Jochanan Shelliem: Jan Thomasz Gross, in Warschau geboren, lehren Sie heute an der renommierten Universität von Princeton. In Ihren Arbeiten haben Sie den Finger immer wieder in die polnische Wunde gelegt und die verdrängte Vergangenheit Ihres Heimatlandes thematisiert. Geboren wurden Sie 1947, aufgewachsen sind Sie in den 50ern, politisiert und eingesperrt wurden Sie in den 60ern. Wie haben Sie die polnische Historiografie zwischen Katyn und Treblinka erlebt?
Jan Tomasz Gross: Die Geschichte, vor allem die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist für das polnische Selbstverständnis außerordentlich wichtig. Aus einer Vielzahl von Gründen. Erstens handelte es sich dabei um eine sehr dramatische Geschichte. Das gesamte Staatsgebiet ist verschoben worden, die Staatsgrenzen wurden neu gezogen, die Bevölkerung wurde dezimiert, die Rolle Polens völlig neu definiert, seine Geschichte auf ein neues Gleis gesetzt. All das ist zwischen 1939 und 1945 oder 1948 geschehen. Und zweitens wurde es Polen nicht gestattet, seine Geschichte adäquat aufzuarbeiten, als die kommunistische Periode nach dem Krieg begann. Ereignisse wurden verdrängt, andere in offiziellen Darstellungen entstellt.
Shelliem: Worauf legte man in offiziellen Abhandlungen Wert? Welche Ereignisse sah man damals für die polnische Geschichte als konstitutiv an? Sprach man von Katyn?
Gross: Nein, natürlich nicht. Alles, was mit dem Krieg verbunden war, wurde, vor allem während der kommunistischen Periode, von seiner Bedeutung für die Verhältnisse nach dem Krieg bewertet. Alles galt als Vorgeschichte für das Bündnis Polens mit der Sowjetunion und die vollständige brüderliche Abstimmung seiner Rolle in der Welt.
Als Argument dahinter galt, das die Sowjetunion Polen vor den Aggressionen des Westen schützt, auch aus Westdeutschland. Und deswegen verschwieg die offizielle Kriegshistoriografie - und dies war die Einzige, deren Darstellung zugelassen war - alle Taten, in denen die Sowjetunion Polen geschadet hatte. Insofern sprach man nicht nur nicht von Katyn, man verschwieg auch die den Morden vorausgehende Besatzungszeit der Sowjets, das waren fast zwei Jahre, verleugnete den Landraub durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, in dem die Einflusssphären in Europa von Joachim von Ribbentropp, und Wjatscheslaw Molotow im Beisein Stalins festgelegt worden sind. Die Gebietsansprüche, die der Ribbentropp-Molotow Pakt befriedigte, waren Forderungen Stalins. All diese Ereignisse aber hatte es nie gegeben, sie wurden tabuisiert.
Shelliem: Auf welche Weise sprach man von den Kriegsopfern? Sprach man von den drei Millionen Juden, die in Polen getötet worden sind?
Gross: Was die Opferzahlen betrifft, ist Polen das Land mit der höchsten Verlustrate von Zivilisten, bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Zu den drei Millionen polnischer Juden, die ermordet worden sind, rechnet man heute zwei Millionen polnischer Zivilisten. Früher sind die Schätzungen höher gewesen. Man sprach von drei Millionen, insgesamt also von sechs, beziehungsweise fünf Millionen polnischer Staatsbürger, die getötet worden sind. Das ist eine Atem beraubende Ziffer. Wenn man daran denkt, dass vor dem Krieg 35 Millionen in diesem Lande lebten. In Polen hat es keine Familie gegeben, die kein Opfer unter ihren Mitgliedern zu beklagen hat.
Shelliem: Wann wurde das Massaker von Katyn zum nationalen Symbol des jungen Polen? In Katyn hatten NKWD Einheiten im März/April 1940 auf Stalins Weisung 22 000 polnische Offiziere, Polizisten und Intellektuelle unter anderem in einem Wald ermordet. Wann ist das in Polen bekannt geworden?.
Gross: Diese Geschichte ist sofort nach den Erschießungen bekannt geworden. Die Gräber waren 1943 vom deutschen Militär geöffnet worden, als die Wehrmacht vorrückte und auf das Gelände der sowjetischen Geheimpolizei, des NKWD, nahe des Dorfes Katyn gestoßen sind. Man hat die Leichen exhumiert, man fand auch viele andere Massengräber und die Deutschen hatten einen großen Propagandasieg daraus gemacht. "Hier stehen wir als Zeugen für die Verbrechen der Sowjets an Polen", sagten sie. Der Krieg war da noch in vollem Gang. Dann wendete sich das Kriegsglück gegen Deutschland und man dachte darüber nach, einen Schauprozess zu organisieren. Aber es war zu spät, die Deutschen hatten in Polen zu viele Verbrechen begangen. Die Angelegenheit wurde in Polen sehr lautstark debattiert. Und die polnische Exilregierung, die in London saß, der polnische Premierminister Wladislaw Sikorski selbst erklärte sich damit einverstanden beim Internationalen Roten Kreuz eine Anfrage zu stellen, um die Verantwortlichen für das Verbrechen zu ermitteln. Hatten die Sowjets diesen Massenmord begannen oder waren es die Deutschen, wie die sowjetische Propaganda behauptete.
Es war sehr einfach herauszufinden, dass sie von den Sowjets getötet worden waren, weil die polnischen Offiziere nicht einmal ausgezogen worden waren. Sie trugen ihre Mäntel, in ihren Taschen fand man ihre Feldpost. Außerdem galten zu dieser Zeit eine Vielzahl von Polen als in der Sowjetunion verschollen.
Im Schutz des Bruderstaates hatte die Exilregierung eine polnische Armee aufbauen wollen. Polnische Gefangene waren nach dem deutschen Überfall auf Polen aus sowjetischer Haft entlassen worden. Stalin hatte den Aufbau einer polnischen Armee autorisiert. Und plötzlich waren tausende von Offizieren wie vom Erdboden verschluckt. Es gibt das Protokoll eines Dialogs zwischen General Sikorski, der von Stalin als Verhandlungspartner akzeptiert wird. Der Premierminister der polnischen Exilregierung kommt aus London, es gibt in Moskau ein Gespräch mit Stalin und Sikorski fragt nach dem Verbleib der Verschwundenen, er legt die Namensliste vor. "Wo sind die Offiziere?" Und Stalin scheint verwirrt, er geht im Raum herum. "Vielleicht sind sie ausgebrochen!" Anders, der mit dem Aufbau der polnischen Armee beauftragte General, auch er ein ehemaliger Gefangener, fragt, "Wohin sollen sie geflüchtet sein?" Und Stalin antwortet erregt: "In die Mandschurei!"
Das waren alles Lügen. Stalin hatte ein Dekret unterzeichnet und den Mord angeordnet. Später fanden sich all diese Dokumente auf. Die Frage also, was mit den polnischen Offizieren, die sich in sowjetischen Haft befunden hatten, geschehen sei, stand also schon während zur Kriegszeit im Raum. In der polnischen Untergrundpresse wurde sie ausgiebig diskutiert. Insofern kamen die Hintergründe von Katyn bereits Ende 1943, Anfang 44 an die Öffentlichkeit. Dann aber schoben die Sowjets und polnische Kommunisten mit steinerner Miene den Deutschen die Schuld zu. Es gab sogar den Versuch, das Massaker von Katyn im Nürnberger Prozess als Nebenklage einzubringen. Das aber scheiterte.
Es gab also in Polen die offizielle Geschichtsversion, die von Kommunisten und Sowjetischen Funktionären festgelegt, den Deutschen die Schuld an diesem Verbrechen gab und es gab die Erzählungen innerhalb der Familie, in denen man das anders sah.
Shelliem: Wie hat sich diese Dichotomie zwischen den privaten Überlieferungen, den tradierten Geschichten der Familie und der amtlichen Geschichtsschreibung ausgewirkt? Wann brach dieser Widerspruch auf. Zwanzig Jahre bevor Sie sich mit einem anderen Tabu beschäftigen und 2001 in "Nachbarn" die Ermordung der Juden von Jedwabne am 10. Juli 1941 durch ihre Mitbürger analysieren, wenden Sie sich erstmals diesen heiklen Themen zu: 1979 erscheint von Ihnen eine Arbeit über die "polnische Gesellschaft unter deutscher Besatzung", also das Generalgouvernement 1939 bis 1944, 1985 nehmen Sie sich die "Sowjetisierung Ostpolens" vor, als Polen nach dem Hitler-Stalin Pakt von 1939 bis 1941 von den Sowjets regiert wird. Waren all diese Themen zu dieser Zeit tabuisiert, mit einer amtlichen Legende verhüllt, oder gab es eine friedliche Koexistenz der Kenntnisstände, wo in der Bevölkerung das eine überliefert wurde und unter Historikern anderes galt?
Gross: 1969 verlasse ich Polen und beginne mein Studium in Amerika. Mit der Geschichte der sowjetischen Besatzung beschäftige ich mich erst in den USA. Als die Bücher erscheinen, lebe ich also in einer anderen Situation. Bevor ich mich der Besatzungszeit zuwende, bearbeite ich die Zeit im Zweiten Weltkrieg, insgesamt zehn Jahre lang habe ich mich mit der polnischen Geschichte auseinandergesetzt, ohne jüdische Belange zu thematisieren.
Das galt damals als historiografischer Standard, überall. Auch meine französischen und niederländischen Kollegen schrieben über den Zweiten Weltkrieg und sparten dabei die Geschichte der Juden in ihrem Lande aus. Dafür gab es ja jüdische Spezialisten. Mit diesem Tenor schrieb auch ich mein Buch über die Erfahrungen Polens unter deutscher Besatzung und dann das andere Buch - es hieß "Revolution von Außen" - es behandelte das, was im Osten Polens zur sowjetischen Besatzungszeit geschah. Jüdische Themen wurden in beiden Themen kaum bearbeitet. Und ich fühlte mich wohl dabei, irgendwo gab es ja jüdische Historiker, die sollten das behandelt. Heute sehe ich dies als eine vollständige Idiotie. Die Geschichte der Juden sollte als integriertes Element der Nationalgeschichte betrachtet und nicht abgespalten werden. In meinen Schriften habe ich das exemplarisch analysiert.
Doch wenn Sie fragen, ob diese Themen damals in Polen als Tabu gegolten haben, muss ich sagen, in gewissem Maße ja. 1980 konnte man so etwas nicht schreiben. Auch wenn es zurzeit von Solidarnosc eine kurze Phase gibt, in der man über alles schreiben kann. Über die Opposition im Untergrund, über die antikommunistische Exilregierung, deren Organisation während des Krieges, ja darüber wurde gearbeitet, auch wenn diese Abhandlungen ideologisch sehr eingefärbt worden sind. Über die Geschichte von Ostpolen unter sowjetischer Besatzung zu schreiben, war jedoch verboten. Memoiren wurden viel veröffentlicht.
Außerhalb von Polen aber hatte sich seit dem Krieg eine bedeutende Diaspora entwickelt, wichtige kulturelle Zeitschriften hatten in Paris ihren Sitz: Die Monatszeitschrift "Kultura" war das wichtigste Blatt der polnischen Emigration, eine wundervolle literarisch-politische Monatszeitschrift, die bis zum Tode ihres Herausgebers im Jahre 2000 erschienen ist. Jerzy Giedroyc war sein Name. Diese Zeitschrift war ein hervorragender Gegenpol zu den kommunistisch dominierten Organen Polens. Große polnische Schriftsteller schrieben dort, Witold Gombrowicz, Wierczinski, Czeslaw Milosz, der spätere Literaturnobelpreisträger, all das sind große Namen der polnischen Kultur.
In Paris wurde auch eine Serie historischer Dokumente ediert. Während in Polen die eigene Geschichte verleugnet und verzerrt wurde, entwickelte sich die "Historische Quartalszeitschrift" als der Ort, wo man darüber sprach. Doch über Juden fand sich auch hier nicht viel.
Ich arbeitete auch nicht über die Geschichte der polnischen Juden - aus Ignoranz. Später als ich mir das Material in die Hände gefallen ist, habe ich begriffen, was für eine gigantische Geschichte da ausgegrenzt worden ist. Damals aber hatte sich keiner dafür interessiert.
Die Kriegsgeschichte der Juden in Polen galt als Spezialgebiet. In Warschau gab es das Jüdische Historische Institut, in dessen Umfeld eine Monatszeitschrift erschien, vielleicht war es auch ein Vierteljahresblatt, etwas also bewegte sich da. Doch auch viele jüdische Historiker, die dort arbeiteten, emigrierten 1956 und 1968 nach Israel. Yad Vashem, das große Haus in Jerusalem, das sich als Hüterin der Erinnerung an die Shoah versteht und viel zu diesem Thema publiziert wird heute von ihnen getragen, einen Großteil seines Stabs stellen heute polnische Historiker, die zuvor in Warschau arbeiteten.
Shelliem: Was für ein Bild von Juden herrschte in Polen vor, als Sie 1969 Warschau verlassen haben? Wie ging die polnische Gesellschaft mit der Emanzipationsgeschichte polnischer Juden um, die in der nationalen Bewegung Polens einen Ausweg aus dem Getto sahen?
Gross: Das lässt sich durch ein symbolhaftes Buch verdeutlichen, das 1967 veröffentlicht worden ist. Der Autor dieser Schrift, ein in Polen sehr bekannter Historiker und Politiker, er hieß Wladyslaw Bartoszewsky, gab es mit Zofia Lewinówna heraus.
Der Titel "Er stammt aus meinem Mutterland" ist ein Zitat, das sich auf ein Gedicht bezieht. Und das Buch enthält eine Kollektion jüdischer Memoiren, die im Jüdischen Historischen Institut gesammelt worden sind, und die Bartoszewsky dazu dienen soll, die Bemühungen zu illustrieren, die christliche Polen unternehmen, um Juden zu retten.
Wenn man so will, enthält dies kleine Buch, das in Wirklichkeit ziemlich umfangreich ist, alle Elemente der polnisch-jüdischen Geschichte: Juden wurden während des Krieges umgebracht, Polen taten, was sie konnten, um Juden zu helfen. Es gab einige Skandale, als bekannt geworden ist, das Polen Juden an die SS verraten haben, dass andere sich bezahlen ließen, dafür gibt es in Polen ein bestimmtes Wort.
Ein brutales Wort, es wird für nichts anderes benutzt, nur für Menschen, die Juden im Krieg verrieten. Solche hat es gegeben, doch Abschaum gibt es überall. Das ist kein problematischer Aspekt. Dieser Bereich wird ausgiebig recherchiert und dokumentiert.
Das Buch dokumentierte also, was während des Krieges zwischen Polen und Juden geschehen war. Es markierte das Bewusstsein der polnischen Gesellschaft. Doch dann begannen sich die Erkenntnisse zu zersetzen: Während der Zeit von Solidarnosc entwickelte sich eine Diskussion über das Pogrom von Kielce, um ein Beispiel zu geben. Zur Zeit des Kielce-Pogroms, im Juli 1946, gab es in Polen keine deutsche Besatzungsmacht. Die Schuld konnte niemandem zugeschoben werden. Polen hatten Juden umgebracht.
Und doch entwickelte sich eine Historiografie, die das Pogrom von Kielce als Reaktion auf eine jüdische Provokation der Kommunisten ansah. Um westliche Sympathie für Polen zu torpedieren, habe der NKWD und andere kommunistische Kräfte die Morde provoziert, sodass man hernach auf die Polen als Barbaren und Antisemiten zeigen konnte, um die Kontrolle Polens zu rechtfertigen.
Natürlich ist das keine gute Abhandlung, denn sie übersieht dass eine große Zahl von Menschen an dem Pogrom von Kielce beteiligt gewesen sind. Was trieb diese Menschen an? Waren das alle Kommunisten oder wurden all diese Menschen von Kommunisten verführt.
Diesen Fragen geht die Historikerin Christina Kersten nach, sie nutzt die kurze Phase während der Hochzeit von Solidarnosc, in der so gut wie alles veröffentlicht werden konnte, bevor die Bewegung im Dezember 1981 unterdrückt worden ist. Ich glaube sogar, ihre Arbeit erschien in der letzten Ausgabe der Wochenschrift von Solidarnosc. Diese Ausgabe wurde auch später nicht zensiert. Der Redakteur dieser Ausgabe hieß Tadeusz Masowiecki, er wurde später der erste nicht-kommunistische Premierminister Polens nach dem Krieg.
Christina Kersten schreibt also einen großen Artikel über das Pogrom von Kielce,. Was bedeutet es, wenn man sagt, die Leute hätten auf Provokationen reagiert. Wer habe sie provoziert und was für eine Bild habe man in Kielce von den Juden im Kopf gehabt. Das Problem liegt also bereits in der Luft. Ich fing erst in den achtziger Jahren an, darüber nachzudenken.
Shelliem: Was war der Auslöser, was haben Sie gelesen?
Gross: Ich las einige Artikel...
Shelliem: Den von Jan Blonsky?
Gross: Blonsky kommt erst später. Erst schreibe ich einen Artikel, der in einer kleinen Zeitschrift erscheint, "Annex" erschien in London, es ist ein Organ polnischer Emigranten, das es eine Zeitlang gab. Eine Ausgabe von "Annex" widmeten wir den polnisch-jüdischen Beziehungen. "Annex" hatte kein großes Publikum, weil die polnische Zeitschrift in London erschien, doch zu diesem Zeitpunkt war ich mir der Relevanz, auch der Brisanz des Themas bereits bewusst. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Blonskis Artikel erschien, bin ich mir also bereits über das Ausmaß des gewaltigen Problems der polnisch-jüdischen Kriegsgeschichte bewusst gewesen.
Shelliem: Doch es brauchte weitere zwölf Jahre, bis Sie Ihre Arbeit über das Pogrom von Jedwabne publizieren konnten. Obwohl die Fakten über das Pogrom vom 13. Juli 1941, als die 1600 Juden des Dorfes Jedwabne ermordet wurden, bereits bekannt gewesen sind. Sie haben die jüdische Geschichte nicht mehr von der polnischen Geschichte getrennt?
Gross: Nein.
Shelliem: Was Sie zuvor getan hatten.
Gross: Ja, und ich hatte verstanden, dass die bis dahin verbreitete Geschichte der polnischen Juden falsch gewesen ist. Ich fing also an Essays zu schreiben, einen über "Polen und Juden unter der deutschen Besatzung", einen anderen über das "Verhalten von Juden unter sowjetischer Besatzung".
Da enttarnte ich eine weitere Ente der polnischen Historiker, die besagte, dass die Juden mit der Ankunft der Sowjets nach dem Ribbentropp-Molotow-Pakt privilegiert worden waren, dass sie die Besatzer feierten. Die Diskussion um Jedwabne nahm auch darauf Bezug. Jedes Pogrom nach 1941 galt in diesem Kontext als Rache für den jüdischen Verrat an Polen. Das ist ein großer Unsinn. Natürlich gab es junge Juden, die sich von den neuen Herrschern viel erhofften, doch das hatte nichts mit dieser Legende zu tun.
Zumal die Juden in der sowjetischen Besatzungszeit zwischen 1939 und 1941 unter schlimmeren Sanktionen zu leiden hatten als andere Gruppen der Bevölkerung. Nicht weil sie Juden waren, sondern weil sie über zahlreiche Beziehungen zu Mitgliedern ihrer Familien verfügten, die im von der Wehrmacht besetzten Generalgouvernement gelebt haben. Als sich Hitler und Stalin über den Austausch der Bevölkerung verständigten, hatten sie erwartet, dass es Ukrainer wären, die nach Osten ziehen würden, in die Sowjetunion, und Russland-Deutsche, die heimkehren würden ins Reich.
Am Ende aber waren es Juden, die sich vor der Wehrmacht, die in Zentral-Polen stand, in Sicherheit bringen wollten und beantragten, in das Generalgouvernement zu ziehen. Die Sowjets ließen sie jedoch nicht nach Westen ausreisen, sie deportierten sie ins Innere der Sowjetunion. In den zwei Jahren ihrer Herrschaft wurden 400 000 Menschen nach Sibirien deportiert und Juden trafen diese Maßnahmen doppelt so oft wie die Mitglieder anderer Gruppierungen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass diese Deportationen sehr viele Menschen retteten. Von den 250.000 polnischen Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, kehrten 200.000 aus dem Inneren der Sowjetunion zurück. Als sie jedoch deportiert worden sind, ist dies eine ungeheuerliche Strafaktion, die die Menschen in völlige Verzweiflung gestürzt hat.
Was also tue ich? Ich schreibe einen Essay über die Geschichte der Juden unter sowjetischer Besatzung und der Artikel kommt in einem Buch heraus, das nicht beachtet wird. "Grausame Dekade" nenne ich das Buch, das 1998 in Krakau erscheint.
Es gibt nur wenige Reaktionen darauf, aber alle Gedanken waren bereits da. Dass ich den Mord an den Juden von Jedwabne jedoch beschrieb, ist jedoch einem Zufall zu verdanken, auch wenn ich die Zeugenaussage von Szmuel Wasersztajn schon kannte.
Shelliem: Wasersztajn ist ein Jude, der überlebt hat.
Gross: Wasersztajn ist ein Jude, der den Pogrom von Jedwabne überlebte. In der Nachbarschaft von Jedwabne hat ihn eine polnische Frau mit sechs anderen Juden bis zum Ende des Krieges versteckt. Manche der anderen waren aus Jedwabne, andere kamen aus der Nachbarschaft. Und als ich seine Aussage las, habe ich sie einfach nicht geglaubt. Doch dann trafen zwei Ereignisse zusammen.
Eine Filmemacherin namens Agnieszka Arnold hatte ebenfalls die Aussage von Wasersztajn gelesen. Im Unterschied zu mir ist sie jedoch so klug genug gewesen, nach Jedwabne zu gehen und sich mit den Leuten zu unterhalten. Und wenn man mit den Menschen von Jedwabne sprach, erzählten sie die Geschichte des Pogroms, keiner hat diese Geschichte verbergen wollen. Jeder kannte die Geschichte des Pogroms, auch die, die lange nach dem Krieg geboren waren.
Shelliem: Waren sie stolz drauf?
Gross: Nein, es war ihnen egal. Sie haben sich nicht verstellt. Agnieszka Arnold ging also hin und sprach mit der Frau, in deren Scheune die Juden von Jedwabne verbrannt worden waren. Und sie filmte das Gespräch. Zufällig sah ich diese Szene in einer Kompilation ihrer Filme. Zwei Minuten waren das, ein Ausschnitt aus dem Gespräch mit dieser Frau, mehr nicht.
Es traf mich wie ein Donnerschlag: Was Wasersztajn aussagt, ist wirklich geschehen. Ich suchte Agnieszka Arnold auf, wir fuhren nach Jedwabne und sie erzählte mir dabei von einem Gerichtsverfahren, das es nach dem Krieg gegeben hatte, man hatte Dorfbewohner des Mordes angeklagt.
Ich ging also in die Archive und fand ein Chaos vor. Buchstäblich im letzten Moment kam ich dort an, es wurde überall gepackt, ein neues Haus sollte den Bestand verschiedener Institute übernehmen, die Dokumente waren später zwei Jahre lang nicht einsehbar. Wie in der GauckBehörde die Bestände vieler verschiedener Stasi-Archive vereinigt worden sind, schuf man auch in Warschau eine neue Institution, ein Institut des nationalen Gedächtnisses, das die Bestände der Geheimpolizei, wie diverser Gerichtsverfahren übernahm.
Durch eine Seitentür ließ man mich ein. Es war ein reines Glück. Man packte bereits alles zusammen und brachte mir die Akten. Ich las und die ganze Geschichte, die ich in "Nachbarn" beschreibe, wird auf der Basis dieser Prozessunterlagen erzählt. Der Prozess fand 1949 statt, ein zweiter 1953. Alles stand da.
Für mich aber war das ein Schock. Ich konnte das, was ich da las nicht in das einfügen, was ich wusste. Auch wenn ich bereits verstanden hatte, das sich in der polnischen Gesellschaft eine Veränderung vollzogen hatte, die es den Menschen gestattete, die Juden auszusondern. Dann schrieb ich das Buch "Nachbarn". Das war ein großer Moment, der einen tiefen Wandel nach sich zog.
Shelliem: Wo stehen wir heute, nachdem Ihr Buch über Jedwabne die polnische Gesellschaft gespalten hat, und Ihre Arbeit über die Nachkriegspogrome von Krakau und Kielce empört diskutiert worden sind? Wie geht man heute in Polen mit der Vergangenheit um?
Gross: Polen hat sich sehr positiv entwickelt. Die Erkenntnis hat sich verbreitet, dass die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen in allen Aspekten erzählt werden muss. Das ist nicht möglich, wenn man auf dem Grundtenor besteht, dass Polen während des Krieges die Opfer gewesen sind. Es gibt eine große Dunkelziffer von polnischen Staatsbürgern, die an der Exekution von Juden beteiligt waren, zu denen sie die Nazis eingeladen hatten. Polnische Historiker schreiben diese Geschichte heute neu. Und die Entwicklung lässt sich auch an der Dauer der erregten Diskussionen ablesen, die meinen Büchern folgten.
Als mein Buch "Nachbarn" über den Judenmord von Jedwabne erschienen ist, war die polnische Öffentlichkeit völlig überrascht. Keiner hatte mit einer derartigen Publikation gerechnet und die Diskussion ging sieben Monate lang.
Als ich das zweite Buch publizierte. Es heißt Angst und behandelt die Pogrome von 1946 als jüdische Heimkehrer in Juli ermordet werden, im Kern ging es um den polnischen Antisemitismus nach dem Krieg, der sich in dem Pogrom von Kielce entladen hat. Da wurde als quasi offizielle Antwort durch das Institut der nationalen Erinnerung, das sich unter neuer Führung befand, die magere Epistel eines mediokren Historikers lanciert, der Juden als Kommunisten desavouierte und die alten Vorurteile wieder aufgriff. Die Debatte über mein Buch Angst hielt nur noch zwei Monate an.
Als in diesem Jahr "Goldene Ernte" erschien, meine Arbeit über die Leichenfledderer von Treblinka, kamen gerade zwei wichtige Bücher heraus. Historiker des Warschauer Instituts zur Erforschung des Holocausts legten ihre Arbeiten vor. Eine sehr detaillierte Studie über einen ländlichen Bezirk und die dort beobachtete Verfolgung und Ermordung polnischer Juden durch die Landbevölkerung. Der Titel dieses Buches: "Judenjagd". Deutsche hatten diese Judenjagden organisiert, doch Polen eben auch. Schon der Titel ist schockierend, enthüllt er doch ein weiteres Tabu der polnischen Geschichte.
Das zweite Buch hat Misshandlungen von Juden auf dem Land thematisiert, basierend auf Interviews. Barbara Engelking-Boni, die Direktorin des Institutes, hat es verfasst. Insgesamt lässt sich ein enormer Wandel in der polnischen Historiografie beobachten. Und die Diskussion meiner Arbeit über die Leichenfledderer von Treblinka dauerte nur noch zwei Wochen.
Diese Themen werden heute nicht mehr kontrovers diskutiert. Es ist verstanden worden, das die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges über diese hässliche Komponente verfügt und auch wenn es immer noch rückwärtsgewandte Zwischenrufe wie die von Radio Marya gibt, die alles als Lügen abtun und sich hinter Vorurteilen verschanzen, hat sich die Landschaft sehr gewandelt, vor allem, was gut informierte Kreise betrifft.
Shelliem: Eine Gesellschaft also im Wandel?
Gross: Die polnische Gesellschaft befindet sich im Übergang, ist aber auf gutem Weg.
(Teil 2 am 25.9.11)
Jan Tomasz Gross: Die Geschichte, vor allem die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist für das polnische Selbstverständnis außerordentlich wichtig. Aus einer Vielzahl von Gründen. Erstens handelte es sich dabei um eine sehr dramatische Geschichte. Das gesamte Staatsgebiet ist verschoben worden, die Staatsgrenzen wurden neu gezogen, die Bevölkerung wurde dezimiert, die Rolle Polens völlig neu definiert, seine Geschichte auf ein neues Gleis gesetzt. All das ist zwischen 1939 und 1945 oder 1948 geschehen. Und zweitens wurde es Polen nicht gestattet, seine Geschichte adäquat aufzuarbeiten, als die kommunistische Periode nach dem Krieg begann. Ereignisse wurden verdrängt, andere in offiziellen Darstellungen entstellt.
Shelliem: Worauf legte man in offiziellen Abhandlungen Wert? Welche Ereignisse sah man damals für die polnische Geschichte als konstitutiv an? Sprach man von Katyn?
Gross: Nein, natürlich nicht. Alles, was mit dem Krieg verbunden war, wurde, vor allem während der kommunistischen Periode, von seiner Bedeutung für die Verhältnisse nach dem Krieg bewertet. Alles galt als Vorgeschichte für das Bündnis Polens mit der Sowjetunion und die vollständige brüderliche Abstimmung seiner Rolle in der Welt.
Als Argument dahinter galt, das die Sowjetunion Polen vor den Aggressionen des Westen schützt, auch aus Westdeutschland. Und deswegen verschwieg die offizielle Kriegshistoriografie - und dies war die Einzige, deren Darstellung zugelassen war - alle Taten, in denen die Sowjetunion Polen geschadet hatte. Insofern sprach man nicht nur nicht von Katyn, man verschwieg auch die den Morden vorausgehende Besatzungszeit der Sowjets, das waren fast zwei Jahre, verleugnete den Landraub durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, in dem die Einflusssphären in Europa von Joachim von Ribbentropp, und Wjatscheslaw Molotow im Beisein Stalins festgelegt worden sind. Die Gebietsansprüche, die der Ribbentropp-Molotow Pakt befriedigte, waren Forderungen Stalins. All diese Ereignisse aber hatte es nie gegeben, sie wurden tabuisiert.
Shelliem: Auf welche Weise sprach man von den Kriegsopfern? Sprach man von den drei Millionen Juden, die in Polen getötet worden sind?
Gross: Was die Opferzahlen betrifft, ist Polen das Land mit der höchsten Verlustrate von Zivilisten, bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Zu den drei Millionen polnischer Juden, die ermordet worden sind, rechnet man heute zwei Millionen polnischer Zivilisten. Früher sind die Schätzungen höher gewesen. Man sprach von drei Millionen, insgesamt also von sechs, beziehungsweise fünf Millionen polnischer Staatsbürger, die getötet worden sind. Das ist eine Atem beraubende Ziffer. Wenn man daran denkt, dass vor dem Krieg 35 Millionen in diesem Lande lebten. In Polen hat es keine Familie gegeben, die kein Opfer unter ihren Mitgliedern zu beklagen hat.
Shelliem: Wann wurde das Massaker von Katyn zum nationalen Symbol des jungen Polen? In Katyn hatten NKWD Einheiten im März/April 1940 auf Stalins Weisung 22 000 polnische Offiziere, Polizisten und Intellektuelle unter anderem in einem Wald ermordet. Wann ist das in Polen bekannt geworden?.
Gross: Diese Geschichte ist sofort nach den Erschießungen bekannt geworden. Die Gräber waren 1943 vom deutschen Militär geöffnet worden, als die Wehrmacht vorrückte und auf das Gelände der sowjetischen Geheimpolizei, des NKWD, nahe des Dorfes Katyn gestoßen sind. Man hat die Leichen exhumiert, man fand auch viele andere Massengräber und die Deutschen hatten einen großen Propagandasieg daraus gemacht. "Hier stehen wir als Zeugen für die Verbrechen der Sowjets an Polen", sagten sie. Der Krieg war da noch in vollem Gang. Dann wendete sich das Kriegsglück gegen Deutschland und man dachte darüber nach, einen Schauprozess zu organisieren. Aber es war zu spät, die Deutschen hatten in Polen zu viele Verbrechen begangen. Die Angelegenheit wurde in Polen sehr lautstark debattiert. Und die polnische Exilregierung, die in London saß, der polnische Premierminister Wladislaw Sikorski selbst erklärte sich damit einverstanden beim Internationalen Roten Kreuz eine Anfrage zu stellen, um die Verantwortlichen für das Verbrechen zu ermitteln. Hatten die Sowjets diesen Massenmord begannen oder waren es die Deutschen, wie die sowjetische Propaganda behauptete.
Es war sehr einfach herauszufinden, dass sie von den Sowjets getötet worden waren, weil die polnischen Offiziere nicht einmal ausgezogen worden waren. Sie trugen ihre Mäntel, in ihren Taschen fand man ihre Feldpost. Außerdem galten zu dieser Zeit eine Vielzahl von Polen als in der Sowjetunion verschollen.
Im Schutz des Bruderstaates hatte die Exilregierung eine polnische Armee aufbauen wollen. Polnische Gefangene waren nach dem deutschen Überfall auf Polen aus sowjetischer Haft entlassen worden. Stalin hatte den Aufbau einer polnischen Armee autorisiert. Und plötzlich waren tausende von Offizieren wie vom Erdboden verschluckt. Es gibt das Protokoll eines Dialogs zwischen General Sikorski, der von Stalin als Verhandlungspartner akzeptiert wird. Der Premierminister der polnischen Exilregierung kommt aus London, es gibt in Moskau ein Gespräch mit Stalin und Sikorski fragt nach dem Verbleib der Verschwundenen, er legt die Namensliste vor. "Wo sind die Offiziere?" Und Stalin scheint verwirrt, er geht im Raum herum. "Vielleicht sind sie ausgebrochen!" Anders, der mit dem Aufbau der polnischen Armee beauftragte General, auch er ein ehemaliger Gefangener, fragt, "Wohin sollen sie geflüchtet sein?" Und Stalin antwortet erregt: "In die Mandschurei!"
Das waren alles Lügen. Stalin hatte ein Dekret unterzeichnet und den Mord angeordnet. Später fanden sich all diese Dokumente auf. Die Frage also, was mit den polnischen Offizieren, die sich in sowjetischen Haft befunden hatten, geschehen sei, stand also schon während zur Kriegszeit im Raum. In der polnischen Untergrundpresse wurde sie ausgiebig diskutiert. Insofern kamen die Hintergründe von Katyn bereits Ende 1943, Anfang 44 an die Öffentlichkeit. Dann aber schoben die Sowjets und polnische Kommunisten mit steinerner Miene den Deutschen die Schuld zu. Es gab sogar den Versuch, das Massaker von Katyn im Nürnberger Prozess als Nebenklage einzubringen. Das aber scheiterte.
Es gab also in Polen die offizielle Geschichtsversion, die von Kommunisten und Sowjetischen Funktionären festgelegt, den Deutschen die Schuld an diesem Verbrechen gab und es gab die Erzählungen innerhalb der Familie, in denen man das anders sah.
Shelliem: Wie hat sich diese Dichotomie zwischen den privaten Überlieferungen, den tradierten Geschichten der Familie und der amtlichen Geschichtsschreibung ausgewirkt? Wann brach dieser Widerspruch auf. Zwanzig Jahre bevor Sie sich mit einem anderen Tabu beschäftigen und 2001 in "Nachbarn" die Ermordung der Juden von Jedwabne am 10. Juli 1941 durch ihre Mitbürger analysieren, wenden Sie sich erstmals diesen heiklen Themen zu: 1979 erscheint von Ihnen eine Arbeit über die "polnische Gesellschaft unter deutscher Besatzung", also das Generalgouvernement 1939 bis 1944, 1985 nehmen Sie sich die "Sowjetisierung Ostpolens" vor, als Polen nach dem Hitler-Stalin Pakt von 1939 bis 1941 von den Sowjets regiert wird. Waren all diese Themen zu dieser Zeit tabuisiert, mit einer amtlichen Legende verhüllt, oder gab es eine friedliche Koexistenz der Kenntnisstände, wo in der Bevölkerung das eine überliefert wurde und unter Historikern anderes galt?
Gross: 1969 verlasse ich Polen und beginne mein Studium in Amerika. Mit der Geschichte der sowjetischen Besatzung beschäftige ich mich erst in den USA. Als die Bücher erscheinen, lebe ich also in einer anderen Situation. Bevor ich mich der Besatzungszeit zuwende, bearbeite ich die Zeit im Zweiten Weltkrieg, insgesamt zehn Jahre lang habe ich mich mit der polnischen Geschichte auseinandergesetzt, ohne jüdische Belange zu thematisieren.
Das galt damals als historiografischer Standard, überall. Auch meine französischen und niederländischen Kollegen schrieben über den Zweiten Weltkrieg und sparten dabei die Geschichte der Juden in ihrem Lande aus. Dafür gab es ja jüdische Spezialisten. Mit diesem Tenor schrieb auch ich mein Buch über die Erfahrungen Polens unter deutscher Besatzung und dann das andere Buch - es hieß "Revolution von Außen" - es behandelte das, was im Osten Polens zur sowjetischen Besatzungszeit geschah. Jüdische Themen wurden in beiden Themen kaum bearbeitet. Und ich fühlte mich wohl dabei, irgendwo gab es ja jüdische Historiker, die sollten das behandelt. Heute sehe ich dies als eine vollständige Idiotie. Die Geschichte der Juden sollte als integriertes Element der Nationalgeschichte betrachtet und nicht abgespalten werden. In meinen Schriften habe ich das exemplarisch analysiert.
Doch wenn Sie fragen, ob diese Themen damals in Polen als Tabu gegolten haben, muss ich sagen, in gewissem Maße ja. 1980 konnte man so etwas nicht schreiben. Auch wenn es zurzeit von Solidarnosc eine kurze Phase gibt, in der man über alles schreiben kann. Über die Opposition im Untergrund, über die antikommunistische Exilregierung, deren Organisation während des Krieges, ja darüber wurde gearbeitet, auch wenn diese Abhandlungen ideologisch sehr eingefärbt worden sind. Über die Geschichte von Ostpolen unter sowjetischer Besatzung zu schreiben, war jedoch verboten. Memoiren wurden viel veröffentlicht.
Außerhalb von Polen aber hatte sich seit dem Krieg eine bedeutende Diaspora entwickelt, wichtige kulturelle Zeitschriften hatten in Paris ihren Sitz: Die Monatszeitschrift "Kultura" war das wichtigste Blatt der polnischen Emigration, eine wundervolle literarisch-politische Monatszeitschrift, die bis zum Tode ihres Herausgebers im Jahre 2000 erschienen ist. Jerzy Giedroyc war sein Name. Diese Zeitschrift war ein hervorragender Gegenpol zu den kommunistisch dominierten Organen Polens. Große polnische Schriftsteller schrieben dort, Witold Gombrowicz, Wierczinski, Czeslaw Milosz, der spätere Literaturnobelpreisträger, all das sind große Namen der polnischen Kultur.
In Paris wurde auch eine Serie historischer Dokumente ediert. Während in Polen die eigene Geschichte verleugnet und verzerrt wurde, entwickelte sich die "Historische Quartalszeitschrift" als der Ort, wo man darüber sprach. Doch über Juden fand sich auch hier nicht viel.
Ich arbeitete auch nicht über die Geschichte der polnischen Juden - aus Ignoranz. Später als ich mir das Material in die Hände gefallen ist, habe ich begriffen, was für eine gigantische Geschichte da ausgegrenzt worden ist. Damals aber hatte sich keiner dafür interessiert.
Die Kriegsgeschichte der Juden in Polen galt als Spezialgebiet. In Warschau gab es das Jüdische Historische Institut, in dessen Umfeld eine Monatszeitschrift erschien, vielleicht war es auch ein Vierteljahresblatt, etwas also bewegte sich da. Doch auch viele jüdische Historiker, die dort arbeiteten, emigrierten 1956 und 1968 nach Israel. Yad Vashem, das große Haus in Jerusalem, das sich als Hüterin der Erinnerung an die Shoah versteht und viel zu diesem Thema publiziert wird heute von ihnen getragen, einen Großteil seines Stabs stellen heute polnische Historiker, die zuvor in Warschau arbeiteten.
Shelliem: Was für ein Bild von Juden herrschte in Polen vor, als Sie 1969 Warschau verlassen haben? Wie ging die polnische Gesellschaft mit der Emanzipationsgeschichte polnischer Juden um, die in der nationalen Bewegung Polens einen Ausweg aus dem Getto sahen?
Gross: Das lässt sich durch ein symbolhaftes Buch verdeutlichen, das 1967 veröffentlicht worden ist. Der Autor dieser Schrift, ein in Polen sehr bekannter Historiker und Politiker, er hieß Wladyslaw Bartoszewsky, gab es mit Zofia Lewinówna heraus.
Der Titel "Er stammt aus meinem Mutterland" ist ein Zitat, das sich auf ein Gedicht bezieht. Und das Buch enthält eine Kollektion jüdischer Memoiren, die im Jüdischen Historischen Institut gesammelt worden sind, und die Bartoszewsky dazu dienen soll, die Bemühungen zu illustrieren, die christliche Polen unternehmen, um Juden zu retten.
Wenn man so will, enthält dies kleine Buch, das in Wirklichkeit ziemlich umfangreich ist, alle Elemente der polnisch-jüdischen Geschichte: Juden wurden während des Krieges umgebracht, Polen taten, was sie konnten, um Juden zu helfen. Es gab einige Skandale, als bekannt geworden ist, das Polen Juden an die SS verraten haben, dass andere sich bezahlen ließen, dafür gibt es in Polen ein bestimmtes Wort.
Ein brutales Wort, es wird für nichts anderes benutzt, nur für Menschen, die Juden im Krieg verrieten. Solche hat es gegeben, doch Abschaum gibt es überall. Das ist kein problematischer Aspekt. Dieser Bereich wird ausgiebig recherchiert und dokumentiert.
Das Buch dokumentierte also, was während des Krieges zwischen Polen und Juden geschehen war. Es markierte das Bewusstsein der polnischen Gesellschaft. Doch dann begannen sich die Erkenntnisse zu zersetzen: Während der Zeit von Solidarnosc entwickelte sich eine Diskussion über das Pogrom von Kielce, um ein Beispiel zu geben. Zur Zeit des Kielce-Pogroms, im Juli 1946, gab es in Polen keine deutsche Besatzungsmacht. Die Schuld konnte niemandem zugeschoben werden. Polen hatten Juden umgebracht.
Und doch entwickelte sich eine Historiografie, die das Pogrom von Kielce als Reaktion auf eine jüdische Provokation der Kommunisten ansah. Um westliche Sympathie für Polen zu torpedieren, habe der NKWD und andere kommunistische Kräfte die Morde provoziert, sodass man hernach auf die Polen als Barbaren und Antisemiten zeigen konnte, um die Kontrolle Polens zu rechtfertigen.
Natürlich ist das keine gute Abhandlung, denn sie übersieht dass eine große Zahl von Menschen an dem Pogrom von Kielce beteiligt gewesen sind. Was trieb diese Menschen an? Waren das alle Kommunisten oder wurden all diese Menschen von Kommunisten verführt.
Diesen Fragen geht die Historikerin Christina Kersten nach, sie nutzt die kurze Phase während der Hochzeit von Solidarnosc, in der so gut wie alles veröffentlicht werden konnte, bevor die Bewegung im Dezember 1981 unterdrückt worden ist. Ich glaube sogar, ihre Arbeit erschien in der letzten Ausgabe der Wochenschrift von Solidarnosc. Diese Ausgabe wurde auch später nicht zensiert. Der Redakteur dieser Ausgabe hieß Tadeusz Masowiecki, er wurde später der erste nicht-kommunistische Premierminister Polens nach dem Krieg.
Christina Kersten schreibt also einen großen Artikel über das Pogrom von Kielce,. Was bedeutet es, wenn man sagt, die Leute hätten auf Provokationen reagiert. Wer habe sie provoziert und was für eine Bild habe man in Kielce von den Juden im Kopf gehabt. Das Problem liegt also bereits in der Luft. Ich fing erst in den achtziger Jahren an, darüber nachzudenken.
Shelliem: Was war der Auslöser, was haben Sie gelesen?
Gross: Ich las einige Artikel...
Shelliem: Den von Jan Blonsky?
Gross: Blonsky kommt erst später. Erst schreibe ich einen Artikel, der in einer kleinen Zeitschrift erscheint, "Annex" erschien in London, es ist ein Organ polnischer Emigranten, das es eine Zeitlang gab. Eine Ausgabe von "Annex" widmeten wir den polnisch-jüdischen Beziehungen. "Annex" hatte kein großes Publikum, weil die polnische Zeitschrift in London erschien, doch zu diesem Zeitpunkt war ich mir der Relevanz, auch der Brisanz des Themas bereits bewusst. Zu dem Zeitpunkt, zu dem Blonskis Artikel erschien, bin ich mir also bereits über das Ausmaß des gewaltigen Problems der polnisch-jüdischen Kriegsgeschichte bewusst gewesen.
Shelliem: Doch es brauchte weitere zwölf Jahre, bis Sie Ihre Arbeit über das Pogrom von Jedwabne publizieren konnten. Obwohl die Fakten über das Pogrom vom 13. Juli 1941, als die 1600 Juden des Dorfes Jedwabne ermordet wurden, bereits bekannt gewesen sind. Sie haben die jüdische Geschichte nicht mehr von der polnischen Geschichte getrennt?
Gross: Nein.
Shelliem: Was Sie zuvor getan hatten.
Gross: Ja, und ich hatte verstanden, dass die bis dahin verbreitete Geschichte der polnischen Juden falsch gewesen ist. Ich fing also an Essays zu schreiben, einen über "Polen und Juden unter der deutschen Besatzung", einen anderen über das "Verhalten von Juden unter sowjetischer Besatzung".
Da enttarnte ich eine weitere Ente der polnischen Historiker, die besagte, dass die Juden mit der Ankunft der Sowjets nach dem Ribbentropp-Molotow-Pakt privilegiert worden waren, dass sie die Besatzer feierten. Die Diskussion um Jedwabne nahm auch darauf Bezug. Jedes Pogrom nach 1941 galt in diesem Kontext als Rache für den jüdischen Verrat an Polen. Das ist ein großer Unsinn. Natürlich gab es junge Juden, die sich von den neuen Herrschern viel erhofften, doch das hatte nichts mit dieser Legende zu tun.
Zumal die Juden in der sowjetischen Besatzungszeit zwischen 1939 und 1941 unter schlimmeren Sanktionen zu leiden hatten als andere Gruppen der Bevölkerung. Nicht weil sie Juden waren, sondern weil sie über zahlreiche Beziehungen zu Mitgliedern ihrer Familien verfügten, die im von der Wehrmacht besetzten Generalgouvernement gelebt haben. Als sich Hitler und Stalin über den Austausch der Bevölkerung verständigten, hatten sie erwartet, dass es Ukrainer wären, die nach Osten ziehen würden, in die Sowjetunion, und Russland-Deutsche, die heimkehren würden ins Reich.
Am Ende aber waren es Juden, die sich vor der Wehrmacht, die in Zentral-Polen stand, in Sicherheit bringen wollten und beantragten, in das Generalgouvernement zu ziehen. Die Sowjets ließen sie jedoch nicht nach Westen ausreisen, sie deportierten sie ins Innere der Sowjetunion. In den zwei Jahren ihrer Herrschaft wurden 400 000 Menschen nach Sibirien deportiert und Juden trafen diese Maßnahmen doppelt so oft wie die Mitglieder anderer Gruppierungen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass diese Deportationen sehr viele Menschen retteten. Von den 250.000 polnischen Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, kehrten 200.000 aus dem Inneren der Sowjetunion zurück. Als sie jedoch deportiert worden sind, ist dies eine ungeheuerliche Strafaktion, die die Menschen in völlige Verzweiflung gestürzt hat.
Was also tue ich? Ich schreibe einen Essay über die Geschichte der Juden unter sowjetischer Besatzung und der Artikel kommt in einem Buch heraus, das nicht beachtet wird. "Grausame Dekade" nenne ich das Buch, das 1998 in Krakau erscheint.
Es gibt nur wenige Reaktionen darauf, aber alle Gedanken waren bereits da. Dass ich den Mord an den Juden von Jedwabne jedoch beschrieb, ist jedoch einem Zufall zu verdanken, auch wenn ich die Zeugenaussage von Szmuel Wasersztajn schon kannte.
Shelliem: Wasersztajn ist ein Jude, der überlebt hat.
Gross: Wasersztajn ist ein Jude, der den Pogrom von Jedwabne überlebte. In der Nachbarschaft von Jedwabne hat ihn eine polnische Frau mit sechs anderen Juden bis zum Ende des Krieges versteckt. Manche der anderen waren aus Jedwabne, andere kamen aus der Nachbarschaft. Und als ich seine Aussage las, habe ich sie einfach nicht geglaubt. Doch dann trafen zwei Ereignisse zusammen.
Eine Filmemacherin namens Agnieszka Arnold hatte ebenfalls die Aussage von Wasersztajn gelesen. Im Unterschied zu mir ist sie jedoch so klug genug gewesen, nach Jedwabne zu gehen und sich mit den Leuten zu unterhalten. Und wenn man mit den Menschen von Jedwabne sprach, erzählten sie die Geschichte des Pogroms, keiner hat diese Geschichte verbergen wollen. Jeder kannte die Geschichte des Pogroms, auch die, die lange nach dem Krieg geboren waren.
Shelliem: Waren sie stolz drauf?
Gross: Nein, es war ihnen egal. Sie haben sich nicht verstellt. Agnieszka Arnold ging also hin und sprach mit der Frau, in deren Scheune die Juden von Jedwabne verbrannt worden waren. Und sie filmte das Gespräch. Zufällig sah ich diese Szene in einer Kompilation ihrer Filme. Zwei Minuten waren das, ein Ausschnitt aus dem Gespräch mit dieser Frau, mehr nicht.
Es traf mich wie ein Donnerschlag: Was Wasersztajn aussagt, ist wirklich geschehen. Ich suchte Agnieszka Arnold auf, wir fuhren nach Jedwabne und sie erzählte mir dabei von einem Gerichtsverfahren, das es nach dem Krieg gegeben hatte, man hatte Dorfbewohner des Mordes angeklagt.
Ich ging also in die Archive und fand ein Chaos vor. Buchstäblich im letzten Moment kam ich dort an, es wurde überall gepackt, ein neues Haus sollte den Bestand verschiedener Institute übernehmen, die Dokumente waren später zwei Jahre lang nicht einsehbar. Wie in der GauckBehörde die Bestände vieler verschiedener Stasi-Archive vereinigt worden sind, schuf man auch in Warschau eine neue Institution, ein Institut des nationalen Gedächtnisses, das die Bestände der Geheimpolizei, wie diverser Gerichtsverfahren übernahm.
Durch eine Seitentür ließ man mich ein. Es war ein reines Glück. Man packte bereits alles zusammen und brachte mir die Akten. Ich las und die ganze Geschichte, die ich in "Nachbarn" beschreibe, wird auf der Basis dieser Prozessunterlagen erzählt. Der Prozess fand 1949 statt, ein zweiter 1953. Alles stand da.
Für mich aber war das ein Schock. Ich konnte das, was ich da las nicht in das einfügen, was ich wusste. Auch wenn ich bereits verstanden hatte, das sich in der polnischen Gesellschaft eine Veränderung vollzogen hatte, die es den Menschen gestattete, die Juden auszusondern. Dann schrieb ich das Buch "Nachbarn". Das war ein großer Moment, der einen tiefen Wandel nach sich zog.
Shelliem: Wo stehen wir heute, nachdem Ihr Buch über Jedwabne die polnische Gesellschaft gespalten hat, und Ihre Arbeit über die Nachkriegspogrome von Krakau und Kielce empört diskutiert worden sind? Wie geht man heute in Polen mit der Vergangenheit um?
Gross: Polen hat sich sehr positiv entwickelt. Die Erkenntnis hat sich verbreitet, dass die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen in allen Aspekten erzählt werden muss. Das ist nicht möglich, wenn man auf dem Grundtenor besteht, dass Polen während des Krieges die Opfer gewesen sind. Es gibt eine große Dunkelziffer von polnischen Staatsbürgern, die an der Exekution von Juden beteiligt waren, zu denen sie die Nazis eingeladen hatten. Polnische Historiker schreiben diese Geschichte heute neu. Und die Entwicklung lässt sich auch an der Dauer der erregten Diskussionen ablesen, die meinen Büchern folgten.
Als mein Buch "Nachbarn" über den Judenmord von Jedwabne erschienen ist, war die polnische Öffentlichkeit völlig überrascht. Keiner hatte mit einer derartigen Publikation gerechnet und die Diskussion ging sieben Monate lang.
Als ich das zweite Buch publizierte. Es heißt Angst und behandelt die Pogrome von 1946 als jüdische Heimkehrer in Juli ermordet werden, im Kern ging es um den polnischen Antisemitismus nach dem Krieg, der sich in dem Pogrom von Kielce entladen hat. Da wurde als quasi offizielle Antwort durch das Institut der nationalen Erinnerung, das sich unter neuer Führung befand, die magere Epistel eines mediokren Historikers lanciert, der Juden als Kommunisten desavouierte und die alten Vorurteile wieder aufgriff. Die Debatte über mein Buch Angst hielt nur noch zwei Monate an.
Als in diesem Jahr "Goldene Ernte" erschien, meine Arbeit über die Leichenfledderer von Treblinka, kamen gerade zwei wichtige Bücher heraus. Historiker des Warschauer Instituts zur Erforschung des Holocausts legten ihre Arbeiten vor. Eine sehr detaillierte Studie über einen ländlichen Bezirk und die dort beobachtete Verfolgung und Ermordung polnischer Juden durch die Landbevölkerung. Der Titel dieses Buches: "Judenjagd". Deutsche hatten diese Judenjagden organisiert, doch Polen eben auch. Schon der Titel ist schockierend, enthüllt er doch ein weiteres Tabu der polnischen Geschichte.
Das zweite Buch hat Misshandlungen von Juden auf dem Land thematisiert, basierend auf Interviews. Barbara Engelking-Boni, die Direktorin des Institutes, hat es verfasst. Insgesamt lässt sich ein enormer Wandel in der polnischen Historiografie beobachten. Und die Diskussion meiner Arbeit über die Leichenfledderer von Treblinka dauerte nur noch zwei Wochen.
Diese Themen werden heute nicht mehr kontrovers diskutiert. Es ist verstanden worden, das die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges über diese hässliche Komponente verfügt und auch wenn es immer noch rückwärtsgewandte Zwischenrufe wie die von Radio Marya gibt, die alles als Lügen abtun und sich hinter Vorurteilen verschanzen, hat sich die Landschaft sehr gewandelt, vor allem, was gut informierte Kreise betrifft.
Shelliem: Eine Gesellschaft also im Wandel?
Gross: Die polnische Gesellschaft befindet sich im Übergang, ist aber auf gutem Weg.
(Teil 2 am 25.9.11)