Ist das Schachspiel wirklich ein Spiel? Zum Spiel gehört der Zufall, doch im Schach ist alles kalkuliert; meine Züge sind berechnete Angriffe oder Reaktionen auf die Züge meines Gegenübers. Und vom Heiteren, ja Spielerischen ist Schach, je höher das Niveau liegt, ebenso meilenweit entfernt. Wiewohl die größten Schachgenies an sich und anderen stets eine schwer fassbare Intuition beobachten, ohne die es nicht zu gehen scheint. Eigentlich müsste Schach sich als Wissenschaft beschreiben lassen, nur übersteigt sie schnell jede Fähigkeit des Menschen: Schon nach drei Zügen sind unfassbar viele Zugkombinationen denkbar; selbst Computer können nicht alle möglichen Züge berechnen. Thomas Glavinic: Schach mute an wie von Außerirdischen beim interstellaren Picknick am Wegesrand hinterlassen.
Diese Sendung wurde erstmals am 18. April 2022 ausgestrahlt
Wahnsinn mit Methode
Versuch über einen unfassbaren Sport
Was ist Schach? Ein Brettspiel, werden die meisten antworten, und obwohl das nicht falsch ist, wird man mit dieser Erklärung nicht viel anfangen. Schach ein Brettspiel zu nennen ist vergleichbar damit, einen Lamborghini als Fahrzeug zu bezeichnen.
Ist es denn nun ein Spiel oder nicht? Der allgemeinen Definition von Spiel folgend: ja. Mit Scrabble, Backgammon und ähnlichen Zeittotschlägern hat es jedoch wenig gemeinsam. Ein zentraler Faktor im Charakter der meisten Spiele ist der Zufall, der Ausgang hängt hauptsächlich von Glück ab. Beim Schach gibt es nur freie Entscheidungen der einen Seite, auf die die andere nach eigenem Ermessen reagiert – von Glück keine Spur.
Also ist es doch kein Spiel? Eher nicht, dazu ist es zu ernst.
Ist Schach Wissenschaft? Wenn man bedenkt, dass schon nach drei Zügen Millionen verschiedene Stellungen entstanden sein können, wird klar, dass ein wissenschaftlicher Analyseansatz nicht falsch sein kann, aber ein rein mathematischer Zugang zum Schach muss scheitern. Computer dringen mittlerweile zwar viel tiefer in die Geheimnisse der endlosen Varianten ein als Menschen, aber alle Züge kann selbst ein Supercomputer nicht berechnen. Schach ist auch Wissenschaft, doch es ist noch vieles mehr.
Also was dann, ist es Kunst? Einerseits nein, weil Kunst eine Stellungnahme des Künstlers zur Welt impliziert. Davon kann beim Schach keine Rede sein. Andererseits ist Intuition nicht nur bei Künstlern jenes ungreifbare, unerklärliche Persönlichkeitselement, das über Durchschnitt oder Qualität, über Qualität oder Größe entscheidet, sondern auch bei Schachspielern. Schach hat eine künstlerische Dimension, es wirken darin einige Gesetze der Ästhetik und der ästhetischen Ökonomie, aber Kunst ist Schach trotzdem nicht. Aber was zur Hölle ist es denn dann?
Schach ist Schach. Es ist ein Organismus. Es ist das Einzige seiner Art.
Schach ist Schach. Es ist ein Organismus. Es ist das Einzige seiner Art. Und wie die Kunst oder das einzelne Kunstwerk stammt Schach aus einer anderen Welt – die Menschen, die es entworfen und langsam weiterentwickelt haben, wussten nicht einmal ansatzweise, was ihnen da eingefallen oder in die Hände gefallen war. So betrachtet, könnte Schach von Außerirdischen bei einem Picknick am interstellaren Wegesrand vergessen worden sein.
Man muss kein Kulturpessimist sein, um in der Menschheit eine Art Montagsauto der Evolution zu erkennen. So gesehen ist es kein Wunder, dass immer wieder jemand behauptet, die Menschheit hätte einst Kontakt zu Außerirdischen gehabt, und ohne fremde Hilfe wären Wunder der Baukunst wie die Pyramiden überhaupt nie entstanden.
Ich bin da skeptisch. Mir fällt kein Motiv ein, warum Aliens ein paar Jahrtausende lang auf Reisen gehen sollten, nur um einer Zivilisation ehemaliger Menschenaffen beizubringen, wie man gigantische Grabmale für Einzelpersonen baut. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass sie zum Schachspielen vorbeigekommen sind. Nein, halt! Womöglich doch.
Ich glaube, dass Schach mehr ist, als Menschen erfassen können. So wie Romane es sind.
Es mag sich seltsam anhören, doch ich habe Schach nie für mich entdeckt. Es war bereits da. In mir gibt es keine Erinnerung an eine Zeit ohne Schach, so wie es keine Erinnerung an eine Zeit ohne Sprache gibt. Beides muss es gegeben haben, ich bin ja kein Computerprogramm, zumindest will ich das hoffen. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir Schach je fremd gewesen wäre, so wie ich mich nicht daran erinnere, jemals des Lesens nicht mächtig gewesen zu sein. Bücher waren immer da. Schach war immer da. Der Rest der Welt hatte es dadurch schwerer, zu mir durchzudringen. Ein erwünschter Effekt, denn die Welt hatte sich mir schon in meinen ersten Lebensjahren als undurchschaubar und unzuverlässig präsentiert.
Meine Eltern behaupten, ich hätte mit drei oder vier Jahren zu lesen begonnen. Das klingt, als wäre ich vielleicht doch ein Computerprogramm, und als sie mir davon zum ersten Mal erzählten, war ich beunruhigt. Das müsse mich nicht beunruhigen, hieß es, ich sei eben ein so abartig lästiges Kind gewesen, dass man Wege hatte finden müssen, um mich zu neutralisieren. Das leuchtete mir ein. Erst viel später fiel mir auf, dass möglicherweise nicht nur ich durch Bücher und Schach die Wirklichkeit auf Distanz gehalten hatte, es könnte sich auch die Wirklichkeit mithilfe von Büchern und Schach vor mir versteckt haben. Wundern würde mich das ja nicht.
In meiner Familie kann jeder Schach spielen, so wie jeder von uns mit Messer und Gabel umgehen kann, manche können das eine besser, manche das andere. Ich lernte meinen Eltern zufolge beides, als ich fünf war. Mein Vater bekam fast täglich Besuch von seinem Bruder, meinem Onkel Davor. Beide stammen aus Jugoslawien, das es damals noch gab. Man könnte sagen, sie sind zwei recht typische Vertreter des bosnischen Landstrichs, wo meine Oma sie während der Feldarbeit zur Welt gebracht hatte: sehr temperamentvolle, eher konservative, im Kern ihres Wesens gutmütige Patriarchen. Ich freute mich immer, wenn es am Morgen an der Tür läutete, weil das bedeutete, es würde meinem Vater nicht auffallen, dass ich eigentlich in der Schule sein sollte.
Die beiden setzten sich auf die Veranda und spielten Schach. Sie spielten eine Partie nach der anderen, bis es dunkel wurde, manchmal darüber hinaus. Dabei fluchten sie, beschimpften sich, drohten Gott und der Welt mit ihrem Penis (das ist in ihrer Heimat nichts Ungehöriges), lachten, johlten, lachten, schrien, bewarfen einander mit Knoblauchzehen, lachten, spielten, spielten, spielten, spielten, spielten, spielten, spielten. Und spielten. Und spielten. Zwei Besessene, die zu faul waren, einer geregelten Arbeit nachzugehen, die aber genug Energie hatten, sich zwölf Stunden lang ununterbrochen – von den Raufereien zwischen den Partien abgesehen – mit höchst komplexen und abstrakten Problemen auf einem Spielbrett mit 64 Feldern zu beschäftigen.
Sie hatten vermutlich keine Zeit, mir die Regeln des Schachspiels zu erklären, denn ich soll mir die Grundkenntnisse durch bloßes Zuschauen angeeignet haben. Ich durfte ohnehin nur ans Brett, wenn einer von ihnen so betrunken war, dass er sich für eine halbe Stunde hinlegen musste, und der andere keine Lust hatte, so lange zu warten. Meistens war es mein Onkel, der größeren Schlafbedarf hatte.
Man sollte annehmen, mein Vater hätte mich ab und zu eine Partie gewinnen lassen. Hat er nie. Keine einzige. Beim Schach geht es um die Ehre, sagte er. Ich weiß bis heute nicht, was das heißen soll. Beim Schach geht es um Schönheit, um ein höheres Prinzip, um das Rätsel einer anderen Welt, um was auch immer, doch mit Ehre hat es nichts zu tun.
Dass Ehre eine Währung ist, können nur Männer glauben. Die Mehrzahl der Schachspieler sind Männer. Viele von ihnen haben das Spiel von ihren Vätern gelernt. Der Psychiater und Schachgroßmeister Reuben Fine vertrat die Ansicht, im Schach würde sich der ewige Konflikt zwischen Vater und Sohn widerspiegeln. Nach seiner Auffassung repräsentiert der gegnerische König den Penis des Vaters, und der Wunsch zu siegen entspringt dem Wunsch, den Vater zu entmannen.
Ich bin kein Psychologe, vielleicht werde ich Fines Theorien mit meiner Formulierung nicht gerecht. Präziser gesagt: hoffentlich. So oder so erscheint mir dies als der geeignete Zeitpunkt, um festzuhalten, dass sich diese Aussagen nicht mit meinen Beobachtungen decken.
Schach ist ein klassischer Zweikampf, dessen Ausgang nicht von Würfelglück, sondern von der individuellen Spielstärke der beiden Gegner abhängt. Das unterscheidet es fundamental von den meisten Spielen, von denen nur wenige ohne Würfel und ohne Los auskommen. Und was das Leben anbelangt, nun ja. Gott würfelt nicht, meinte Einstein, und das mag stimmen, schließlich war Einstein Einstein, aber für uns kleine Menschlein sieht es nicht danach aus. Aus unserer Perspektive wirkt die Welt eher wie ein Spielcasino und unser Schöpfer wie das Paradebeispiel eines untherapierbaren Zockers, der in jedem anderen Universum Hausverbot hat. Das Leben ist nichts als eine endlose Abfolge von Zufällen, auf die wir keinen Einfluss haben, auch wenn uns Kalendersprüche und Selbsthilfeseminare etwas anderes versichern.
Wer will, darf jetzt deprimiert sein, aber das wäre Zeitverschwendung. Es gibt auch weniger pessimistische Haltungen zur Welt, die Beachtung verdienen, und wer mit den Prinzipien des Schach vertraut ist, dem wird es leichter fallen, sie zu adaptieren.
Schach lehrt, Grundsätzen zu folgen. Weil Grundsätze weithin mit Schablonendenken assoziiert werden, klingt das Wort Grundsätze für manch kritischen Geist alarmierend, woran es nichts auszusetzen gibt, denn auch zehn Fehlalarme sind besser als ein einziger begründeter Alarm, der ausgeblieben ist. Im Schach ist Grundsätzen zu trauen, weil sie selten mit Ideologie kontaminiert sind.
Wenn man sich an die richtigen Grundsätze hält, sollte man sich in jeder Situation zurechtfinden, die sich mit der Fortdauer der Partie ergibt. Ein Gigant der Schachgeschichte, der Deutsche Emanuel Lasker, formulierte es so: „Wer erst richtig spielt und dann sucht, wird immer finden.“
Das klingt etwas holprig, aber Lasker war Mathematiker und hatte andere Prioritäten. Vor allen Dingen hatte er recht.
Schach ist aus seinem Wesen heraus gerecht. Irgendwann tritt im Schach die Wahrheit zutage. War diese Entscheidung gut? War jene schlecht? Wird sich weisen. Anders als im Leben gibt es beim Schach für den Spieler die Chance einer lehrreichen post-mortem-Analyse.
Wenn man über all das nachgedacht hat, wird man begreifen, was für ein großzügiges Angebot Schach jedem von uns macht: Schach ist neutral, unbestechlich, unparteiisch und gerecht. Es entmündigt uns nicht, es entzieht uns nicht die Verantwortung für unsere Handlungen, wer sich an ein Schachbrett setzt, ist ein freier Mensch, der es selbst in der Hand hat, ob er gewinnt oder verliert.
Wo in der realen Wert finden wir solche Zuverlässigkeit, wo herrscht solche Klarheit? Im Leben ist man nirgends und niemals vor dem Zufall sicher.
Schach dagegen macht uns zu Königen. In Textsammlungen niederen Ranges wird Schach oft das „königliche Spiel“ genannt. Oberflächlich betrachtet leitet sich dieser Beiname von der wichtigsten Spielfigur ab, dem König, dessen bevorstehender „Tod“ die Partie beendet.
Man beachte: Das Spiel ist schon vor dem Tod des Königs zu Ende. Zur Exekution kommt es nicht. Nachdem auf beiden Seiten fast alle Figuren geopfert wurden, soll es endlich einem der Verantwortlichen an den Kragen gehen, aber nichts da. Der eine König sagt zum anderen: Okay, du hast gewonnen, nicht meine Schuld, meine Generäle sind unfähig, lass uns besprechen, welche schöne Gegend meines Reiches ich dir überlassen darf. Die beiden gehen gemeinsam auf ein Bier, während die gefallenen Läufer, Türme, Springer und Bauern von den Überlebenden in einem Massengrab verscharrt werden.
Ob man das als Ironie oder Zynismus bezeichnen will, ist eine Geschmacksfrage. Wichtig ist nur, dass im Schach beide Spieler, im Gegensatz zu ihrem realen Leben, plötzlich Könige sind, ausgestattet mit absoluter Macht.
Dieser psychologische Aspekt des Schachs wird häufig übersehen. Beim Schach nehmen wir vorübergehend eine zusätzliche Identität an, wir werden zum König. Wenn wir den Gegner mit unserer letzten verbliebenen Spielfigur mattsetzen, waren alle vorangegangenen Opfer gerechtfertigt. Solange wir zwischen Spiel und Realität unterscheiden können, ist gegen diese kompromisslose Haltung nichts einzuwenden.
Wer sich ins Schach vertieft, kommt nie wieder los. Etwas bleibt in ihm. Egal, was ihn ursprünglich ins Schach gezogen hat, am Ende ist er diesem Wesen verfallen.
Kann man erklären, warum man jemanden liebt? Nein. Aber man kann erzählen, wie die Liebe begonnen hat. Dabei wird man unweigerlich feststellen, wie viele Ebenen dieser Liebe man noch gar nicht erforscht hat.
Für mich begann Schach mit der Freude am Spiel. Je länger ich spielte, desto bewusster wurde mir die unbeschreibliche Komplexität des Konzepts. Schließlich entdeckte ich die unorthodoxen Persönlichkeiten und Denker, die das Schach geprägt haben. In der Schachgeschichte wimmelt es nur so von Genies, Cholerikern, Raufbolden, Gedächtniskünstlern, Frauenhelden, Philosophen, Soziopathen, Trinkern, Zockern, Wissenschaftlern und Paranoikern, die so groteske Dinge getrieben haben, dass ich dagegen sogar mich selbst nur für durchschnittlich exzentrisch halte, und ich hatte schon einmal zwei Stunden lang eine intensive telepathische Konversation mit meinem zukünftigen Ich, das der Vulkan war, auf dem ich saß, und das mir prophezeite, in 8.000 Jahren würde ich diese Unterhaltung ein zweites Mal führen, mit vertauschten Rollen.
Mit neun kam ich auf den damals exzentrischen Gedanken, mir einen Schachcomputer zu kaufen, die gerade auf den Markt gebracht worden waren. Mein Vater weigerte sich, das Gerät auch nur anzusehen, er hielt es für Hexenwerk. Mein Onkel überwand seine Furcht, wohl nur, um meinem Vater eins auszuwischen. Er spielte eine Partie, verlor, spielte eine zweite, gewann, danach wollte er nicht mehr. Er wirkte erleichtert, als wäre er gerade noch mal so davongekommen. Während die beiden ihre Schlacht fortsetzten, begann ich neben ihnen meinen Kampf gegen die Maschine.
Ich spielte schon seit längerer Zeit Schach, mir war das Spiel vertraut, so hatte ich zumindest angenommen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass das, was ich sah, nur eine Oberfläche war. Auf intuitive Weise begriff ich dies an jenem Nachmittag.
Aus heutiger Sicht stellt sich für mich die Sache so dar: Irgendwann an jenem Nachmittag scheint sich meine Wahrnehmung der Wirklichkeit oder doch die Wirklichkeit selbst verändert zu haben. Ich war zwar ich, aber ich war woanders, und dort sah ich anders aus. Ich war plötzlich viel älter. Ich befand mich nach wie vor auf der Veranda, aber es war, als wäre an derselben Stelle ein zusätzlicher Ort aufgetaucht.
Es wäre gelogen, würde ich behaupten, ich hätte damals verstanden, was vor sich ging, ich verstehe es ja nicht einmal heute. Erst viel später wurde mir klar, dass sich mein Vater und mein Onkel nicht in dieser Welt befanden, wenn sie Schach spielten. Es war keine Parallelwelt der Schachphantasie, es war ein anderer Ort, der zugleich in mir war wie ich in ihm. Das Konzept von Zeit existierte darin nicht, nicht nach unserem Verständnis. Ich sah keine anderen Menschen, aber ich fühlte mich nicht allein. Ich kannte diesen Ort, ich wusste nur nicht, woher.
Heute weiß ich, dass ich auf eine mein Verständnis übersteigende Weise von dort stamme, jedenfalls zum Teil. Es ist nicht meine einzige Heimat, es gibt dahinter weitere Orte, die ich nicht sehe, doch deren Existenz mir immer bewusster wird. Schach, Kunst, Romane, Liebe, dort sind sie Teil einer natürlichen Ordnung, hier sind sie unfertig. Und mit mir ist es nicht anders. Was wir Hier und Jetzt und unser Leben nennen, empfinde ich als eine Art existenzielles Auslandssemester. Das ist nicht angenehm, aber es zu wissen macht die Sache leichter. Im Gegensatz zu anderen Menschen weiß ich, dass mir etwas fehlt, so wie jedem von uns etwas fehlt, und dadurch bin ich nicht wie so viele andere zur ewigen Suche verurteilt. Was nicht bedeutet, dass ich nicht trotzdem gelegentlich suche.
Der Computer hatte acht verschiedene Schwierigkeitsstufen, 1 war die leichteste, 8 war Stalingrad. Ich fing mit Stufe 8 an und hatte nach ein paar Zügen verloren. Etwas demütiger setzte ich die Spielstärke auf 1. Auch da verlor ich die ersten drei Partien. Die vierte gewann ich. Die fünfte auch. Die sechste auch. Die siebente auch. Zum ersten Mal empfand ich die süchtig machende Euphorie des perfekten Moments. Wenn man plötzlich weiß, dass in diesem Moment alles stimmt, ausgelöst durch eine gewonnene Partie. Als ich die achte Partie verlor, bemerkte ich, dass mein Onkel und mein Vater nicht mehr auf ihr Schachbrett starrten, sondern jeden meiner Züge verfolgten. Das scheint mich angespornt zu haben, denn ich gewann nach der neunten Partie auch die zehnte. Danach dauerte es drei Tage, bis ich auf Schwierigkeitsstufe 7 so gut wie jede Partie gewann. Interessanterweise benötigte ich für die letzte Stufe zwei Wochen, fast fünfmal so lang wie für die sieben Stufen davor. Und bis ich meinen Onkel und meinen Vater regelmäßig besiegte, dauerte es noch einige Monate. Damals kam es mir lang vor, heute finde ich es beachtlich, dass ich mit zehn der stärkste Schachspieler meiner Familie war, was einige Generationen von kroatischen und bosnischen Groß-, Halb- und Ganz-Cousins einschloss.
Möglicherweise ist der folgende Gedanke Unsinn, aber er kommt mir immer wieder: Vielleicht wurde ich deshalb ein stärkerer Spieler als meine verrückten, aber liebenswerten balkanischen Verwandten, weil ich im Gegensatz zu ihnen von Anfang an eine Vorstellung vom Wesen des Schachspiels hatte.
Das ist in vielfacher Hinsicht ein anmaßender Satz, vor allem aufgrund der impliziten Behauptung, Schach wäre nicht einfach ein Spiel, sondern etwas viel Größeres, als wir annehmen. Wenn ich von einem Wesen spreche, handelt es sich nicht um einen Mechanismus, sondern um einen Organismus. Und genau das glaube ich: Schach lebt. Es ist eine Lebensform, die wir nicht einmal im Ansatz verstehen.
Bevor jetzt einer lacht: Moment, es wird noch schlimmer. Ich leide seit meiner Kindheit an Gedankenüberschuss, was man früher mit „phantasiebegabt“ umschrieb, und deswegen würde ich nicht einmal ausschließen, dass Schach ein Lebewesen ist, das so etwas wie einen Orgasmus hat, wenn es von Menschen gespielt wird.
So, jetzt wäre Zeit, ein bisschen zu lachen. Ich bin schon dabei.
Dass ich diesen Gedanken bizarr finde und mich darüber amüsiere, bedeutet nicht, dass ich ausschließe, es könnte etwas Wahres daran sein. Ich halte so ziemlich alles für möglich. Deshalb bin ich nicht Schachspieler, sondern Schriftsteller geworden. In der Literatur ist alles möglich, im Schach nicht. Beide Systeme würden anders gar nicht funktionieren. Literatur braucht Unendlichkeit, Schach braucht Grenzen. Für mich haben sie dennoch denselben Ursprung.
Meinen ersten Roman schrieb ich mit 17. Gut war er nicht, aber immerhin hatte ich ihn geschrieben. Den zweiten schrieb ich mit 18, der begann katastrophal und wurde dann langsam schlechter. Mit 22 hatte ich sieben Romane geschrieben, die nicht viel taugten. Nach Ansicht einiger Menschen, deren Urteil ich schätze, änderte sich mit dem achten Roman die Qualität meines Schreibens. Er handelte von einem Schachspieler. Es sollte mein erstes Buch werden.
Von Anfang an war bei diesem Roman alles anders. Ich erlebte ziemlich verrückte Dinge. Plötzlich war ich fast eins mit etwas so Abstraktem wie einem Roman, von dem noch keine Seite existierte, der dennoch da war und von dem ich nicht wusste, wie ich zu ihm gekommen war. Eines nachts war er aufgetaucht. Seither war er da und schwieg. Ich konnte ihn von außen wahrnehmen, und ich konnte mich in seinem Inneren bewegen. Mir drängte sich ständig das Bild eines Tauchers auf, der bei trübem grünen Licht im Inneren einer gigantischen Kathedrale auf dem Meeresgrund schwebte. Ich wusste, der Taucher war ich.
Damals hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, mit einem Ort in Verbindung zu stehen, der sich unserem Verständnis so radikal entzieht, dass er echt sein muss, weil ein Mensch nicht dazu imstande wäre, ihn sich auszudenken. Wo ich nun jeden Tag war, mal für Momente, dann für Stunden, von denen nur Momente blieben, dort war Schach nicht einfach Schach. Ein Roman war nicht einfach ein Roman. Alles lebte.
Ich begreife nicht, wieso ich keine Angst hatte. Vielleicht, weil mich das eigentlich beunruhigende Gefühl beruhigte, auch ich selbst wäre schon dort, noch ehe ich ankam, und was ich war, beantwortete an jenem Ort alle Fragen. Zu dumm, dass man die Antworten zurücklassen muss. Was ich von dort mitnehmen kann, reicht auf dieser Seite aus, um mit meinen Büchern Schritt halten zu können und überdeutlich die Mängel und Fehler unseres Daseins, wie wir es gestalten, zu erkennen.
Als ich 12 war, wollte ich Schachgroßmeister werden, insgeheim hatte ich den Weltmeistertitel im Blick. Als ich 18 war, wollte ich große Romane schreiben, insgeheim hatte ich den Nobelpreis im Blick. Im Laufe der Zeit verschieben sich Prioritäten, wie wir wissen, und man sieht die Welt entweder realistischer oder zunehmend unrealistisch. Es liegt in der Natur der Sache, dass ich selbst nicht wissen kann, wie sich das bei mir verhält. Ich halte es für realistisch, dass ich den Schachweltmeistertitel in den nächsten 100 Jahren eher nicht gewinnen werde, aber große Romane will ich noch immer schreiben. Ob mir das gelingen wird, bleibt abzuwarten, Manchmal glaube ich, ich habe eine Chance.
Meine Selbstzweifel sind berechtigt, sie stammen aus unserer Welt. Meine Zuversicht, große Romane zu schreiben, ist ebenfalls berechtigt, denn ich beziehe sie aus der anderen Welt, aus der die Romane selbst stammen.
Ich weiß nicht, ob ich der Autor eines Romans bin oder sein Filter. Ich weiß nur, dass Romane zu groß sind, um von Menschen verstanden zu werden. Wir können sie schreiben, aber mehr nicht. So wie Schach zu groß ist, um von Menschen verstanden zu werden. Wir können es spielen, mehr nicht. Manche Menschen haben gemeinsam mit ihren Gegnern Partien geschaffen, die man noch Jahrhunderte später bewundert wie eine große Sinfonie. Und doch ist es möglich, dass sie nur zu einem geringen Teil verstanden haben, was sie da tun.
Der langjährige Weltmeister José Raúl Capablanca wusste immerhin, dass er nichts wusste. Er war ein brillanter Spieler, der mit einem kurzen Blick auf das Schachbrett die Dynamik einer Stellung durchschaute, die anderen Großmeistern auch noch nach Stunden ein Rätsel blieb. Er sagte einmal: „Ich habe keine Ahnung, warum ein Zug gut ist. Ich weiß es einfach.“
Über Wilhelm Steinitz, der als der Begründer des Positionsspiels gilt und ab 1886 als erster Mensch offiziell den Titel des Schachweltmeisters trug, lässt sich sagen, dass er zumindest selbst der Überzeugung war, ein Genie zu sein. Mir fällt jedenfalls sonst nicht viel ein, was jemanden auf die Idee bringen könnte, Gott nicht nur zu einer Partie Schach herauszufordern, sondern dem Allerhöchsten zusätzlich einen Bauern und einen Zug als Vorgabe anzubieten, damit die Sache wenigstens noch eine Weile spannend bliebe.
Es wäre interessant zu sehen, wohin ein gemeinsamer Abend von Capablanca und Steinitz führen könnte. Leider sind beide derzeit tot.
Genies wie die großen Schachspieler sind die Brücke zu höheren Welten. Sie vollbringen Wunder, und die Existenz von Wundern bedeutet, dass uns selbst eines widerfahren kann. Genies geben uns Hoffnung. Wenn Genies Übermenschliches leisten können, ist das der Beweis, dass Überirdisches existiert. Und es wäre wirklich gut, wenn es noch etwas Besseres als uns gäbe, denn alles, was in unserer Welt wertvoll ist, war schon vor uns da. Es mag manchen ein Trost sein, dass alles, was in unserer Welt schrecklich ist, auch schon vor uns da war, doch ich gehöre nicht dazu. Ich will da sein, wo das Neue entsteht. Ich will wenigstens davon träumen dürfen, auf etwas Neues zu stoßen. Ich will die Welt verändern. Noch lieber wäre mir, eine neue zu schaffen, aber das kann ich nur auf Papier. Und auf dem Schachbrett.
Jeder große Roman ist neu, auch wenn seine Geschichte schon unzählige Male erzählt wurde. Jede Stellung ist neu, auch wenn sie schon in Zehntausend Partien aufs Brett gekommen ist. Schach ist so voll, so reich, so vielschichtig, dass es keine menschliche Erfindung sein kann. Oder doch – in jenem Ausmaß, in dem ich der Autor meiner Romane bin. Auf dem Buch steht mein Name, aber der Name, der unter dem Titel eines Romans zu lesen ist, hat an dem Roman nicht viel mehr Anteil als der Geburtsort am Charakter eines Menschen.
Übertreibe ich? Vermutlich. Wie sehr? Das müsste man das Schach und den Roman selbst fragen. Ich schließe nicht aus, dass wir eine Antwort bekommen könnten. Ich schließe jedoch aus, dass wir sie verstehen würden.
Vielleicht auch besser so.