Der letzte Tag vor den Winterferien: Die Drittklässler haben eine besondere Aufgabe bekommen. Sie sollten ihr Lieblingsbuch mitbringen und daraus vorlesen. Johanna und Ronja, neun und zehn Jahre alt, haben beide Bücher mitgebracht, die von Hexen handeln. Das sei spannend, meint Johanna:
"Es geht um eine Hexe und einen Kleiderschrank. Vier Kinder sind in diesen Kleiderschrank geklettert und dadurch in ein Land gekommen, wo der ewige Winter herrscht. Dort mussten sie eine Hexe bekämpfen, um den Winter zu beenden."
Die beiden gehen in die "Avatud Kool", auf Deutsch: "die offene Schule", in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Das Besondere: Wenn die Schüler hier aus ihren Büchern vorlesen, dann wird das jeder in seiner Muttersprache tun - auf Estnisch oder auf Russisch. Denn an der "Offenen Schule" ist der Unterricht zweisprachig, in jedem Fach, sagen Johanna und Ronja, die sich immer wieder ergänzen:
"Projektunterricht haben wir gerade auf Russisch, Kunst auf Estnisch. Aber allgemein haben wir im Moment mehr Russisch. Denn die Russischsprachigen in der Klasse sind schon weiter als wir. Sie sprechen schon ganz gut Estnisch. Wir, die Estnischsprachigen hinken da hinterher und müssen aufholen."
Ethnische Russen und Esten seien sich noch immer fremd
Die beiden Mädchen zeigen ihr Klassenzimmer. An der einen Wand sind die Buchstaben des lateinischen Alphabets auf Blätter gemalt. An der anderen stehen die Namen der Farben auf Russisch, natürlich im kyrillischen Alphabet. 28 Jahre ist es her, dass sich die Sowjetunion auflöste und Estland unabhängig wurde. In der Sowjetzeit waren viele ethnische Russen in das nördlichste baltische Land eingewandert. Gut 300.000 Menschen machte die russische Minderheit aus, bei insgesamt 1,3 Millionen Einwohnern. Noch heute seien sich ethnischen Russen und die Esten fremd, sagt Kristina Kallas, die an der Universität Narwa zu dem Thema geforscht hat:
"Nehmen wir an, als Arbeitgeber haben Sie ein Vorstellungsgespräch mit einem jungen Russen. Wahrscheinlich spricht er ganz gut Estnisch. Aber dann machen Sie einen Witz über einen Film, der in Estland populär war. Und er hat keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Denn die ethnischen Russen haben ihre eigenen Witze und Filme. Und er kommt Ihnen vor wie ein Fremder aus einem anderen Land."
Denn viele Esten gehen einfach davon aus, dass nur die Russen sich anpassen sollen. Die "Offene Schule" geht bewusst einen anderen Weg. Die beiden Gruppen bewegen sich aufeinander zu. Das gelinge auch durch die Art des Unterrichts, sagt die Mitbegründerin der Schule, Helen Sabrak:
"Wir setzen auf Projektlernen. Das Lernen wird in alltägliche Abläufe eingebunden. Schon in der ersten Klasse: Wenn Tiere auf dem Lehrplan stehen, dann besuchen wir nicht nur ein Tierheim. Die Kinder erforschen, wie diese Tiere dorthin gekommen sind und wie sie helfen können. Sie haben dann einen Flohmarkt organisiert, durch den sie Geld für das Tierheim gesammelt haben."
Bildungspolitik wichtig im laufenden Wahlkampf
Doch zum Vorbild dürfte die "Offene Schule" so bald nicht werden. Im laufenden Wahlkampf spielt die Bildungspolitik zwar eine wichtige Rolle. Doch die Debatte geht eher in die andere Richtung, so die Forderung der nationalliberalen Reformpartei: Sie fordert, dass auch in einem überwiegend russischsprachigen Gebiet die weiterführende staatliche Schule künftig ausschließlich auf Estnisch unterrichtet. Die regierende Zentrumspartei ist dagegen. Julia, neun Jahre alt, hat einen estnischen Vater und eine russische Mutter. Sie ist sehr froh, dass sie in der "Offenen Schule" beide Identitäten verbinden kann:
"Ich war in der ersten Klasse auf einer anderen Schule, da gab es kein Russisch. Da hatte ich keine Freunde, irgendwie sind die anderen immer unter sich geblieben."