Die Gefahr, dass die beiden Kandidaten es wirklich in die Stichwahl schaffen, bestehe zurzeit noch nicht, so Grosser. Aber Mélenchon hatte zuletzt in den Umfragen zugelegt und wird von den Instituten derzeit auf dem dritten oder vierten Platz gesehen.
Grosser betonte, er selbst unterstütze den unabhängigen Kandidaten Emmanuel Macron. Dieser sei ein Kandidat der Mitte, "eine Große Koalition in sich selbst". Dies sei für einen französischen Präsidentschaftskandidaten sehr ungewöhnlich.
Das Interview in voller Länge:
Doris Simon: "La France insoumise", das unbeugsame, das widerständige Frankreich, so heißt die Partei des linken französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Und unbeugsam und widerständig, das kommt bei französischen Bürgern anscheinend sehr gut an. In den Umfragen liegt Mélenchon inzwischen an dritter Stelle, hinter Marine Le Pen vom Front National und dem Liberalen Emmanuel Macron mit seiner neuen Partei En Marche. Und die Meinungsforscher sagen voraus, dass Mélenchon noch zulegen könnte.
Wie ein altlinker 65-Jähriger in diesen Tagen zum Hoffnungsträger vieler Franzosen wird, darüber habe ich vor dieser Sendung mit Alfred Grosser gesprochen. Er ist Publizist und langjähriger Politikprofessor an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po.
Alfred Grosser: Ich nehme das Beispiel unseres Enkels: 24, Beruf solide. Und er sagt, ich bin verführt von Mélenchon, ich werde aber natürlich hier anders wählen, aber er ist natürlich sehr verführerisch. Er spricht eine völlig verständliche Sprache und er hat Humor. Die beiden Sachen, die Sprache, die gesprochen wird, die klar ist – bei anderen ist die Sprache etwas unklar, ein bisschen zu technokratisch -, und er sagt ungefähr was er denkt. Er ist jetzt 66 und ist seit dem Alter von 16 oder 17 Jahren in der Politik und war immer auf der ganz linken Seite.
"Sie sprechen dieselbe Sprache"
Simon: Mélenchon hat auch extremistische Töne. Er hat auch teilweise sehr antideutsche Töne. Das stört die Wähler nicht in Frankreich?
Grosser: Nein, nicht so sehr. Er hat 2015 das Buch geschrieben "Le hareng de Bismarck", das heißt der Hering von Bismarck, wo er wirklich total antideutsch ist. Er ist gegen Europa, er ist gegen die NATO. Er ist dafür, dass die deutsche Herrschaft über Europa aufhört, und das anscheinend doch ein bisschen Anklang, obwohl in seinen Reden das gar nicht so stark ist. Was in seinen Reden stark ist, ist, dass er total antieuropäisch ist. Er so ungefähr wie Madame Le Pen, die sprechen ungefähr dieselbe Sprache: Wir müssen da raus, denn Frankreich geht daran unter.
Simon: Wer sind seine Anhänger? Sie haben Ihren Enkel erwähnt, das ist ja nicht der Einzige.
Grosser: Nein, gewiss nicht. Es sind im Großen und Ganzen junge Leute und die wissen, in dem Fall des Enkels weiß er, dass er Macron wählen wird. Aber die Versuchung von ihm zu ihm ist groß, sodass er momentan in den Umfragen ungefähr bei 15 Prozent steht, was enorm ist, und er steigt ständig. Er lässt Fillon hinter sich, er lässt die anderen auf der linken hinter sich. Eine echte Gefahr scheint mir nicht zu bestehen, aber man zittert natürlich bei der Idee, er könnte in die Stichwahl kommen gegen Marine Le Pen.
"Jugendliche sind angestachelt von der Idee, man könnte Revolte machen"
Simon: Herr Grosser, Sie haben gerade den inzwischen vierten in den Umfragen genannt, den Konservativen Francois Fillon, und Emmanuel Macron, der etwas vergleichbar wie Mélenchon aus dem Nichts gekommen ist mit einer neuen Partei, in dem Fall En Marche. Werben die beiden, Macron und der linke Mélenchon, irgendwo auch um die gleichen Wähler?
Grosser: Doch! Die Vernünftigen gehen dann über zu Macron, der an sich so was ist wie eine große Koalition mit sich alleine. Er ist etwas ganz Neues in der französischen Politik. Ich bin total für ihn, denn er sagt, wenn eine Maßnahme von rechts kommt und sie ist gut, nehme ich sie, wenn sie von links kommt, eine andere Maßnahme, nehme ich sie auch. Er steht in der Mitte und das ist in Frankreich sehr ungewöhnlich bei der Präsidentschaftswahl. Aber es trifft sich eben, dass viele Jugendliche vor allen Dingen gewissermaßen angestachelt sind von der Idee, man könnte doch mal Revolte richtig machen, etwa mit dem Wahlzettel, wo doch die anderen auf der linken so null sind. Der Vertreter der sozialistischen Partei ist so null, dass er total überholt wird von Mélenchon und noch nicht mal vielleicht zehn Prozent bekommt, obwohl das der Vertreter der Partei ist, die es so gut wie nicht mehr gibt.
Simon: Bevor sich die Zahlen für Jean-Luc Mélenchon, über den wir hier reden, so dramatisch nach oben entwickelt haben, sah es ja so aus, als ob der auch von Ihnen angesprochene Emmanuel Macron, der Newcomer, gute Chancen hätte, zumindest im zweiten Wahlgang gegen Marine Le Pen zu bestehen und der nächste Präsident zu werden. Wie sehr sehen Sie die Situation jetzt wieder offen mit Jean-Luc Mélenchon, der inzwischen schon an dritter Stelle ist?
Grosser: Nein, ich sehe sie noch nicht offen, sagen wir es mal so. Es müsste in den nächsten Tagen viel Neues geschehen, damit sie offenstehen würde, denn bis jetzt geht es wirklich um eine Stichwahl zwischen Macron und Marine Le Pen und sie steigt auch nicht mehr. Er steigt weiterhin, Macron.
Simon: In den Umfragen?
Grosser: Nicht nur in den Umfragen. Die Zahl der bekannten Politiker, die jetzt für ihn stimmen. Zum Beispiel in der Bretagne sind alle großen Bürgermeister öffentlich für Macron sofort in der ersten Runde.
"Er ist nicht gegen Einwanderung, aber für eine gewisse Isolation"
Simon: Können Sie sich vorstellen, wenn jetzt Mélenchon so großen Zuspruch hat, dass zum Beispiel Emmanuel Macron noch bestimmte Aspekte aus dem, was Mélenchon fordert, mehr Umverteilung, Superreiche stärker besteuern, die sogenannte präsidentielle Monarchie in Frankreich schwächen, dass vielleicht Macron davon einige Dinge noch übernimmt, weil die so gut ankommen?
Grosser: Nein, das glaube ich kaum. Das ist eine gute Frage, aber ich glaube es nicht, vor allen Dingen, weil ja Macron ein Liberaler ist und der Antiliberalste von allen ist Mélenchon, sein ganzes Leben durch, seine politische Partei durch. Die anderen Ideen, die hat Marine Le Pen genauso. Und in diesem Sinne: Beide Extreme teilen dieselben Einstellungen. Ich würde sagen, er ist nicht so sehr gegen die Einwanderung, aber doch für eine gewisse Isolation Frankreichs.
Simon: Herr Grosser, helfen Sie uns noch mal jenseits des Rheins mit dem Verständnis. Eine starke Gruppe auf der linken, eine starke Gruppe auf der extremen rechten in Frankreich.
Grosser: Mélenchon ist die extreme Linke.
Simon: Ja. Wie würden Sie uns das erklären als Deutschen, die wir solche Entwicklungen ja nicht haben?
Grosser: Sie haben die AfD, was gar nicht so übel ist, möchte ich sagen, als extrem rechts. Und Sie haben in der CSU dasselbe, was versucht worden war von Sarkozy, ich will nicht überholt werden auf meiner Rechten. Das haben Sie in Deutschland auch und Sie haben es nur nicht so schlimm, weil Sie eine Vergangenheit haben, die wir glücklicherweise nicht haben.
"Ich glaube, dass man dasselbe erleben wird wie in Holland"
Simon: Gibt es aber vielleicht in Frankreich eine Neigung, für Politiker mit extremistischen oder irrealen Vorstellungen zu stimmen?
Grosser: Nein, ich glaube nicht, und ich glaube, dass man hoffentlich dasselbe erleben wird wie in Holland, die alle Katastrophen vorausgesagt haben, die nicht eingetreten sind.
Simon: Die Einschätzung des Politologen und Publizisten Alfred Grosser. Es ging unter anderem um die Begeisterung, die der linke französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon derzeit in Frankreich kurz vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen auslöst. Das Interview haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.