Der Deutsche Bundestag ist in den letzten Wahlperioden wegen des in Deutschland einmaligen Zusammenspiels von Erst- und Zweitstimme und Direkt- und Listenmandaten immer weiter gewachsen. Seine gesetzliche Größe liegt eigentlich bei 598 Sitzen. Tatsächlich sind es zurzeit aber 736 Sitze, also 138 mehr als eigentlich vorgesehen.
Wahlforscher hatten im Vorfeld der Bundestagswahl am 26.09.2021 sogar Szenarien entworfen, nach denen der künftige Bundestag sogar aus mehr als 900 Abgeordneten bestehen könnte. Auch wenn der Bundestag nicht derart angewachsen ist, hat die Zahl der Abgeordneten einen neuen Rekord erreicht.
Wie wollen die Ampelparteien das Wahlrecht reformieren?
Um den Bundestag nicht weiter anwachsen zu lassen, haben die Ampelparteien Eckpunkte zu einer Wahlrechtsreform vorgelegt. Diese sollen am 7. Juli in die Wahlkommission des Bundestages eingebracht werden. Die Ampel kann ihren Vorschlag im Bundestag mit einfacher Mehrheit umsetzen und drückt aufs Tempo. Laut SPD ist geplant, die Reform noch dieses Jahr durchs Parlament zu bringen.
Die Ampel-Parteien planen mit dem Vorschlag statt mit kleineren Stellschrauben - wie zum Beispiel der Verringerung der Zahl der Wahlkreise - mit einem grundlegenden Schritt das Wahlrecht zu reformieren. Der Ansatz beruht vor allem darauf, dass die Zweitstimme - also die Stimme für die Partei - als maßgebliche Stimme erklärt wird. Für die Stimmenverteilung im Bundestag wären dann nur noch der Anteil der Zweitstimmen ausschlaggebend.
Überhangmandate und damit auch Ausgleichsmandate entstehen bei diesem Vorschlag nicht. Denn erreicht künftig eine Partei in den weiterhin 299 Wahlkreisen mehr Direktmandate als ihr nach nach der Stimmverteilung durch die Zweitstimmen zustehen, sollen diejenigen Direktkandidaten mit dem niedrigsten Erststimmenanteil in einem Bundesland nicht in den Bundestag einziehen. Im Ergebnis bliebe der Bundestag konstant bei 589 Abgeordneten. Allerdings würde das auch bedeuten, dass Wahlkreissieger und -siegerinnen unter Umständen nicht ins Parlament ziehen würden.
Trotzdem sollen nach dem Willen der Ampel-Parteien alle Wahlkreise im Parlament vertreten sein. Allerdings haben die Ampel-Parteien sich noch für kein Verfahren entschieden, wenn der Direktkandidat aufgrund des Zweitstimmenergebnisses keinen Sitz im Parlament erhält. Ein früherer Vorschlag der Obleute der Wahlrechtskommission Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) sah zur Lösung dieses Problems vor, dass die Wähler und Wählerinnen zur Erst- und Zweitstimme auch noch eine Zweitpräfernz für das Direktmandat abgeben.
Kritik am Vorstoß der regierenden Parteien kommt aus der Opposition. Die Unionsfraktion des Bundestages bemängelt die Nichtberücksichtigung bestplazierter Kandidatinnen oder Kandidaten in den Wahlkreisen und sieht darin einen Verstoß gegen demokratische Grundsätze. Die Unionsfraktion droht deshalb mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wenn die Ampel-Parteien ihr vorgelegtes Konzept durchsetzen sollte. Zuvor sei die Union aber offen für Kompromisse und bereit, eine gemeinsame Lösung zu finden, betonte Unionsfraktions-Chef Friedrich Merz.
Von den Ampelparteien wurde außerdem im März 2022 eine Kommission eingesetzt, zu der auch Politikwissenschaftler gehören. Hier sollen neben der Wahlrechtsreform auch weitere Reformen wie eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre oder eine Verlängerung der Legislaturperiode beraten werden.
Wie wurde das Wahlrecht 2020 reformiert?
2020 wurde unter der damaligen regierenden Großen Koalition ein kleiner Reformschritt für die Bundestagswahl 2021 durchgesetzt. Auch damals war das Ziel, das Anwachsen des Bundestags zu bremsen. Für die Wahl 2021 wurde die Zahl der Wahlkreise beibehalten. Es wurden aber erstmals Überhangmandate teilweise mit Listenplätzen der Partei in anderen Ländern verrechnet. Zudem wurden bis zu drei Überhangmandate einer Partei nicht ausgeglichen, weil die Regelgröße des Bundestages von 598 Abgeordneten überschritten wurde.
Auch bei dieser eher kleinen Reform gab es Streit. Der Widerstand kam 2020 von Grünen, der FDP und Linken. Auch die SPD war ursprünglich nicht einverstanden. Der Grund: Drei Mandate wurden durch diese Reform bei der folgenden Bundestagswahl 2021 nicht ausgeglichen, und das, so argumentieren die Parteien, verzerre den Wählerwillen.
Wie von Experten vor der Wahl prognostiziert, hatte diese Änderung des Wahlrechts nur eine geringe Auswirkung auf die Größe des Parlaments: Der Bundestag ist nach der Wahl 2021 mit 736 so groß wie noch nie.
Was ist das Problem des bisherigen Wahlrechts?
In Deutschland gibt es seit 1949 ein personalisiertes Verhältniswahlsystem. Durch das Zweistimmensystem können die Wähler ihre Erst- und Zweitstimme gesondert abgeben. Mit der Erststimme wählt die Wählerin oder der Wähler eine Bewerberin oder einen Bewerber im Wahlkreis. Der Kandidat oder die Kandidatin muss nicht von einer Partei auf einer Landesliste aufgestellt worden sein. Die Zweitstimme bei der Wahl zum Deutschen Bundestag ist dagegen maßgeblich für die Sitzverteilung der Parteien.
Das Problem bisher: Erhält eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate, als ihr eigentlich über die zweite Stimme zustehen, kommt es zu Überhangmandaten. Diese werden durch Sitze der anderen Parteien ausgeglichen. Das soll sicherstellen, dass zwar jeder über die Erststimmen direkt gewählte Abgeordnete im Bundestag sitzt, aber das Kräfteverhältnis bei den Zweitstimmen - mit denen man eine Partei wählt - trotzdem stimmt. "Die Größe des Bundestages und die Stärke der Fraktionen sollen auch die Verteilung der Zweitstimmen widerspiegeln", erklärt Politikwissenschaftler Thorsten Faas.
Wegen dieser zahlreichen Überhang- und Ausgleichsmandate war das Parlament immer weiter angewachsen. Ziel der Wahlrechtsreform ist es, den Bundestag arbeitsfähig zu halten und darum nicht zu groß werden zu lassen.
Was sind die Probleme eines zu großen Parlaments?
Eine größere Anzahl von Parlamentariern hat Folgen für die Steuerzahler: Der Bund der Steuerzahler mahnte auch aus Kostengründen eine Reform an. BdSt-Präsident Reiner Holznagel verwies auf zu erwartende Mehrkosten von mindestens 410 Millionen Euro in den kommenden vier Jahren im Vergleich zu einem Bundestag mit der gesetzlich vorgesehenen Mandatszahl von 598.
Die Bundestagsabgeordneten selbst äußerten die Sorge, dass das Parlament nicht mehr arbeitsfähig sei, dass die Demokratie nicht mehr wirklich funktioniere, wenn der Bundestag zu groß werde. Zu große Fraktionen, Arbeitsgruppen und Ausschüsse erschweren die Abläufe und machen die parlamentarische Arbeit schwerfälliger.
Auch die Platzfrage muss gelöst werden: Ein Erweiterungsbau sollte schon längst fertiggestellt sein, doch nun verschiebt sich der Termin mindestens auf das Jahr 2024.
Quellen: Gudula Geuther, dpa, AFP, Online-Redaktion