Wahlkampf in Teheran. Gut 3.500 Menschen sind in die Hejāb-Sporthalle im Westen der iranischen Hauptstadt gekommen.
"Einheit, Einheit für die Wahl in den Sieg."
Einheit, fordern sie, Einheit für den Sieg bei den anstehenden Wahlen. Reformorientierte Kandidatinnen und Kandidaten stellen sich vor.
Wir sind nicht zu verdrängen, beschwört Mohammed Reza Aref seine Anhänger.
"Dass wir verdrängt werden könnten, entspringt nur dem Wunschdenken derer, an deren Taten wir heute zu knabbern haben."
Mohammed Reza Aref ist der Spitzenkandidat der Reformer in Teheran. Der 64-jährige promovierte Elektroingenieur führt eine 30-köpfige Liste an.
"Der Schlüssel zum Erfolg in der aktuellen Situation ist Ruhe im Land. Ich bitte euch inständig, diese Ruhe bei allen Veranstaltungen einzuhalten."
Ruhe als erste Bürgerpflicht, um die Herrschenden nicht zu ärgern. Diese rufen zur regen Beteiligung am Urnengang auf.
Die anstehenden Wahlen seien ein Beweis für die Wachsamkeit der Nation, ein Beweis für die Verteidigung des politischen Systems der Islamischen Republik, erklärt Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei.
"Deswegen rufe ich das gesamte iranische Volk auf, seine Meinung zu äußern, und an diesen Wahlen teilzunehmen."
Rund 55 Millionen Wahlberechtigte sollen 290 Abgeordnete wählen. Eine hohe Wahlbeteiligung würde von den Herrschenden als Bestätigung ihrer Regentschaft angesehen.
Auch die Gegner der geltenden Ordnung werden vom Obersten Führer Ali Khamenei zum Urnengang aufgefordert. Dann allerdings stellt er klar:
"Das heißt aber nicht, dass sie jemanden ins Parlament schicken können, der das gesamte System gar nicht akzeptiert. Nirgendwo auf der Welt wird das erlaubt. Das ergibt doch gar keinen Sinn."
Welche Wahl haben die Wähler?
Wozu wählen gehen, ist die am häufigsten gestellte Frage dieser Tage im Iran. Welche Wahl haben die Wähler eigentlich? Auf jeden Fall gebe es für die Bürger keinen besseren Weg Einfluss auf die Politik zu nehmen, stellt Saiid Pourazizi fest, der Chefredakteur der derzeit verbotenen Reform-Zeitung "Bahār".
"Sie sehen aufgrund ihrer Erfahrung der vergangenen 37 Jahre, dass sie keine andere Möglichkeit haben Einfluss zu nehmen, außer durch diese Wahlen. Die Bürger zu den Urnen zu bewegen, ist immer eine Herausforderung, vor allem für Liberale und Reformer."
Das gegenwärtige Parlament wird von Konservativen und Hardlinern beherrscht, die häufig als Fundamentalopposition gegen die Regierung von Hassan Rohani auftreten. Der 67-jährige Geistliche ist seit August 2013 Präsident Irans.
"Alle müssen die Möglichkeit bekommen, ihre Kandidaten auf den Listen der zu Wählenden zu finden."
Viele Kandidaten werden auf den Listen nicht zu finden sein. Von rund 12.000 Anwärtern hat der Wächterrat knapp 3.500 zugelassen. Von gut 3.000 Reform orientierten Kandidaten dürfen landesweit gerade einmal 70 antreten. Präsident Rohani muss befürchten, dass auch das nächste Parlament von Gegnern seiner Regierungspolitik beherrscht wird. Deswegen fragt er:
"Wenn eine bestimmte Fraktion im Parlament vertreten sein darf und eine andere nicht, wozu dann die Wahlen?"
Hassan Rohani ist ein Mann des Systems. Seit der Revolution vor 37 Jahren hatte er viele wichtige Ämter in der Islamischen Republik inne. Er will keine Systemänderung. Aber er will eine reformierte Republik, die den massiven wirtschaftlichen und sozialen Problemen Irans besser begegnen kann. Mit einem weiterhin von Erzkonservativen und Hardlinern dominierten Parlament würde Rohani auch künftig nicht viel Staat machen können. Deshalb fordert er:
"Es heißt 'Haus des Volkes' und nicht 'Haus einer einzigen Fraktion'. Es ist das Haus der Nation!"
In dieses Haus möchte Fatimeh Hosseini einziehen. Die 30-jährige Doktorandin im Fach Finanzmanagement ist eine der wenigen Kandidatinnen, die sich um einen Parlamentssitz bewerben dürfen. Die zierliche Frau hat klare Vorstellungen davon, wofür sie in der Volksvertretung streiten möchte.
"Als Angehörige der jungen Generation und als Studentin, bin ich für die Abschaffung jeglicher Form von Geschlechterdiskriminierung. Ich bin für eine nachhaltige Beschäftigungspolitik für junge Menschen, für die Unabhängigkeit von Universitäten und für die Sicherheit von Studierenden. Ich werde eine Generation repräsentieren, der ein freudvolles und hoffnungsvolles Leben zusteht."
"Mein Schulkamerad" - 1980 hat Mansur Tehrani das Lied geschrieben. 1996 während mehrtägiger Studentenunruhen wurde es zur Hymne all jener, die die geltenden Verhältnisse reformieren, modernisieren oder irgendwie verändern wollen. Bei der Wahlveranstaltung der Teheraner Reformer in der Hejāb-Sporthalle wird es immer wieder gesungen.
Die meisten Iraner sind jünger als die Revolution
Mehr als 70 Prozent der bald 80 Millionen Iraner sind jünger als die Revolution. Sie sind in der Islamischen Republik aufgewachsen und haben kein anderes Herrschaftssystem erlebt. Aber sie sind trotz Filter, Sperren und Störsender via Internet und Satellitenfernsehen über die Verhältnisse in der Welt im Bilde. Sie wissen, dass es ein Leben jenseits der Islamischen Republik gibt. Sie wissen, dass in vielen Ländern Bürger mehr Rechte haben, Medien freier arbeiten können, Menschenrechte eine andere Beachtung finden.
"Freiheit für die politischen Gefangenen", lautet eine der Forderungen der vielen jungen Leute in der Hejāb-Sporthalle im Westen Teherans. Wann immer diese Parole gerufen wird, drehen die Veranstalter die Musik lauter. Wenige Tage vor der Wahl wollen sie niemandem einen Vorwand liefern, die Liste der Reformer noch vom Urnengang auszuschließen. Es seien insgesamt nur wenige Reformkandidaten, räumt Saiid Pourazizi ein. Aber die folgten einem Plan.
"Wenn die 70 Kandidaten der Reformer gewählt werden sollten, wird das dazu führen, dass viele namhafte Gegner der Regierung nicht mehr ins Parlament kommen. Das wären vor allem Abgeordnete, die gegen die Wiener Vereinbarung waren."
Die Vereinbarung von Wien, das Atomabkommen zwischen dem Iran und den sogenannten 5+1-Staaten, hat zur Aufhebung von zahlreichen gegen den Iran verhängten Sanktionen geführt. Beim anstehenden Urnengang möchte die reformorientierte Regierung Rohani die Dividende für diesen diplomatischen Erfolg einfahren, erklärt Saiid Pourazizi.
"Die Radikalen haben etwa 120 Sitze im Parlament. Nach der Wahl könnte diese Zahl halbiert werden. Im Parlament könnten mehr Moderate vertreten sein, die die Wirtschaftspolitik der Regierung befürworten wie zum Beispiel die Politik der offenen Tür."
Die Regierung Rohani will – gegen den Widerstand der Hardliner - ausländische Investoren ins Land locken und sogar Auslandskredite in Höhe von 50 Milliarden Dollar aufnehmen. Durch den Atomdeal wird im Ausland eingefrorenes iranisches Kapital frei. Doch das wird nicht reichen. Der Iran braucht dringend Geld. Allein im Öl- und Gassektor besteht ein Investitionsbedarf von gut 150 Milliarden Dollar. Das Land besitzt die viertgrößten bekannten Öl- und die größten Gasreserven der Welt. Der Iran könnte bei umsichtiger und kluger Politik binnen weniger Jahre zum wirtschaftlichen Powerhaus am Persischen Golf werden, meint Abdolvahab Sahlabādadi, der Chef der Industrie- und Handelskammer der zentraliranischen Stadt Isfahan. Die Einigung in der Atomfrage habe sein Land aus der Isolation geholt.
"Die ganze Industrie hat darauf gewartet, wir haben bis dahin viel Schaden erlitten. Unser größtes Problem war, dass wir nach 60, 70 Jahren Bankenwesen wieder zu Wechselstuben greifen, Geld in Säcken und Koffern horten und auf diese Weise transportieren mussten. Diese Unsicherheiten waren sehr schlecht für uns."
Ausländische Wirtschaftsdelegationen geben sich im Tourismus- und Industriezentrum Isfahan die Türklinke in die Hand.
"Es kommen Vertreter aus Ländern, die für uns Hoffnung darstellen. Der österreichische Präsident war hier. Delegationen aus Europa, aus Deutschland, Frankreich, Italien, waren hier und haben sich ein Bild gemacht."
Von einer bevorstehenden Bonanza in der Islamischen Republik könne keine Rede sein, von Goldgräberstimmung im Iran sprächen nur jene, die von den immensen inneren Problemen des Landes keine Ahnung hätten, konstatiert der Politikwissenschaftler Sadegh Zibakalam von der Uni Teheran.
"Das größte Problem hier besteht darin, dass die iranische Wirtschaft eine korrupte staatlich gelenkte Wirtschaft ist. Es hängt nicht davon ab, wer grade regiert, denn er kann im Grunde nichts ändern. Die gesamte Wirtschaft wird vom Herrschaftssystem gelenkt."
Geflecht aus Macht-, Einfluss- und Interessengruppen
Das Herrschaftssystem im Iran ist ein von außen undurchdringliches Geflecht aus Macht-, Einfluss- und Interessengruppen.
"Alle große Industrieunternehmen oder die großen Handelsfirmen gehören dem Staat oder den halbstaatlichen Institutionen, wie den Revolutionswächtern, den Bassidji genannten Volksmilizen und vielen ähnlichen Organen. Das ist ein grundsätzliches Problem."
Dieses grundsätzliche Problem hat Präsident Rohani schon oft angesprochen. Aber alle Versuche, die Wirtschaft zu reformieren, bestehende Privilegien einflussreicher Gruppen abzubauen, den privaten Sektor zu stärken, und mehr Wettbewerb zu ermöglichen, sind am Widerstand konservativer Opponenten gescheitert. Die hartnäckige Gegenwehr fußt dabei nicht auf ideologischer Treue zu den Zielen der Revolution. Es geht um sehr weltliche Dinge: Einfluss, Geld, Macht.
Pausenlos wirbt das staatliche Fernsehen Irans für eine hohe Wahlbeteiligung. Und immer wieder ist Ayatollah Khamenei zu hören. Der Feind wolle die Wahl beeinflussen und den Urnengang stören, warnt er. Das Volk müsse auf der Hut sein.
"Der Feind strebt danach, die Islamische Republik der religiösen Demokratie zu berauben – also dieses einmaligen, originellen Phänomens, das so anziehend für islamische Nationen ist."
Der Feind wird selten benannt. Meistens sind die USA gemeint. In den Tagen vor der Wahl ist die britische BBC der Feind. Angeblich soll sie eine Wahlempfehlung ausgesprochen haben. Die Herrschaften - wie Irans Mächtige gerne von der Bevölkerung genannt werden – wissen, dass viele Menschen trotz der allgegenwärtigen Störsender die Satellitenprogramme des "Feindes" anschauen. Aber der oberste Führer gibt sich milde.
"Jene, die im Land mit dem Feind übereinstimmen, machen das nicht bewusst. Ich werfe ihnen keinen Verrat vor. Es ist ihnen nicht bewusst. Das ist die Wahrheit."
Neben der Parlamentswahl steht auch die Wahl des Expertenrats an. 88 Männer – Frauen hat der Wächterrat nicht zugelassen - sollen vom Wahlvolk bestimmt werden. Der Expertenrat setzt sich aus Klerikern zusammen. Ihre Aufgabe bestehe darin, den Obersten Rechtsgelehrten und Revolutionsführer zu wählen und dessen Arbeit zu kontrollieren, erklärt Saiid Pourazizi.
"Die Aufstellung der Kandidaten für den Expertenrat ist schlimmer als die für das Parlament und grenzt ans Lächerliche. In manchen Provinzen gibt es nur einen Kandidaten. Das heißt, dort findet überhaupt keine Wahl statt. Die Bürger dürfen nur einen Namen eintragen."
Ein geschlossenes System
Zum Verständnis: Der oberste Rechtsgelehrte benennt sechs Kleriker für den 12-köpfigen Wächterrat. Das Parlament bestimmt sechs Juristen für den Wächterrat. Der Wächterrat entscheidet darüber, wer Parlamentsabgeordneter werden darf. Denn selbst wenn jemand vom Volk ins Parlament gewählt wurde, liegt die letzte Entscheidung beim Wächterrat. Der Wächterrat bestimmt die Kandidaten für den Expertenrat und segnet deren Wahl ab. Der Expertenrat wiederrum wählt den Obersten Rechtsgelehrten. Und dieser bestimmt maßgeblich die Zusammensetzung des Wächterrats. Es ist ein in sich geschlossenes System, in das Andersdenkende kaum eindringen können. Und deshalb stellt sich für viele Iraner die konkrete Frage: Warum wählen gehen?
Viele seien der Meinung, Wählen bringe nichts, erklärt die 19-jährige Studentin Fatima.
"Wir haben die negativen Konsequenzen von Nichtwählen gesehen. Durch die Wahl von Hassan Rohani haben wir aber auch gesehen, welche positiven Auswirkungen die Teilnahme an Wahlen haben kann."
Viele Menschen gingen aus den falschen Gründen zur Wahl, findet der 21-jährige Armiin.
"Präsident Rohani zum Beispiel spricht von mehr Freiheit, und die Leute gehen wählen. Aber natürlich kann er seine Versprechen nicht halten, weil es zu viele Hindernisse gibt."
Die 24-jährige Textilarbeiterin Fatemeh wird nicht wählen gehen. Sie glaubt nicht daran, dass sich die Verhältnisse im Iran ändern werden.
"Nein, das Land ist viel zu schrecklich geworden. Und sollte sich je etwas bessern, dann wird das sehr lange dauern. Es ist einfach zu zerstört, um schnell wieder aufgebaut werden zu können."
Mohammad, ein 25-jähriger Student der Bioelektrik, hofft auf eine bessere Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament.
"Wenn sie mehr auf einer Linie wären, dann könnte die Regierung besser arbeiten. So wie sie es ja auch geschafft hat die Atomfrage zu lösen."
Der Iran hat die Wahl. Stagnation oder Fortschritt, fragt das kleingehaltene Lager der Reformer. Sicherheit oder Konterrevolution, halten mächtige Hardliner und Konservative dem entgegen. Der Iran mutet heute in der unruhigsten Region dieser Welt wie eine Insel der Stabilität an. Doch es gärt in diesem Land. Bald acht Millionen Arbeitslose, steigende Scheidungsraten, Millionen von Drogenabhängigen, wachsende soziale Unterschiede und die Beschneidung persönlicher Freiheiten sind Symptome und Gründe für wachsende Unzufriedenheit. Die verantwortlichen Herrscher wissen das, doch sie bieten höchst unterschiedliche Rezepte. Auch die Konservativen und Hardliner wissen, dass der Druck im Kessel steigt. Für sie ist "der Feind" daran schuld. Ihr Rezept lautet: Deckel noch fester drauf. Das Rezept von Präsident Rohani lautet: durch Reformen kontrolliert Druck ablassen und den Kessel nicht weiter anheizen. Der Präsident ist nur eines von vielen Rädern im komplizierten inneriranischen Machtgefüge. Eindringlich hat er unlängst vor den Folgen repressiven Handelns in seinem Land gewarnt.
"Wenn die Macht in einem Land nicht kritisiert werden darf, mündet das in Verfall und Diktatur."