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Wahlkampfthema Afghanistan
Publizist: Angst der Parteien spielt der AfD in die Hände

Die Flüchtlingsfrage dürfte im Bundestagswahlkampf ein entscheidendes Thema werden, sagte der Publizist Albrecht von Lucke im Dlf. Die Äußerungen von Union und SPD von einer „Wiederkehr von 2015“ zeige vor allem die Angst beider Parteien davor, „dass die AfD Prozente machen könnte“.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Friedbert Meurer |
Albrecht von Lucke, Publizist und Politologe (8.9.2016).
Wenn Innenminister Seehofer „mit einer irrsinnigen Zahl von fünf Millionen Flüchtlingen auf die Straße geht, ist das Munition für die AfD“, findet Albrecht von Lucke (imago / Metodi Popow)
Die Politik ist beunruhigt angesichts des Schicksals der Menschen in Afghanistan - und über eine möglicherweise größere Fluchtbewegung aus Afghanistan mit vielleicht Zehntausenden, die in Deutschland Zuflucht suchen könnten. Albrecht von Lucke, Publizist und Redakteur bei den Blättern für deutsche und internationale Politik, ist davon überzeugt, dass Afghanistan eine wichtige Rolle bei der Bundestagswahl spielen wird.

Die Frage, wie gehen wir mit diesen Menschen um?

Albrecht von Lucke: Ich glaube das unbedingt, weil wir plötzlich ein Thema im Raum der Debatte haben, das so neu einschlägt und bisher gar nicht da war, nämlich die Außenpolitik als eine große geopolitische Diskussion und als eine Thematisierung dessen, was uns jetzt plötzlich auf den Tisch fällt und auf die Füße fällt in dramatischer Weise – die Tatsache, dass wir uns jahrzehntelang mittlerweile hinter den Amerikanern verstecken konnten und dass eine große moralische Frage im Raum ist, wie gehen wir mit diesen Menschen um. Und ich bin ganz sicher, die Bilder werden nicht verschwinden. Der Glaube daran, dass die Taliban sich gemäßigt haben, wird ja von allen konterkariert und allen widersprochen, die Eingeweihte sind.
Die Frage wird sein, wie geht man mit dieser Konstellation um, und das, glaube ich, wirft ein ganz neues Licht auf die beteiligten Parteien, und das wird, meine ich, bleiben.
Wer trägt die Verantwortung für das Versagen in Afghanistan?Die politische Aufarbeitung der letzten Wochen in Afghanistan ist in vollem Gange. Warum Rücktritte angebracht wären. Außerdem: "2015 darf sich nicht wiederholen", fordert unter anderem Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Aber droht uns überhaupt eine neue Flüchtlingskrise in Europa?

"Wir selber sind in einer großen historischen Verantwortung"

Friedbert Meurer: Wie wird denn dieses Licht aussehen, wenn dieses Thema Afghanistan in den nächsten Wochen bestehen bleibt? Welche Partei wird sich da in Szene setzen können, welche wird vielleicht darunter leiden müssen?
von Lucke: Wir merken ja bereits, dass die beiden großen Parteien, CDU/CSU wie SPD, gleichermaßen panisch reagieren. Die Tatsache, dass sofort in den Äußerungen nicht – das finde ich moralisch geboten und übrigens auch politisch geboten. Wir müssen uns bewusst machen – das hat meines Erachtens der FAZ-Herausgeber Berthold Kohler völlig zurecht gesagt -, das ist in gewisser Weise das Vietnam Deutschlands. Wir selber sind in einer großen historischen Verantwortung. "Enduring Freedom", dauerhafte Freiheit haben ja nicht nur die Amerikaner versprochen. Wir selber sind an der Seite der Amerikaner auf Grundlage eines UN-Mandats marschiert beziehungsweise in das Land gegangen, um Freiheit zu bringen. Und jetzt dieser Rückzug veranlasst natürlich eigentlich normalerweise die beiden, zentral beteiligten Parteien, CDU wie SPD gleichermaßen - die SPD war 2001 die Partei an der Macht -, sie müsste sie eigentlich grundsätzlich zu einer klaren Äußerung veranlassen, …
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Fehlende Souveränität von CDU/CSU wie SPD

Meurer: Sie glauben, das wird den beiden großen Parteien auf die Füße fallen, dass sie 20 Jahre Afghanistan mitgemacht haben?
von Lucke: Das müsste es tun, und vor allem tut es das aber jetzt in einer, finde ich, moralisch erschütternden Weise. Die Angst beider Parteien, die Angstgetriebenheit geht sofort in die Richtung, dass sie sagen, wir müssen vor allem einem wehren: wir müssen der Wiederkehr von 2015 wehren. Das ist die große Angst beider Parteien – nicht vor der moralischen Fragestellung, sondern vor allem davor, dass die AfD Prozente machen könnte. Wenn beispielsweise Horst Seehofer mit einer irrsinnigen Zahl von fünf Millionen – ich weiß gar nicht, wo er diese Zahl her haben soll – von Flüchtlingen, die in Gang gesetzt werden in nächster Zeit, auf die Straße geht, dann ist das natürlich auch eine Munition für die AfD. Diese Angstgetriebenheit, auch die fehlende Souveränität von CDU/CSU wie SPD spielt eigentlich eher der AfD in die Hände.
Aber das viel grundsätzlichere Problem sehe ich darin: Die einzige Partei, die sehr frühzeitig gewarnt hat – und das ist eine Tragik dieser Situation -, nämlich die Grünen, die bereits vor Wochen gesagt haben, wir müssen uns der Lage annehmen, wir müssen vorbeugend tätig werden, ich befürchte, dass sie die eigentlich Leidtragenden sind.
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Einzig die Grünen hatten frühzeitig gewarnt

Meurer: Aus welchem Grund glauben Sie, dass die Grünen Federn lassen?
von Lucke: Aus einem entscheidenden Grund. Den Grünen werden klassischerweise die schwächsten Kompetenzwerte in der Außenpolitik zugeschrieben. Das ist das Dilemma der Baerbock-Führung. Sie selber ist momentan am wenigsten stark ausgewiesen. Es ist erstaunlicherweise sogar so, dass auch die Werte von Olaf Scholz in der außenpolitischen Kompetenz weit vor den anderen rangieren. Die Grünen, die eigentlich in dem Punkt vollkommen richtig lagen, die auch jetzt deutlich sagen, es ist unsere moralische und politische Verantwortung, zunächst die Verantwortung für die Betroffenen zu übernehmen, sie drohen, meine ich, in einer außenpolitischen Debatte eher Federn zu lassen, zumal ja noch eines hinzukommt. Wir erleben es heute ja auch in einer bizarren Weise. Am selben Tag, an dem wir diese Bilder aus Afghanistan sehen, haben wir auf der Straße Proteste von Extinction Rebellion, die ich überhaupt nicht verurteilen will beziehungsweise die ihre Berechtigung jedenfalls in der klimapolitischen Debatte haben. Aber es droht natürlich, die Jahrhundertfrage des Klimas ein Stück weit von einer nicht weniger wichtigen Frage nicht verdrängt, aber zumindest ein Stück weit ins Hintertreffen zu geraten.
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Sorge vor einer gewaltigen Fluchtwelle trifft überhaupt nicht zu

Meurer: Wenn dem so ist, dass den Grünen nicht unbedingt ihr Thema abhandenkommt, aber es rutscht nach unten, dann wäre das Ergebnis doch, dass CDU/CSU und SPD, die zwei großen, alten, etablierten Volksparteien davon profitieren werden?
von Lucke: Das ist das eigentlich Erstaunliche. Ich nehme tatsächlich an, dass die Sorge dieser beiden Parteien (ich nannte es Angstgetriebenheit) vor einer gewaltigen Fluchtwelle überhaupt nicht zutrifft. Denn wir erleben ja gerade, Afghanistan macht die Grenzen nicht auf. Die anderen Staaten, die Anrainerstaaten, die ja erst einmal durchwandert werden müssen, sind gar nicht willig, in dem Maße Flüchtlinge aufzunehmen. Ob es in den nächsten Wochen direkt zu einem großen Flüchtlingsstrom bis zur Wahl kommt, halte ich vor dem Hintergrund für zweifelhaft.
Obendrein ist die Grenze zu Europa ja auch in hohem Maße dicht. Das heißt, die Ironie könnte darin bestehen, wenn die AfD nicht in dem Maße profitiert, dann ist das eher etwas, was CDU/CSU und SPD in die Karten spielt, die da stehen würden und sagen könnten, wir sind die altgestandenen Parteien. Es könnte vor allem auch ein Stück weit der Merkel-Partei, der man dann doch wahrscheinlich außenpolitisch vielleicht sogar dann doch mehr Konzessionen macht beziehungsweise mehr zugesteht – das ist momentan jedenfalls den Umfragen zufolge der Fall -, man konzediert CDU mehr Kompetenz im Außenpolitischen, aber leider mit dem falschen Kandidaten. Deswegen liegt Olaf Scholz im Persönlichen vorne. Das ist der Konflikt.
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Meurer: Erstaunlicherweise hört man ja von der Bundeskanzlerin Angela Merkel – noch ist sie ja Bundeskanzlerin – erstaunlich wenig. Nächste Woche will sie eine Regierungserklärung abgeben. Sollte sie jetzt mehr in Erscheinung treten? Oder hält sie sich zurück, um Armin Laschet die Bühne zu lassen?
von Lucke: Ich finde es dramatisch, um es klar zu sagen. Ich finde es übrigens auch dramatisch: Wenn wir uns an die ersten Äußerungen von Angela Merkel erinnern, dann ist das ein Aha- und Wiederkehr-Effekt, den man haben muss. Die erste Assoziation in ihrer sehr abmoderierenden oder natürlich ihre Erschütterung zum Ausdruck bringenden, aber keinesfalls auf die Verantwortung abstellenden Erklärung - offensichtlich auch überrumpelt von der Geschwindigkeit der Ereignisse -, die erste Äußerung war die, wir werden nun auch alle anderen Interventionen, beispielsweise in Mali überdenken müssen. Das heißt, das ist ein Rückzugsgefecht, eine Debatte in einer Übereiltheit, die einen fast schon an die Debatte nach Fukushima erinnert. Jedes Mal reaktiv und nicht die grundsätzliche Frage, die uns ja beschert wird, aufwerfen und diskutieren, wie stehen wir eigentlich zur internationalen Frage. Ist das das Ende des Multilateralismus? Ist dieser Rückzug der Amerikaner so etwas wie die Preisgabe der Vorstellung von einer zukünftigen, noch menschenrechtlich betriebenen Politik? – Das ist im Raum und insofern finde ich die Tatsache, dass sich die Kanzlerin in fünf Tagen erst äußert, auch einigermaßen Ausdruck der Tatsache einer völligen Ratlosigkeit und eines Scheiterns der Regierung auf gesamter Linie.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.