren war, wo man die Italiener ein Stück weit einfach auch ein Stück weit alleine gelassen hat.
May: Das heißt, man muss de facto die Dublin-Regeln ändern?
Fritz-Vannahme: Ja. Ich glaube, man muss in diese Diskussion reingehen. Und wenn man das nicht schnell genug tun kann, muss man einen sehr deutschen Begriff vielleicht einmal bemühen, nämlich Lastenausgleich. Da wo die Italiener Lasten für die Europäische Union tragen, muss man ihnen an anderer Stelle ein Stück weit entgegenkommen. Das wird gar nicht anders gehen.
Das gilt auch für Griechenland. Diese Länder sind ja am Ende ihrer Leistungsfähigkeit ein Stück weit auch angekommen, was die Aufnahmekapazität angeht, und wenn wir diese rassistischen Szenen aus dem Wahlkampf in Italien uns noch mal vor Augen führen, das ist ja so entsetzlich, dass man da sagen muss, man kann als Europäer da eigentlich nicht mehr weggucken und die Italiener sich selbst überlassen.
Folgt nach der Griechenland- die Italienrettung?
May: Herr Fritz-Vannahme, eine Frage habe ich noch. Das klingt ja sehr pragmatisch, sehr logisch. Nur wie soll man das in Deutschland vermitteln, wo man selbst kämpft mit der AfD um eine Flüchtlingspolitik, wo die Obergrenze hart verhandelt wird? Das wird ja in Deutschland schon allein relativ schwierig zu vermitteln sein, und an die Osteuropäer haben wir noch gar nicht gedacht.
Fritz-Vannahme: Ich fange jetzt erst mal an den Außengrenzen an. Die Außengrenzen sind bei uns schlecht gesichert und da würden Sie auch wahrscheinlich unter vielen Europaskeptikern durchaus Zustimmung erst mal finden. Die müssen besser gesichert werden.
May: Also keinen mehr reinlassen de facto?
Fritz-Vannahme: Ja, keinen reinlassen, erst mal kontrolliert aufnehmen und vor allem auch kontrolliert wieder zurückschicken, da wo kein legitimer Fluchtgrund mehr vorliegt, wo wir im Grunde genommen mit Wirtschaftsmigration zu tun haben, für die andere Kriterien gelten müssen. Ich glaube, da muss die Europäische Union insgesamt ein Stück weit ehrlicher werden. Aber wie gesagt, der Begriff der Solidarität ist nicht einfach einer, dass man ein Land sich selber überlassen kann.
Deutschland mahnt ja gegenüber anderen Partnern für sich selbst auch Solidarität an. Warum sind wir nicht bereit gewesen, muss man sagen, schon in der früheren Vergangenheit auch auf die Italiener einen Schritt zuzumachen und zu sagen, wir sehen, das ist eine, von Dublin nie vorgesehene Situation. Dublin ist da vielleicht nicht mehr das richtige Instrument. Wir improvisieren jetzt ein Stück weit und helfen euch aber auf jeden Fall, wir lassen euch damit nicht alleine.
May: Kommt irgendwann der Moment, in dem wir nicht mehr über die Griechenland-Rettung, sondern über die Italien-Rettung debattieren müssen?
Fritz-Vannahme: Ich glaube, das läuft durchaus darauf zu, wenn Sie das Ganze nicht nur wirtschaftlich fassen, wenn Sie wirklich dieses Moment von Migration, von Kapitalflucht, von Menschenflucht aus Italien heraus nehmen. Ich meine, wenn in Italien eine ganze junge Generation verloren geht, die im eigenen Land überhaupt keine Zukunft mehr sieht, dann ist das dramatisch.
Die Situation ist brenzlig und man muss mehr tun
May: Und das heißt? Was passiert dann?
Fritz-Vannahme: Ja gut, das müssen wir abwarten. Ich bin da nicht derjenige, der gerne unkt. Es reicht mir ja, dass ich auf den Umstand hinweisen kann und muss, dass die Situation brenzlig geworden ist und dass man mehr tun muss, als in der Vergangenheit getan worden ist, und dass man vielleicht auch mal ein Stück weit über seinen Schatten springt und an der einen oder anderen Stelle sagt, da sind vielleicht die Rezepturen der Vergangenheit nicht mehr ausreichend und wir müssen uns was Neues einfallen lassen.
May: Das heißt, das Ende der Austeritätspolitik?
Fritz-Vannahme: Ich würde das so nicht formulieren. Ich glaube, die Italiener haben schon begriffen, dass sie da, wo sie ran müssen, bei ihrer eigenen Wirtschaft auch ran sollten und dass ihnen dabei keiner helfen kann. Aber ich denke, wie ich vorhin gesagt habe, da wo ein Lastenausgleich vielleicht gerechtfertigt ist, wie beispielsweise bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer, dass man dort auch ernsthaft mit den Italienern darüber redet, was man noch über das Bestehende hinaus tun kann.
May: Nach den Parlamentswahlen ohne klare Mehrheiten steht nicht nur Italien vor unruhigen Zeiten, sondern auch Europa. Das ist, glaube ich, ganz deutlich geworden. Einschätzungen waren das von Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Herr Fritz-Vannahme, vielen Dank für das Gespräch.
Fritz-Vannahme: Gerne geschehen!
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