"Ich bin Hong Jian-yi, Kandidat Nummer 13 für den Stadtrat. Nummer 13. Bitte geben Sie mir ihre Stimme. Hong Jian-yi. Danke."
So klingt Wahlkampf in den Straßen von Taipeh. Mit einem riesigen Megafon auf dem Dach fährt ein grün-weißer Minibus durch eng bebaute Wohnviertel, der Appell an die Wähler läuft als Endlosschleife. Landauf, landab in ganz Taiwan trommeln fast 20.000 Kandidaten um Stimmen. Sie wollen Bürgermeister werden, Stadtrat, Gemeindevertreter. Wahlkampf-Erfahrung haben die Taiwaner. Schon seit Mitte der 90er-Jahre ist ihr Land die erste und einzige echte Demokratie der chinesischsprachigen Welt. Und jetzt drängt plötzlich Taiwans junge Generation in den Blickpunkt. Lautstark, selbstbewusst und engagiert – so kannte man Wählerinnen wie Iris Chiu, 25 Jahre, bislang nicht.
"Früher waren Wahlen für die jüngeren Leute uninteressant. Aber dieses Mal hören wir genau hin, was die Politiker sagen - über unsere Gesellschaft, und was sie vorhaben, falls sie gewählt werden. Wir übernehmen nicht mehr einfach, was die Medien uns vorgeben, sondern wir fällen unsere eigenen Urteile über die Kandidaten."
Das politische Erwachen der jungen Generation hat einen Namen: die Sonnenblumen-Bewegung. Im Frühjahr hatten Studenten im Handstreich Taiwans Parlament besetzt. Sie forderten mehr Transparenz und demokratische Mitsprache, nachdem die Regierung versucht hatte, ein folgenreiches Handelsabkommen mit China durchs Parlament zu peitschen. Fast vier Wochen lang harrten die Studenten im Plenarsaal aus, brachten hunderttausende Unterstützer auf die Straße und rüttelten das Land auf. Die junge Generation lässt sich nicht mehr damit abspeisen, was die etablierte Politik ihnen vorsetzt, sagt Eric Yu. Er ist Dozent an Taiwans nationaler Politikuniversität.
"Die Bedeutung der Sonnenblumen-Bewegung war, dass junge Leute gemerkt haben: Wenn sie etwas ändern wollen, dann können sie das auch - wenn sie nur gut genug organisiert sind. Sie wissen nun, wie sie Graswurzel-Bewegungen starten können, ihre Ziele in die Öffentlichkeit bringen, und die Unterstützung der Bevölkerung finden."
Ungleichheit in Taiwan
Das Feindbild dieser neuen Bewegungen ist eine Allianz aus Politikern, Investoren und Konzernen, die sich auf Kosten der breiten Bevölkerung und der Umwelt bereichern und dafür sorgen, dass die Ungleichheit in Taiwan zunimmt.
Kundgebung vor dem teuersten Luxuswohnkomplex von Taipeh. Tausende campieren auf der Straße, aus Protest dagegen, dass Normalverdiener sich in der Hauptstadt keine Wohnung mehr leisten können. Wieder sind besonders viele junge Leute dabei. Iris Chiu:
"Unsere Generation fragt jetzt, was ist eigentlich passiert, warum haben die Politiker unsere Gesellschaft so ruiniert. Wenn wir uns die sozialen Probleme genauer ansehen, finden wir viele Ungerechtigkeiten, und das macht uns wütend. Bei den Wahlen wollen wir mit unserer Stimme dazu beitragen, dass sich was ändert."
Ein echtes Wahlrecht wie in Taiwan fordern Demonstranten auch keine zwei Flugstunden entfernt, in Hongkong. Dort sind es die jungen Demonstranten der Regenschirm-Protestbewegung, die vor über einem Monat Straßen und Plätze besetzten. Und zwar nach dem Vorbild der Sonnenblumen in Taiwan, sagt Politikwissenschaftler Eric Yu.
"Es gab in Hongkong schon öfter riesige Demonstrationen, aber immer nur an einem Tag, nie über einen längeren Zeitraum. Dieses Mal haben die Demonstranten sich von Taiwan abgeguckt, wie man einen langen Kampf austragen kann. Dazu braucht es viel Koordination und Organisation, und das haben sie von der Parlamentsbesetzung in Taiwan gelernt."
Reger Kontakt nach Hongkong
Nicht nur Aktivisten und Demonstranten aus Taiwan stehen in einem regen Kontakt mit Hongkong. Fast alle Taiwaner beobachten mit Sorge, was dort passiert. Denn eigentlich sollte die Stadt mal als Vorbild für Taiwan dienen, sich ebenfalls der Volksrepublik anzuschließen, unter dem Motto "Ein Land, zwei Systeme." Aber das kommt für Taiwanerinnen für die 30-jährige Aldora Cheng jetzt nicht mehr in Frage.
"Hongkong ist nun ein Teil Chinas, das lässt sich nicht ändern. Taiwan aber ist noch ein demokratisches Land, sozusagen die letzte Hoffnung der chinesischsprachigen Welt. Wir wollen unsere Demokratie unbedingt bewahren. Aber manche Politiker nutzen die wirtschaftliche Annäherung aus und ziehen Taiwan Schritt für Schritt in Richtung China."
Die Furcht vor dem Verlust der Freiheit. Noch ein Grund für viele Jüngere, sich politisch zu engagieren. In einer Meinungsumfrage stellt Eric Yu regelmäßig die Frage: Sehen Sie sich selbst als Taiwaner, als Chinese, oder beides? 70 Prozent sagen inzwischen: Nur als Taiwaner. Fast doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Chinas Regierung in Peking ist von dieser jungen Generation garantiert nicht begeistert.