Christine Heuer: Es wird noch schwierig für die Union, den mühsam gefundenen Kompromiss am Ende dann auch wirklich umzusetzen – und das nach einem Streit, der gut zwei Wochen lang die Republik wirklich in Atem gehalten hat, ein Streit, wie wir ihn in Jahrzehnten nicht, vielleicht sogar noch nie, erlebt haben. Welchen politischen Schaden hinterlässt das? – Fragen an den Wahlforscher und Politikberater Richard Hilmer, jahrelang Leiter von Infratest Dimap. Guten Tag, Herr Hilmer.
Richard Hilmer: Guten Tag, Frau Heuer.
Heuer: Das war ja genau genommen mehr Krieg als Streit. Können CDU und CSU überhaupt noch zusammenarbeiten? Ist das glaubwürdig?
Hilmer: Die Fraktionsmitglieder haben das ja letztlich durchgesetzt. Insofern gibt es schon eine auch personell gute Grundlage für eine weitere Kooperation. Der Streit konzentrierte sich auf zwei Protagonisten; das waren allerdings die Hauptprotagonisten: die Kanzlerin und der CSU-Chef und Innenminister. Das macht das Ganze nicht sehr viel einfacher, denn die beiden sitzen ja auch weiterhin am Kabinettstisch nebeneinander – auch im Parlament.
Der Dissens ist "sicherlich nicht völlig beigelegt"
Der Streitpunkt als solches ist jetzt erst einmal ausgeräumt, aber der Dissens hat ja seine Vorgeschichte und ist sicherlich nun nicht völlig zwischen den beiden beigelegt.
Heuer: Ja, eben! So ein heftiger Streit, der ins Persönliche geht, und dann soll über Nacht alles wieder gut sein, weil man plötzlich den Stein des Weisen gefunden hat. Fühlen sich die Bürger da nicht verschaukelt?
Hilmer: Es ist ja sowieso schwierig, den Bürgern die Komplexität und Schwierigkeit heute von Politik zu erläutern. Das ist allerdings genau die Aufgabe von Politikern, diese Unterschiedlichkeit, unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Ausgangspunkte zusammenzuführen zu Beschlüssen am Ende. Was die Kanzlerin, was der Innenminister zuletzt demonstriert haben, war eigentlich eher die Schwierigkeit, die Unfähigkeit, dies auch tatsächlich im Einzelnen zu bewerkstelligen, denn es ging ja um einen Punkt, sogar nur um einen von drei Spiegelstrichen in diesem Punkt, von einem 63 Punkte umfassenden Masterplan. Das war jetzt nicht unbedingt die hohe Kunst der Politik.
"Die Zustimmungsraten nehmen ab"
Heuer: Nein, und es war eine richtige Schlacht. Nehmen die Bürger das nicht übel? Fördert das nicht die Politikverdrossenheit in Deutschland?
Hilmer: Wir haben ja schon seit geraumer Zeit ein erkennbares Problem der Bürger mit Wahrnehmung von Politik. Die Zustimmungsraten zu den Regierungen nehmen ab, die Zustimmungsraten auch zu den Politikern, die ja bislang davon relativ unbenommen waren. Gerade die Kanzlerin sonnte sich ja immer in unheimlich hohen Zustimmungswerten. Die sind immer noch vergleichsweise hoch, aber im Sinken begriffen, und insbesondere in bestimmten Politikbereichen, da nimmt die Zustimmung zu dieser Politik ab, insbesondere in der Migrationspolitik.
Das wäre eigentlich eine wunderbare Aufgabe gewesen, gerade nach dem Koalitionsvertrag, noch mal deutlich zu machen: Wir haben verstanden. Die Bürger haben ja in den Wahlen, in der Bundestagswahl ihren Unmut zum Ausdruck gebracht. Die Koalition hat sich wieder zusammengefunden, hat auch sehr strittige Punkte scheinbar wieder vereinbart, einen Beschluss zustande gebracht, der unterschiedliche Interessen zusammenführte. Offensichtlich war das nicht unbedingt tragfähig.
Wählerwanderung zur AfD "ist zu befürchten"
Heuer: Hat die Union – kann man das festhalten, Herr Hilmer – in den letzten Wochen der AfD scharenweise Wähler in die Arme getrieben?
Hilmer: Das ist zu befürchten. Es gibt allerdings jetzt die Chance, das was in dem Masterplan eigentlich steht, ein Konzept, das wirklich die unterschiedlichen Interessen zum einen in Richtung einer liberalen Migrationspolitik, zum anderen einer etwas restriktiveren Handhabung, was die Kontrollen anbetrifft (Rückführung von Kontrollfunktionen zum Start als Stichwort). Dieses Papier versucht das zu vereinen, und es ist Aufgabe gerade der Volksparteien, diese unterschiedlichen polarisierenden Positionen zusammenzubringen, denn das findet sich auch in den Wählerschaften von SPD, von CDU, von CSU wieder, diese unterschiedlichen widerstreitenden Interessen.
Ob das gelungen ist, werden wir sehen. Es ist zu hoffen, denn im Herbst stehen zwei Wahlen an: in Bayern und für die CDU in Hessen.
Seehofers "verrückte Drehmomente"
Heuer: Dann sprechen wir aber auch noch über das politische Personal in diesem Streit. Horst Seehofer gibt den Drehhofer. Ist er politisch erledigt?
Hilmer: Seine Position war ja nicht die stärkste innerhalb der CSU. Er hat ja schon den Posten des Ministerpräsidenten abgeben müssen. Aber ich glaube, es gibt zurzeit nicht unbedingt Interesse bei niemandem, diese Position, die ihm verbliebene Position des Parteichefs zu übernehmen, in so einer schwierigen Situation. Insofern glaube ich, wird er wohl weitermachen. Wie lang das noch gut geht, muss man mal sehen.
Immerhin: Er hat am Ende über diese verrückten Drehmomente dann erreicht, dass die Kanzlerin immerhin einem Kompromiss zugestimmt hat – einem Kompromiss, von dem man allerdings sagen muss: Warum ging das nicht schon deutlich früher! Das lag ja ungefähr ein Stück weit auf der Hand, dass man die Analogie der Flughafensituation vielleicht auf die Grenzsituation übertragen könnte.
Schaden auch für Merkels Ruf
Heuer: Ja, okay! Das war schwierig. Aber ich würde Sie gerne noch fragen: Wie sehr hat denn die Autorität der Kanzlerin gelitten?
Hilmer: Ich meine schon, dass auch sie natürlich darunter gelitten hat. Das ist nicht nur Seehofers Problem gewesen, sondern beider Problem, denn auch sie hat zum Teil ins Persönliche gegriffen. Die Einladung der Literatin, die kurz vorher Seehofer angegriffen hat, aufs Podium neben Seehofer zu setzen, das ist natürlich ein Affront gewesen, den Seehofer sicherlich so nicht hinnehmen konnte. Er blieb ja auch fern dann. Das sind kleine Nadelstiche, von denen man eigentlich meinte, dass die Kanzlerin das nicht nötig hat, die man vielleicht eher von Seehofer erwartet hätte. Aber die haben das Verhältnis zwischen beiden sicherlich nicht verbessert und sie haben auch ihren Ruf als Problemlöserin nicht unbedingt verbessert, den sie eigentlich ja – und das ist das Absurde – auf dem Europagipfel eindrucksvoll bewiesen hat, wo die CSU ja auch hätte rausgehen können mit einem sich auf die Schulter klopfen: "Wir haben einiges erreicht, wir haben Druck gemacht in Europa."
Heuer: Der Wahlforscher und Politikberater Richard Hilmer im Interview mit dem Deutschlandfunk. Danke schön, Herr Hilmer.
Hilmer: Bitte schön!
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