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Wahrnehmungsforschung
Wie unser Gehirn uns ein X für ein U vormacht

Glauben wir, was wir sehen, oder sehen wir, was wir glauben? Lange haben Psychologen angenommen, dass Menschen mehr oder weniger frei von Gefühlen und Gedanken ihr Umfeld wahrnehmen. Aber immer mehr Studien zeigen, dass unsere Emotionen, Sprachgewohnheiten und Vorurteile prägen, wie wir die Welt erleben.

Von Volkart Wildermuth |
    Eine Menschenmenge wird verzerrt und verschwommen dargestellt
    "Die Aufmerksamkeit beeinflusst, was wir sehe", sagt Forcher Brian Scholl (picture-alliance/ dpa / Fredrik von Erichsen)
    Ich sehe was, was Du nicht siehst. Ein Kinderspiel, das für Wahrnehmungsforscher einen ernsten Hintergrund hat. Denn jedes Bild und jeder Ton, den wir erleben, wird eingefärbt und Klangverschoben je nach den gerade aktuellen Gemütszuständen und Weltsichten. Das zumindest legen eine Reihe aktueller Studien nahe. Danach ist ein Stück Kuchen für den Hungrigen nicht nur begehrenswerter, es wirkt tatsächlich größer.
    Ein Dauerlauf lässt einen Berg steiler erscheinen. Gesichter mit afrikanischen Zügen werden für dunkler gehalten, als sie tatsächlich sind. Griechen können feiner Blaunuancen unterscheiden, wohl weil ihre Sprache mehr Worte für diese Farbgruppe kennt. Wie Pippi Langstrumpf machen wir die Welt wie de wiede wit, wie sie uns gefällt. Faszinierend, aber wenig überzeugend, sagt der Wahrnehmungsforscher Brian Scholl von der amerikanischen Yale Universität. Er hat in den letzten Jahren 179 solcher Studien gezählt und analysiert und zum Teil wiederholt.
    Das Gehirn merkt sich zufällige Wortlisten
    So sollen zum Beispiel moralisch aufgeladen Worte wie "Gerechtigkeit" oder "Böse" dem Betrachter quasi entgegenspringen. Dem moralischen Pop-out-Effekt nannten das die Forscher. Die Wahrnehmung selbst sei für moralische Worte geschärft, weil sie im Denken eine besondere Bedeutung haben. Oder auch nicht. Brian Scholl wiederholte das Experiment, nur versteckte er in langweiligen Listen zufälliger Worte Modebegriffe wie "Bikini" oder "Pyjama". Und auch die Modeworte erkannten die Versuchspersonen deutlich schneller.
    "Wenn also nicht auch Unterwäsche die Wahrnehmung der Welt selbst beeinflusst, dann geht es bei dem ursprünglichen Effekt gar nicht um die Moral."
    Die Erklärung ist viel einfacher. Unbewusst bemerkt das Gehirn, dass in den zufälligen Wortlisten zusammenhängende Begriffe auftauchen, ganz gleich, ob die aus dem Feld der Moral oder der Mode stammen. Und denen wird dann einfach mehr Aufmerksamkeit gewidmet, ganz ohne jede Veränderung der primären Wahrnehmung. Also viel Wirbel um Nichts? Nein, sagt die Leseforscherin Merav Ahissar von der Hebräischen Universität Jerusalem. Dass höhere Hirnprozesse die Wahrnehmung verändern, ist für sie ganz alltäglich, wie sie an einem nicht so alltäglichen Beispiel klarmacht.
    "Schachmeister sehen ein Schachbrett anders als ich. Ich sehe hier eine Figur und da eine Figur, sie sehen Strukturen und Strategien."
    Der Anfänger wird zum Meister, wenn er nicht mehr angestrengt nachdenken muss, sondern die relevanten Muster einfach sieht. Diese Verlagerung erlebt jeder Mensch bei allem was für ihn oder sie wichtig ist. Im Labor spielt Merav Ahissar ihren Versuchspersonen Folgen von Tönen vor und bittet sie, zu entscheiden, ob der zweite höher oder niedriger als der erste liegt. Anfangs vergleichen die Probanden die Töne bewusst, doch schon nach zehn Durchläufen klingt der zweite Ton direkt niedriger oder höher.
    "Das nenne ich Wahrnehmung, weil sie den Ton einfach als zugehörig zu einer Kategorie erleben, ohne bewusst vergleichen zu müssen."
    Verändert sich die Wahrnehmung oder Aufmerksamkeit?
    Ähnliches geschieht über längere Zeiträume zum Beispiel beim Lesen lernen. Anfangs übernehmen Nervenzentren in den vorderen und oberen Regionen des Gehirns das mühsame Entziffern der Schrift. Später wird die gleiche Aufgabe von den Sehzentren im Hinterkopf übernommen und wir nehmen nicht mehr winzige Kurven und Striche, sondern direkt Buchstaben oder Worte wahr. Brian Scholl interpretiert die gleichen Befunde anders. Nicht die Wahrnehmung selbst verändert sich, die Aufmerksamkeit wird zielgerichteter.
    "Die Aufmerksamkeit beeinflusst, was wir sehen. Da sind wir uns alle einig. Aber das ist doch eine ganz gewöhnliche Sache. Ich bin überzeugt: Was wir sehen und was wir denken ist nicht dasselbe. Die Wahrnehmung ist abgekapselt, sie wird nicht direkt von unseren Vorlieben, Wünschen, Gefühlen oder auch unserer Sprache beeinflusst."
    Dass es im Gehirn abgekapselte Module gäbe für die Wahrnehmung, für Gefühle oder das Nachdenken, hält Merav Ahissar für provokant. Natürlich kennt auch Brian Scholl die vielen Verbindungen zwischen etwa den Sehzentren und höheren Hirnregionen, die in beide Richtungen laufen. Letztlich dreht sich der Streit der Forscher um Definitionen. Was Brian Scholl bereits höhere Hirnprozesse nennt, das gehört für Merav Ahissar noch zur Wahrnehmung selbst.
    "Wenn ich glücklich bin, erscheinen mir Gesichter heller. Brian Scholl sagt, wir werten sie nur als heller. Er nennt es einfach nicht Wahrnehmung."

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