Jochen Spengler: 16 Jahre lang wurde das Land mit den größten Ölreserven der Welt von Sozialisten regiert, lange Zeit von Hugo Chávez, der vor zwei Jahren verstorben ist. Nun steht Venezuela offenbar vor der Zeitenwende und vor dem Abschied vom Sozialismus-Experiment. Die Opposition konnte bei der gestrigen Wahl eine deutliche Mehrheit erzielen. Sie erhielt mindestens 99 Mandate. Die bislang regierenden Sozialisten kamen nur auf 46.
Am Telefon in Würzburg begrüße ich nun den Hochschullehrer und Lateinamerika-Experten Thomas Kestler. Guten Tag, Herr Kestler.
Thomas Kestler: Hallo, Herr Spengler.
Spengler: Zunächst einmal vielleicht kurz zur Bilanz der bisherigen Regierung. Das Land steht wirtschaftlich offenbar kurz vor dem Ruin. Es gibt die höchste Inflationsrate der Welt. Wie schafft man das überhaupt bei einem solchen Ölreichtum?
Kestler: Das ist eine gute Frage. Aber es war natürlich irgendwo absehbar, dass das nicht gut gehen könnte. Venezuela, muss man aber dazu sagen, schleppt schon seit Jahrzehnten strukturelle Defizite mit sich herum, seit den 70er-Jahren. Das Öl wurde ja immer als Fluch bezeichnet, völlig zurecht. Es hat sich immer wieder als Fluch herausgestellt. Es hat die Korruption gefördert, die Ineffizienz im Staatsapparat, die Währung war kontinuierlich überbewertet, die Produktivität war niedrig und unter Chávez hat sich das alles noch deutlich verschlimmert. Der Staatsapparat ist weiter aufgebläht worden, die Investitionsanreize sind vollständig verschwunden in diesem Land, alles wird mehr oder weniger vom Staat getragen.
"Maduro wird alles unternehmen, um das Wahlergebnis zu konterkarieren"
Spengler: Und jetzt hatten die Wähler offenbar die Nase voll von der Wirtschaftskrise, von der Mangelwirtschaft. Venezuela wollte ja offenbar nichts weniger sein als eine lokale Alternative zum neoliberalen Kapitalismus, also ein Reich der sozialen Gerechtigkeit. Bleibt von diesem Modell irgendetwas übrig jetzt nach der Wahl?
Kestler: So ein Modell hat es meiner Ansicht nach nie gegeben. Es war nie ein Modell. Es war immer reine Rhetorik. Das was Chávez gemacht hat, das war eigentlich eine Rückkehr zum Status quo ante, den es vor den 80er-Jahren in Lateinamerika gegeben hat, also der Versuch, über den Staat, über staatliche Ausgaben und Rohstoffe Umverteilung zu produzieren und die Wirtschaft am Laufen zu halten. Aber letztendlich hat das jeder Beobachter bereits Anfang der 2000er-Jahre, also sehr früh in Chávez Amtszeit gesehen, dass da sehr wenig Modellcharakter dahinter ist. Letztendlich lief alles auf die Frage hinaus, wie lange bleibt der Ölpreis hoch und wie lange kann sich Chávez das leisten. Das war nie ein Modell für Lateinamerika.
Spengler: Sein Nachfolger ist Nicolás Maduro, ebenfalls Sozialist. Er bleibt ja auch Präsident. Wird er denn jetzt die Wahl akzeptieren - das hat er zumindest so gesagt -, oder kann und wird er dafür sorgen, dass das sozialistische Experiment noch weitergeführt wird?
Kestler: Er hat es ja offiziell akzeptiert, aber das ist mehr oder weniger reine Rhetorik für das Publikum, vor allem für das internationale Publikum. Ich gehe mal sehr davon aus, dass er alles unternehmen wird, um dieses Wahlergebnis zu konterkarieren, indem er sich zunächst von der noch amtierenden Mehrheit im Parlament Dekretvollmachten ausstellen lässt und auf diese Weise das neu konstituierte Parlament bereits marginalisiert. Solche Dinge, solche Tricks sieht man seit Jahren und ich denke, dass es auch diesmal wieder darauf hinauslaufen wird.
Spengler: Kann das sein, dass dem Land dann ein Bürgerkrieg droht?
Kestler: Gewaltsame Episoden sind nicht auszuschließen. Chávez hat ja seine Anhänger bewaffnet. Er hat durch diese Radikalisierung und diese aggressive Rhetorik natürlich dazu beigetragen, dass die Konfrontation doch auch gewaltsame Züge angenommen hat. Von Bürgerkrieg würde ich nicht sprechen, aber es steht in der Tat zu befürchten, dass etwas Gewalt im Spiel sein wird in der Zukunft.
Kestler: Opposition wird Mühe haben, einheitliche Strategie zu verfolgen
Spengler: Kommen wir kurz auf den Wahlsieger zu sprechen, das Oppositionsbündnis. Da gehören ja Dutzende Parteien dazu, versammelt sich alles. Es ist unklar, ob die überhaupt an einem Strang ziehen, oder?
Kestler: Absolut richtig. Die haben in der Vergangenheit ihre größte Mühe gehabt, an einem Strang zu ziehen, und die internen Differenzen auch nur sehr mühsam jetzt kaschieren können. Und es ist in der Tat zu erwarten, dass diese Differenzen auch wieder stärker in den Vordergrund treten, wenn es darum gehen wird, jetzt im Parlament eine einheitliche Strategie zu verfolgen und auch das weitere Vorgehen, denn Maduro ist im Amt und daran kann man jetzt vorläufig nichts ändern. Das wird allerdings eine Zerreißprobe werden für dieses Bündnis.
Spengler: Was erwarten Sie dann am Ende von der neuen venezuelanischen Regierung? Erwarten Sie so eine Art Lähmung?
Kestler: Nun ja, die Regierung ist ja mehr oder weniger längst gelähmt. Die regiert ja nicht wirklich. Und auch in wirtschaftlicher Hinsicht verfügt sie über sehr wenige Handlungsspielräume. Ich erwarte jetzt keine weiteren Blockaden, denn das Parlament hat in der Vergangenheit auch schon eine sehr untergeordnete Rolle gespielt, und Maduro hat die Instrumente in der Hand, das Parlament immer an die Wand zu spielen, zu übergehen, zu marginalisieren. Ich glaube, die Opposition im Parlament wird jetzt weitgehend zahnlos bleiben, sofern sie nicht über die Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt, und im Moment sieht es danach aus.
Spengler: ... sagt Thomas Kestler, Lateinamerika-Experte an der Uni Würzburg. Danke, Herr Kestler.
Kestler: Ja, gerne!
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