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Wahlkampf in Indien
Flüchtlinge werden zum Spielball der Politik

In Indien wird im Mai ein neues Parlament gewählt. Vor dem Urnengang heizen religiöse und hindu-nationalistische Brandstifter im Bundesstaat Uttar Pradesh den Konflikt zwischen Hindus aus der konservativen Bauernkaste der Jats und muslimischen Feldarbeitern an.

Von Sandra Petersmann |
    Die Zeit hat die Wunden nicht geheilt. Vor den Häusern der beiden verfeindeten indischen Familien stehen bis heute bewaffnete Polizisten. Tahender Singh gehört zur Bauernkaste der Jats. Er verlor am 27. August 2013 zwei Neffen.
    Die beiden Jungs hätten nur versucht, die Ehre eines Mädchens zu verteidigen, und seien von einem blutrünstigen muslimischen Mob erschlagen worden, erzählt Tahender Singh. Den anderen Mord erwähnt der Jat-Bauer nicht. Seine beiden Neffen hatten zuvor einen jungen Muslim erstochen – weil er ein Mädchen aus ihrer Familie belästigt haben soll.
    Welle der Gewalt
    "So etwas würde mein Sohn nie tun", sagt der Vater des Erstochenen. Der tödliche Streit sei ausgebrochen, weil sein Sohn und die beiden anderen Jungen mit ihren Motorrädern zusammengestoßen seien. Für beide Versionen finden sich Zeugen.
    Die drei Morde lösten rund um die Distrikthauptstadt Muzaffarnagar im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh eine unvorstellbare Welle der Gewalt aus. Über 60 Menschen verloren ihr Leben, mehr als 50.000 flohen, viele Frauen wurden vergewaltigt. Die Armee musste anrücken. Doch die Ruhe ist oberflächlich.
    Der 18-jährige Abdul Qayoom will sein Heimatdorf Lisarh niemals wiedersehen. Er hält ein Foto in der Hand, das seinen Vater in der Leichenhalle zeigt – mit halb abgeschlagenem Kopf.
    "Als die Angreifer kamen, liefen wir weg und versteckten uns", berichtet er. Die Mörder seien Jats aus Lisarh gewesen. Seinen Vater habe er später tot im Dorfteich gefunden.
    Die Umstehenden zählen die Namen von mutmaßlichen Tätern auf. Heute lebt keine einzige muslimische Familie mehr in Lisarh. Ihre Häuser sind ausgebrannt, die Wände sind eingeschlagen. Die Geflohenen sitzen in erbärmlichen Zeltlagern fest. Doch beschuldigte Jat-Bauern wie Rajiv Kumar beteuern ihre Unschuld.
    "Das war wie ein Vulkanausbruch", erklärt Rajiv Kumar und behauptet, dass alle Täter Fremde waren, die nach einer politischen Versammlung mit ihren Traktoren ins Dorf gekommen seien. Man habe den wütenden Mob nicht stoppen können. Rajiv Kumar hat große Probleme, sein Zuckerrohr zu ernten. Lisarh liegt wie die anderen betroffenen Dörfer im Zuckerrohrgürtel von Uttar Pradesh. Hindus aus der konservativen Bauernkaste der Jats sind die Landbesitzer, die Muslime sind ihre Feldarbeiter.
    "Die kommen nur deshalb nicht nach Lisarh zurück, weil sie im Lager alles umsonst bekommen. Die Regierung hat den Muslimen Land, Geld und Jobs versprochen. Hier im Dorf ist ihr Haus vielleicht 600 Euro wert, die Regierung bietet ihnen aber 6000 Euro Entschädigung. Die haben keine Angst vor uns, die wollen einfach nicht mehr arbeiten."
    Flüchtling Abdul Bashid kontert das Argument: "Wenn die Jats aus unserem Dorf nicht beteiligt waren, wie kann es dann sein, dass Außenstehende nur unsere Häuser angezündet haben? Natürlich wollen wir nach Hause. Keiner von uns SEIwill als Flüchtling im Zelt leben. Aber sie haben uns ermordet, unsere Häuser angezündet, unsere Moschee geschändet, wie sollen wir dahin zurückgehen?"
    Wahlentscheidender Bundesstaat
    Uttar Pradesh ist wahlentscheidend. Kein anderer indischer Bundesstaat entsendet mehr Abgeordnete ins nationale Parlament nach Neu Delhi. Satyapal Pal ist der Chef der hindunationalistischen BJP in Muzaffarnagar. Die BJP ist die größte Oppositionspartei im Land und hat gute Chancen, die Wahl im Mai zu gewinnen.
    "Wir werden nach dem Sieg dafür sorgen, dass sich Indien weiterentwickelt. Und wenn die Wirtschaft wieder wächst, werden die Menschen keine Zeit mehr für solche Gewaltausbrüche haben. Die Muslime sind dafür bekannt, dass sie nicht gerne arbeiten. Sie lassen sich lieber kostenlos von der Regierung versorgen."
    Rechtsanwalt Manish Kumar Gupta aus Muzaffarnagar ist ein säkularer Mann. Er beobachtet mit Sorge, dass religiöse und hindu-nationalistische Brandstifter weiter Öl ins Feuer gießen.
    "Die BJP hat von Anfang an versucht, die Gewalt politisch auszunutzen – genauso wie ein paar muslimischen Fundamentalisten. Die Nerven in der Bevölkerung lagen blank. Gerüchte und Verschwörungstheorien machten die Runde. Das haben die unsozialen, kriminellen Elemente ausgenutzt. Sie wollten nach den drei Morden einen Flächenbrand, aus dem sie größtmögliches politisches Kapital schlagen können. Im Frühjahr wird ein neues Parlament gewählt. Jats und Muslime sind wichtige Wählergruppen."
    "Wir hatten Angst um unser Leben, die wollten uns töten, wir mussten da weg", berichten diese Frauen, die aus dem Dorf Kinoni geflohen sind. Sie sagen auch, dass man sie vergewaltigen wollte und dass sie sich nur noch unter anderen Muslimen sicher fühlen. Sie wollen so lange im Flüchtlingslager bleiben, bis sie entschädigt und umgesiedelt werden.
    Beim Dorfrundgang in Kinoni findet sich kein einziges zerstörtes Haus. Anders als in Lisarh sind auch nicht alle muslimischen Familien geflohen. Doch das soziale Gefüge in der Region hat sich verändert, weil Politik und Religion eine Giftmischung mit Langzeitwirkung versprühen. Das multiethnische und multireligiöse Indien bleibt anfällig für Gewaltausbrüche wie in Muzaffarnagar.