Es begann mit einer Modenschau: Um die Schönheit und traditionelle Eleganz der indonesischen Mode zu feiern, trug Sukmawati Soekarnoputri bei der Indonesian Fashion Week im vergangenen Frühling ein Gedicht vor: "Ibu Indonesia", Mutter Indonesien.
Das Werk hat die Tochter des Staatsgründers Sukarno schon 2009 verfasst, aber erst jetzt sorgten seine Zeilen für Aufruhr.
"Ihr geschlungener Haarknoten ist schön, schöner als dein bedeckender Gesichtsschleier. Ich kenne die Scharia nicht, aber ich weiß, dass der Klang von Mutter Indonesiens Hymne wunderschön ist, viel schöner und bezaubernder als euer Ruf zum Gebet."
Ein Sturm der Empörung brach über die Dichterin herein, in den sozialen Medien und auch in der realen Welt: Es gab Demonstrationen, muslimische Organisationen erstatteten Anzeige gegen sie, Indonesien hatte den nächsten großen Blasphemie-Fall und ein weiteres Beispiel dafür, wie sich das gesellschaftliche Klima in dem Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt verändert.
Hat die einst gerühmte religiöse Toleranz Indonesiens ein Ende?
"Ich würde sagen, ja, der Trend besteht." Die junge Indonesierin Jessica hat in der Entwicklungshilfe gearbeitet, ihre politische Analyse zeichnet kein gutes Bild von der indonesischen Gesellschaft.
"Allein in den sozialen Medien gibt es so viele Gerüchte, Lügen und Hassnachrichten; es gab immer schon religiöse Toleranz sowie Intoleranz, aber durch die sozialen Medien ist es für die Hassprediger so leicht geworden, Gehör zu finden, über Twitter oder WhatsApp ihre Lügen zu verbreiten."
Jeder Indonesier muss sich zu einer Religion bekennen
Wachsende Intoleranz gegenüber anderen Religionen, gegenüber anderen Lebensweisen - das ist eine neue Entwicklung.
Bisher stellte das kein Problem dar, erklärt Professor Ikrar Nusa Bhakti: "Bei uns zählt nicht die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit, sondern die Gründer Indonesiens, allen voran Sukarno, haben festgelegt, dass die Nationalität zählt, das Indonesische. Das ist in den fünf Prinzipien, der Pancasila, festgeschrieben."
Die "Einheit in Verschiedenheit" hatte im riesigen Staat Indonesien bisher einen Religionsfrieden garantiert. Von den 255 Millionen Einwohnern sind mehr als 200 Millionen Muslime. Der Islam ist aber keinesfalls Staatsreligion. Mit Islam, Christentum, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus, gibt es fünf offiziell anerkannte Religionen. Und zu einer muss sich sogar jeder Indonesier offiziell bekennen.
Inoffiziell folgen viele aber auch noch ihren alten animistischen Traditionen. Sie verehren ihre Ahnen, sie glauben an Geister, an die belebte Natur. Für viele Volksgruppen, die auf den zigtausend Inseln des Archipels leben, ist das Teil der Tradition. Für die Jungpolitikerin Manohara ist es diese Vielfalt, die Indonesien ausmacht:
"Es ist doch so: Indonesien war immer das Land mit der größten islamischen Bevölkerung der Welt und ich war immer stolz auf die Tatsache, dass wir trotzdem so extrem tolerant waren - einfach nur ein riesiger Schmelztiegel mit einer großen Akzeptanz für andere Kulturen; und jetzt läuft es in die falsche Richtung - rückwärts, im Grunde."
Und laut Sidney Jones, Leiterin des Instituts für politische Analyse von Konflikten in Indonesiens Hauptstadt Jakarta, lässt sich der Beginn dieser Entwicklung auch ziemlich gut datieren:
"Ich glaube, die Intoleranz hat zugenommen, seit die demokratischen Reformen begannen, nach dem Fall von Suharto 1998."
Drei Jahrzehnte lang währte seine Diktatur. Nachdem Studenten 1998 Monate lang auf die Straße gegangen waren, trat Suharto schließlich zurück.
"Dadurch wurde eine ganze Anzahl von Organisationen und Ansichten in die Öffentlichkeit entlassen, die bisher von der autoritären Regierung unterdrückt worden war. Jetzt, mit all der Meinungsfreiheit und mit politischem Raum, war es möglich für sie, sich zu mobilisieren und zumindest in einigen Regionen Unterstützer zu gewinnen. Vor allem in West-Java und Süd-Sulawesi. Dort gibt es Bereiche, in denen die Beispiele für Intoleranz dramatisch zunehmen. Außerdem haben Politiker begonnen, die religiöse Karte zu spielen, um Wähler zu gewinnen, und islamistische Hardliner-Organisationen haben das Potential gesehen, die Wahlen zu beeinflussen."
Das solle auf keinen Fall heißen, dass Demokratie zu Intoleranz führt, betont Sidney Jones. Durch den demokratischen Reformprozess wurden aber Kräfte freigesetzt und niemand weiß, wie man damit umgehen soll. Entstanden sind diese Tendenzen schon in den 1980er Jahren.
Damals begannen einige Saudis, jungen Indonesiern ein Studium im Nahen Osten zu finanzieren. Von dort brachten viele dann die dortige, sehr strenge Auslegung des Korans mit. Und die verbreitet sich. Sie zeigt sich zum Beispiel darin, dass viele muslimische Indonesier keine Kirche in ihrer Nachbarschaft haben wollen oder aber auch Christen keine Moschee nebenan.
Spektrum von Intoleranz zur Gewaltbereitschaft
Viele wollen nicht, dass die Lehrer ihrer Kinder einer anderen Religion angehören als sie selbst. Einige islamistische Gruppen nehmen den Unterricht selbst in die Hand, erzählt Sidney Jones:
"Das Problem ist, dass sie Kindergärten betreiben, sodass die Menschen schon im Alter von fünf Jahren in ideologische Strömungen aufgeteilt werden."
Wird die Zahl der Extremisten steigen? Wird der islamistische Terror in Indonesien zunehmen? Das ist eine Sorge vieler Außenstehender.
"Es ist interessant, dass gewalttätiger Extremismus und nicht-gewalttätiger zwei ganz verschiedene Phänomene darstellen", beruhigt Konfliktforscherin Sidney Jones.
"Es ist nicht so, dass man sich auf linearem Wege durch das Spektrum von Intoleranz zur Gewaltbereitschaft bewegt. Die beiden Gruppierungen können sich nicht ausstehen. Ich glaube nicht, dass der Extremismus im Sinne von Terrorismus zunimmt. Intoleranz wächst, und das ist im Endeffekt ein größeres Problem für Indonesien als gewalttätiger Extremismus. Aber wir haben beides."
Von den 255 Millionen Indonesiern seien nur wenige hundert gewaltbereit. Aber das genügt oft, leider.
Es war an einem Sonntagmorgen im Mai vergangenen Jahres. In Surabaya, Indonesiens zweitgrößter Stadt im Osten von Java, machte sich eine Familie mit zwei kleinen Töchtern, zwei Söhnen und den Eltern auf den Weg um Christen zu töten. Der Vater sprengte sich in einem Auto vor einer Kirche in die Luft, die beiden Söhne fuhren mit Sprengstoffrucksäcken auf einem Moped kurz vor Gottesdienstbeginn in den Vorhof einer Kirche. Die Mutter ging mit den Mädchen in ein drittes christliches Gotteshaus und mischte sich unter die Menge der Gottesdienstbesucher. Unter ihren Niqabs trugen alle drei Bombenwesten und zündeten sie.
Radikalisierte Frauen
Insgesamt 13 Menschen starben. Bei den Vorbereitungen für ein Attentat starb am selben Tag eine vierköpfige Familie in ihrer Wohnung, ihre Bomben waren explodiert. Am nächsten Tag folgte ein weiterer Anschlag in Surabaya auf eine Polizeistation mit vier Toten; auch hier war es eine Familie, die sich in die Luft sprengte.
Die Taten gehen auf das Konto der Jemaat Ansharud Daulah, kurz JAD. Die Terrororganisation wird schon für andere Anschläge in Indonesien verantwortlich gemacht, auch in der Hauptstadt Jakarta.
"Aber die Attentate scheinen nicht von JAD zentral dirigiert worden zu sein. Es scheint so gewesen zu sein, dass die verschiedenen Zellen seit dem Vorjahr als unabhängige Einheiten arbeiten, seit der Chef von JAD verhaftet worden ist. Das heißt: Wer auch immer einen Aktionsplan aufgestellt und das Geld dafür organisiert hat, konnte loslegen. Die Anschläge von Surabaya scheinen eben auch nur von diesen Familien geplant worden zu sein und nicht von einer breiteren JAD-Basis. Ich glaube also nicht, dass es einen Trend zu Familien-Selbstmordattentaten geben wird."
Was es allerdings gibt: Frauen, die radikalisiert werden.
Ein weiterer Sonntag, diesmal in Singapur, in der indonesischen Botschaft. Im Foyer sitzen hunderte von jungen Frauen. Sie tragen pinkfarbene Jilbabs mit Glitzer, geblümte Kopftücher in Blau und Rot, oder sie tragen ihr Haar offen. Die meisten von ihnen arbeiten als Haushaltshilfen in Singapur. An ihrem freien Tag haben sie sich hier versammelt, um unter Gelächter, Erröten und gespannter Aufmerksamkeit einen Film zu sehen. Es geht um Selbstmordattentate und Liebe.
"Bei fast allen Frauen, die eine Radikalisierung durchlaufen, und sich zum so genannten Islamischen Staat bekennen, geht es um soziale Akzeptanz, um Liebe."
Noor Huda Ismail zeigt seinen Dokumentarfilm "Die Braut - eine Reise durch Liebe und Hoffnung". Der Indonesier hat bereits den Dokumentarfilm Dschihad Selfie gedreht über einen indonesischen Teenager, der über das Internet zum sogenannten Islamischen Staat nach Syrien gelockt werden soll.
Kampf gegen Fake News
"Es gab so viele Ähnlichkeiten. Es ist eine Frage, wo man hingehört, wo man sich angenommen fühlt. Und dann geht es um Prozesse: Niemand ist als Terrorist geboren, und wenn wir sie verhaften, dann lassen sie nicht sofort ihre Ideologie fallen. Es braucht auch wieder einen Prozess, dort herauszukommen."
Darum hat Noor Huda das Institute for International Peace Building in Jakarta gegründet, eine Nichtregierungsorganisation, die Menschen deradikalisieren will. Es geht um den Prozess, ehemalige Terroristen wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Dazu muss Noor Huda eben auch verstehen, wie sie dort hingeraten sind, wo sie sind.
Die Rolle der sozialen Medien ist groß in Indonesien. Das Land bewegt sich unter den Top 5 der am schnellsten wachsenden Internet-, Facebook-, oder Instagram-Usergruppe. WhatsApp bestimmt den Alltag. Und so haben Hassprediger leichtes Spiel ihre Botschaften zu verbreiten; Falschmeldungen, Lügen über Gegner, wie zum Beispiel gemäßigte Politiker sind in Sekundenschnelle in der Welt:
"Die Regierung versucht dessen Herr zu werden, zusammen mit Firmen wie Google und Facebook. Und sie arbeiten zusammen mit ein paar gesellschaftlich engagierten Gruppen, die Fake-News untersuchen und versuchen zu korrigieren."
Die Gusdurians zum Beispiel, eine Graswurzel-Bewegung, die die humanitären Werte des früheren Präsidenten Gus Dur lebt. Oder auch die größte moderat-muslimische Organisation NU, sie alle versuchen, Fake News entgegenzuwirken und die Toleranz, für die Indonesien bekannt war, weiterleben zu lassen. Nicht immer erfolgreich, wie die Geschäftsfrau Ismutia Rickard erzählt:
"Es ist eine Schrecktaktik, wie sie Religion für politische Zwecke missbrauchen: Die Mutter einer Freundin schickt ihr jeden Tag SMS-Nachrichten, dass sie auf keinen Fall Jokowi wählen soll, denn das sei eine Sünde, und wenn sie das tut, kommt sie in die Hölle - und sie kann noch nicht mal erklären, wieso."
Selten war die indonesische Gesellschaft so gespalten
Im April will Präsident Joko Widodo, genannt Jokowi, wiedergewählt werden. Er steht für den moderaten Islam. Allerdings ist die Stimmung im Land schon jetzt aufgeladener als jemals zuvor in Wahlzeiten: Das liegt auch am Fall Ahok. Basuki Tjahaja Purnama, kurz Ahok genannt, war als erster Christ Gouverneur von Jakarta. Ein Protegé von Jokowi, der das Amt vor ihm innehatte, bevor er zum Präsidenten gewählt wurde. Als sich Ahok aber für die Wiederwahl als Gouverneur bewarb, wurde ihm vorgeworfen, den Koran beleidigt zu haben.
Aufgebrachte Hardliner zeigten ihn an, seine Gegner versammelten sich zu Hunderttausenden zu so genannten Massengebeten in der Hauptstadt. Als es zum Prozess gegen Ahok kam, verlor er erst die Wahl, dann seine Freiheit. Wegen Blasphemie wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Selten war die indonesische Gesellschaft so gespalten: in keifende Ahok-Gegner, die generell gegen alle Ungläubige wetterten, und in Unterstützer, die für Ahok singend auf die Straße gingen.
"Die Mobilisierung gegen den Gouverneur von Jakarta war ein Weckruf für viele in der moderaten Muslim-Gemeinschaft, die sich bis dahin nicht wirklich engagiert hatten. Seitdem bemühen sie sich in einer noch nicht dagewesenen Bewegung, sich zur Idee eines pluralistischen Islam zu bekennen."
Dass es noch einmal eine solche Massenbewegung unter den extremen Muslimen geben wird, glaubt Sidney Jones nicht: Die Koalition, die ihn damals gemeinsam zu Fall gebracht hat, ist in der Zwischenzeit selbst auseinandergebrochen.
Ahok war das perfekte Ziel, weil er zum einen Christ war und zum anderen chinesischer Herkunft und die chinesische Minderheit eh einen schweren Stand in Indonesien hat. So sagt es Manohara Odelia Pinot, die junge Politikerin. Andere nennen ihn Großmaul. Auf jeden Fall…
"... mochten das viele Leute nicht, denn viele Leute in der Regierung und im Geschäftsleben sind immer noch korrupt, und Ahok hat viele deswegen bloßgestellt und sie gefeuert, sogar live im Fernsehen, wenn sie sich nicht an die Regeln gehalten hatten. Sein Handeln und sein Fall waren wie ein Wendepunkt für das ganze Land, denn auch wenn er jetzt im Gefängnis und kein Gouverneur mehr ist, haben die Menschen ein positives Beispiel für einen Politiker gesehen, wie er sich benehmen und was er tun sollte."
So wie sie selbst. Durch Ahoks Beispiel hat sie sich für Politik interessiert. Vorher hielt sie indonesische Politik für hoffnungslos und das Parlament für einen Ort, in den Menschen sich nur wählen lassen, damit sie geschmiert werden und gute Geschäfte machen können. Sie hofft ebenso sehr, dass Jokowi die Wahl im April gewinnt, wie Ismutia Rickard.
Hetzkampagnen im Wahlkampf
"Sonst landen wir wieder in den dunklen Zeiten, in denen die Korruption blüht und die einzige Art, Geschäfte zu machen, die mit Bestechung ist."
Viele vermuten, dass die religiösen Hardliner sich zum Teil nur instrumentalisieren lassen - von der alten Garde eben jener korrupten Geschäftsleute, die ihre Felle davon schwimmen sehen und die zu ihrem früheren Erfolgsmodell zurückkehren wollen. Darum ist ihnen im Wahlkampf kein Mittel zu schlicht: Hetzkampagnen gegen den Präsidenten zum Beispiel: Seit langem muss Jokowi sich vorwerfen lassen, nicht muslimisch genug zu sein, weshalb habe er sonst einen christlichen Gouverneur unterstützt? Der Präsident also tat, was viele seiner Unterstützer schon befürchtet hatten: Er wählte einen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft aus, der die Hardliner zufrieden und alle anderen ruhige stellen sollte, ein Beweis, dass er nicht anti-muslimisch eingestellt sei.
Für Manoharaist das ganz klar ein politischer Schachzug, ein Werkzeug, das Jokowi jetzt einsetzte. "Ist es notwendig, das zu tun? Leider ja. Denn wir haben nur die Wahl zwischen zwei Kandidaten, und ich kann mir nicht vorstellen, wie Indonesien aussehen wird, wenn Jokowi nicht gewinnen sollte - zurück in die Vergangenheit?"
Der Gegenkandidat, Prabowo Subianto, ist der Schwiegersohn des früheren Diktators Suharto; der General gehörte einer Eliteeinheit an, auf deren Konto viele Menschenrechtsverletzungen gingen. Aufgestellt haben ihn strenggläubig-muslimische Parteien, die sich von ihm einen strikten Kurs erhoffen, einen Anti-Jokowi mit islamischer Gesetzgebung.
"Viele Leute sagen, das wäre irgendwie cool, trendy, aber sie verstehen nicht, dass eine Diktatur nicht das richtige ist, sie verstehen nicht, dass ihnen alle ihre Freiheiten genommen werden, sie verstehen nicht, dass sie nur demonstrieren können, weil sie in einer Demokratie leben."
Vor mehr als 40 Jahren, 1977, kam Sidney Jones zum ersten Mal nach Indonesien. Sie hat es zu ihrem Beruf gemacht, dieses Land zu verstehen.
"Ich glaube, wir sehen ein Land, das ganz anders ist als das Land, in das ich 1977 gekommen bin. Es ist ein viel konservativeres Land, eines, in dem Islamisten eine immer stärkere Stimme bekommen. Aber eines, in dem die Verpflichtung zum Pluralismus immer noch sehr lebendig ist."