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Wahlen in Frankreich
"Es gibt eine sehr große Tendenz zur Erneuerung"

Der französische Politologe Daniel Vernet sieht zwei mögliche Szenarien für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen: Einerseits gebe es den Wunsch nach Erneuerung, was für die Rechtsextreme Le Pen oder den Sozialliberalen Macron spreche. Es könne aber auch sein, dass Frankreich mit einem Sieg des Konservativen Fillon zur Normalität zurückkehre, sagte Vernet im DLF.

Daniel Vernet im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Wahlkampfplakate der elf franzöischen Präsidentschaftskantidaten im elsässischen Mulhouse.
    Der Journalist Daniel Vernet glaubt, dass die Rechtsextreme Marine Le Pen bei der Wahl einen Vorteil hat, weil sie noch keine Regierungsverantwortung innehatte. (imago/Winfried Rothermel)
    Frankreich habe einen Wahlkampf mit vielen Überraschungen erlebt, sagte Daniel Vernet, der ehemalige Le Monde-Chefredakteur, im Deutschlandfunk. Die Repräsentanten der beiden größten Parteien müssten damit rechnen, es nicht in die zweite Runde der Wahlen zu schaffen. Zudem hätten die beiden Favoriten, Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National und der Sozialliberale Emmanuel Macron, keine Vorwahlen hinter sich - anders als etwa der Konservative Francois Fillon oder Benoît Hamon von den regierenden Sozialisten.
    Die Rechtsextreme Le Pen profitiert aus Vernets Sicht davon, dass sie noch keine Regierungsverantwortung innehatte. Damit habe sie einen Vorteil gegenüber ihrem Kontrahenten Macron, der bereits für die Regierung des amtierenden Präsidenten Francois Hollande gearbeitet habe. Macron war von August 2014 bis August vergangenen Jahres französischer Wirtschaftsminister.
    Le Pen so gut wie sicher in der Stichwahl
    Der erste Wahlgang am morgigen Sonntag könne zwei verschiedene Situationen bringen, prognostizierte Vernet: Auf der einen Seite traut er neuen politischen Kräften wie der Rechtsextremen Le Pen oder dem Sozialliberalen Macron den Sieg zu. Es sei aber auch eine Situation mit normalen Verhältnissen denkbar, in der Vertreter der moderaten Rechtsparteien gewinnen.
    Der Kandidat der Linken, Jean-Luc Mélenchon, werde zwar etwas überschätzt, habe aber einen guten Wahlkampf gemacht. Auch er habe das Zeug dazu, es in die Stichwahl zu schaffen. Da es schon jetzt so gut wie sicher sei, dass Marine Le Pen in die Stichwahl komme, sei der erste Wahlkampf deutlich wichtiger als früher. Vernet sagte, es wäre eine gute Nachricht, wenn sich die Mehrheit der Franzosen mit ihrem Votum für eine weiterhin offene Gesellschaft entscheide.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die Franzosen haben die Wahl: 47 Millionen Wahlberechtigte können abstimmen, wer soll Präsident respektive Präsidentin werden? In den Überseegebieten, haben diese Wahlen schon begonnen, im Kernland in Frankreich wird das morgen der Fall sein.
    Es sind besondere Wahlen. Darüber wollen wir jetzt reden. Aber bevor wir reden, wollen wir einen Überblick bekommen, wer sind die Kandidaten? Wahlkampf im Zeichen des Terrors. Über all das wollen wir reden mit Daniel Vernet, dem ehemaligen Chefredakteur von "Le Monde", den ich jetzt am Telefon begrüße. Bonjour, Monsieur!
    Daniel Vernet: Bonjour, guten Morgen!
    Folgen des Anschlags auf den Wahlausgang
    Zurheide: Die Kurzfassung lautet ja hier, das haben wir auch gerade bei der Kollegin gehört: Der Terror hilft vor allen Dingen Madame Le Pen. Ist das eine zutreffende Beschreibung oder sagen Sie, na ja, das können wir etwas differenzierter sehen?
    Vernet: Ich sehe das ein bisschen differenzierter, weil man nicht genau weiß, welche Folge dieser Anschlag haben könnte für die Wahlen. Wir haben eine solche Situation schon erlebt. In 2002 gab es keinen Terroranschlag, aber einen Anschlag auf einen alten Mann, über den in den Medien sehr viel berichtet wurde. Damals hatte Jean-Marie Le Pen, Marine Le Pens Vater, davon profitiert, und er erreichte die zweite Stichwahl.
    Anders gesehen, 2015 nach den große Anschlägen in Paris mit 200 Toten gab es die Regionalwahlen. Und bei den Regionalwahlen erreichte Marine Le Pen und ihre Partei, der Front National, ein sehr gutes Ergebnis, aber nicht besser als vor den Anschlägen. So ist es sehr schwierig zu sagen, was die Folge, die Konsequenz dieses Anschlags sein könnte.
    Zurheide: Dann schieben wir das im Moment ein Stück an die Seite und gucken auf den Wahlkampf insgesamt. Es ist ja insofern ein ungewöhnlicher Wahlkampf, als quasi die beiden Vertreter der, nennen wir sie auch etablierten Parteien, der Sozialisten auf der einen Seite, der Republikaner auf der anderen Seite, sie liegen auf Platz drei, vier oder fünf.
    Das ist ungewöhnlich, dass mit Le Pen und Macron zwei Menschen vorn liegen, die nicht zum Stamm der französischen Demokratie gehören. Was haben Sie da beobachtet.
    Wahlkampf mit vielen Überraschungen
    Vernet: Das war ein Wahlkampf mit vielen Überraschungen. Und Sie haben recht, die Repräsentanten der zwei großen Regierungsparteien haben vielleicht keine Chance, in die zweite Runde zu kommen, und die zwei Favoriten, Emmanuel Macron und Marine Le Pen haben keine Vorwahlen hinter sich, also im Gegensatz zum Beispiel zu François Fillon, der ja der Vertreter der Republikaner oder Benoit Hamon, der Vertreter der Sozialisten.
    Aber man kann die beiden, Macron und Le Pen, nicht ganz miteinander vergleichen, weil Macron auch eine Regierungsverantwortung hatte in den Regierungen von François Hollande, während Marine Le Pen und ihre Partei überhaupt nie in der Regierung waren. Und das ist für Marine Le Pen selbstverständlich ein Vorteil in einer Situation, wo die Politiker, die schon Erfahrung haben, durch diesen Wahlkampf ausgeschieden sind.
    "Eine sehr große Tendenz nach Erneuerung"
    Zurheide: Es gibt eine große Sehnsucht nach Wandel, das ist zumindest meine Beobachtung, vielleicht auch für ein Ende der sogenannten Fünften Republik. Ist das eine zutreffende Beobachtung von außen?
    Vernet: Es gibt eine sehr große Tendenz nach Erneuerung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite könnte es sehr gut sein, dass auch François Fillon als Vertreter der Republikaner, als Vertreter des Mitte-rechts-Lagers auch Präsident Frankreichs wird.
    Es wäre sozusagen die Rückkehr der Normalität. Wir können morgen zwei ganz verschiedene Situationen haben: Auf der einen Seite eine ganz neue Kombination von Kräften mit Marine Le Pen, also der Rechtsextremisten, und Emmanuel Macron als Vertreter einer Form von Liberalismus, die in Frankreich nie gewonnen hat. Oder eine Situation mit in Anführungszeichen ganz normalen Verhältnissen, mit dem Vertreter der moderaten Rechtsparteien.
    Chancen der Linken gegen den Front National
    Zurheide: Sie haben jetzt noch nicht über Herrn Mélenchon gesprochen. Das ist ja der linke Vertreter, der weit vor dem Vertreter der sozialistischen Partei liegt, wo viele sagen, er hat gerade in den letzten Tagen oder in den letzten zwei Wochen in den Umfragen deutlich aufgeholt. Das ist ja auch eines der Szenarien. Oder halten Sie das für eher überschätzt?
    Vernet: Ich glaube, er ist ein bisschen überschätzt. Aber es stimmt, dass er in den letzten Wochen und Tagen einen sehr guten Wahlkampf gemacht hat. Und er ist auch in dieser Gruppe von vier Favoriten oder vier Kandidaten gekommen, die auch im zweiten Wahlgang präsent sein könnten. Und es könnte sein, dass er also gegen Marine Le Pen gewinnen könnte.
    Das ist auch das Problem dieser Wahl, in dieser ersten Runde. Normalerweise können die Wähler die Wahl treffen und den Kandidaten wählen, den sie am liebsten haben. Und im zweiten Wahlgang wählen sie den Präsidenten sozusagen.
    Aber in diesem Jahr mit der Präsenz von Marine Le Pen im zweiten Wahlgang – das steht fast fest – ist dieser erste Wahlgang wichtiger als früher. Das heißt, dass die Nummer zwei von morgen Abend der nächste Präsident Frankreichs sein.
    Franzosen sorgen sich über Wirtschaft und soziale Lage
    Zurheide: Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie die Stimmung der Franzosen ist jenseits jetzt des Terrors. Oder überlagert der Terror alles? Ich will auch noch mal auf die wirtschaftliche Situation zu sprechen kommen.
    Mich erinnert Frankreich ein bisschen vielleicht an Deutschland vor fast 15 Jahren, wo Deutschland der kranke Mann Europas war. Wir alle wissen, wie sich das entwickelt hat. In Frankreich scheint mir im Moment die Stimmung fast noch schlechter als die Lage zu sein. Ist das eine Beobachtung, die Sie auch machen?
    Vernet: Ja, Sie haben sicher recht, aber die Sicherheitsbesorgnisse spielen in diesen Tagen, in den letzten Tagen des Wahlkampfes eine sehr große Rolle. Aber die Sorge der Franzosen liegt woanders: Bei der Wirtschaft, bei der sozialen Situation, und es gibt widersprüchliche Tendenzen.
    Auf der einen Seite glaube ich, ist die Mehrheit der Franzosen davon überzeugt, dass es nicht so lange dauern könnte. Aber auf der anderen Seite ist man immer noch sehr vorsichtig mit den Reformen, wie sie zum Beispiel in Deutschland getroffen worden sind, Reformen, die diese Situation vielleicht verbessern könnten.
    Gute Chancen auf eine "offene Gesellschaft"
    Zurheide: Und was hat sozusagen die kulturelle Identität, wie wichtig ist diese Frage? Jeder dritte Franzose hat seine Wurzeln von außerhalb Frankreichs. Und da sind wir bei den Fragen, wie geht man mit dem Islam um. Sehen Sie da einen Hoffnungsschimmer, dass man aus dieser Konfrontationssituation heraus kommt, die im Moment ja die politische Debatte überlagert?
    Vernet: Ja, es spielt sicher eine Rolle, aber vielleicht nicht eine so große Rolle wie zum Beispiel Marine Le Pen und einigermaßen François Fillon auf der rechten Seite.
    Ich würde eher meinen, dass die Konfrontation in den nächsten Tagen vielleicht zwischen Marine Le Pen und Emmanuel Macron auf diese Frage kommen könnte zwischen der multikulturellen Gesellschaft, Globalisierung, Europa auf der einen Seite, und geschlossener Gesellschaft, Protektionismus, Identität und so weiter auf der anderen Seite, auf der Seite von Marine Le Pen.
    Und die gute Nachricht wäre, dass es eine relativ gute Chance gibt, dass die Mehrheit auch für die offene Gesellschaft sich entscheiden könnte.
    Zurheide: Dann wollen wir hoffen, dass Sie in dem Punkt recht behalten. Für Europa wäre das sicherlich wichtig, aber die Debatte ist auch wichtig. Daniel Vernet war das, der ehemalige Chefredakteur von "Le Monde". Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch heute Morgen. Danke schön und alles Gute!
    Vernet: Wiedersehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.