Wenn eine Melodie bekannt ist, dann diese. Das ist der Big Ben, das ist die englische Hauptstadt London – und das wäre in der Tat weit entfernt vom Beginn des Coastal Path in Wales. Deshalb: Tatsächlich kommt dieser Klang aus dem Rathausturm von Cardiff, der Hauptstadt des nach Unabhängigkeit strebenden Wales. Geradezu ein Sakrileg, sagt Noel Clawson, Führer am Coastal Path und überzeugter Waliser:
"Wales und England sind zwei unterschiedliche Länder. Geschichtlich gesehen wurde Wales England im 16. Jahrhundert zugeschlagen. Das ist der Grund dafür, warum Leute England und Wales als ein Land ansehen. Tatsächlich hat Wales sein eigenes Parlament. Die Waliser haben ihre eigene Monarchie. Das geht zurück bis ins 5. Jahrhundert. Die walisische Dynastie regierte bis ins 13. Jahrhundert und wurde beendet durch einen Konflikt zwischen England und Wales."
Darum: Wer in Wales ist, sollte beim Blick auf die Landschaft niemals seufzend sagen, wie schön es doch in England ist. Die Waliser nehmen das äußerst krumm. Wenn schon, dann bitte, wie schön es doch in Großbritannien ist, denn Wales ist nicht England. Die Menschen in Wales sind stolz auf ihren Landstrich und besonders stolz sind sie auf die eigene Sprache, sagt der Cardiffer Noel Clawson:
"Auf walisisch heißt Cardiff "Ceirdeith". Die meisten Menschen kennen Cardiff als Cardiff. Das "Ceir" bezieht sich auf die römischen Forts und in diesem Fall auf das Forts am Fluss "Tough". Deshalb der Name´"Ceirdeith" oder auch 'Ceirtough'."
Stolz - das sind die Waliser auch auf ihre Geschichte. Die Hauptstadt Cardiff wurde durch die schottische Bute-Familie und den Kohlebergbau groß, berühmt und wohlhabend. Die vielen prächtigen Häuser aus viktorianischer Zeit in der Innenstadt zeugen davon und noch heute stehen hier das Familienschloss der Butes und der riesige Park, der frei zugänglich ist. Ebenso, wie das ehemalige Wohnhaus des Gärtners der Bute-Family: Mr. Pettigrew. Wen wundert es also, dass die Gastronomie in dem kleinen Häuschen nach genau diesem Gärtner benannt ist: der Pettigrew-Tearoom. Und auch, wenn das schon wieder ein Sakrileg ist: Der perfekte Einstieg in den Coastal Path in Wales beginnt mit einer Teezeremonie– die ja schließlich nicht nur englisch, sondern vor allem britisch ist und vor Tee-Vielfalt nur so strotzt, sagt Tara Patton, Bedienung im Pettigrew Tearoom:
"Wir haben grünen Tee, schwarzen Tee, aromatisierten Tee. Mein Lieblingstee ist, denke ich, Earl Grey. Tee trinken gehört zu unserer Kultur. Man trinkt Tee, wenn es heiß ist oder eine Tasse Tee, wenn es kalt ist, wenn man nervös ist, wenn man nicht nervös ist oder auch bei gesellschaftlichen Anlässen."
Und eben weil der Tee praktisch ein lebenswichtiger Teil des britischen Tages ist, sitzt Besucherin Francis Potts draußen vor dem Pettigrew-Tearoom und genießt neben ihrem frisch aufgebrühten Tee die Mittagssonne und den Blick in den weitläufigen Bute-Park:
"Es ist typisch englisch, sich mit Leuten auf eine Tasse Tee zu treffen. Wir benutzen keine Teebeutel, sondern trinken ihn aus einer Teekanne, mit einem Sieb und mit Teeblättern. Wir benutzen frisch gekochtes Wasser und kein altes, das schon mal aufgekocht wurde – und auf gar keinen Fall Teebeutel."
Zwei Tassen Tee und drei leckere Kekse später geht es los: zunächst mit dem Wagen nach Swansea, um dort direkt am Bristol Channel loszuwandern. Wer vielleicht hier zunächst enttäuscht ist über Hafenanlagen, Kräne und Industrie kann beruhigt sein: Auch das gehört zum Coastal Path und der Küstenregion. Das "Prince of Wales"-Dock macht schnell wieder deutlich, wo man sich befindet und nur ein paar Kilometer später belohnen Meeresweite, Strand und Seeluft die Wanderergeduld. Das alte Fischerstädtchen Mumbles, der schicke weiße Leuchtturm davor, der weitläufige Surferstrand von Langland mit den sanften Hügeln der Ortschaft dahinter: Natur pur, die hier an der Küste von Wales mit einer ungewöhnlichen Tier- und Pflanzenwelt überrascht. Noel Clawson:
"Die britische Westküste steht sehr unter dem Einfluss des Golfstroms. Das bedeutet, dass man hier Palmen findet oder auch Feigenbäume, also Früchte und Pflanzen, die man hier in Großbritannien nicht erwarten würde."
Das Ziel des Tages: die Landzunge von Rhossili Beach, dem schönsten Strand Großbritanniens. Mehr als vier Meilen lang erstreckt sich die makellose Sandfläche am Ärmelkanal, auf der Landseite gesäumt von sanft-grünen Grashügeln. Ein wahrer Traum, der auch durch seine vielen Besonderheiten bekannt geworden ist, wie den legendären Wormshead: Eine Felsformation im Wasser, die aussieht wie ein schlafender Drache. Walisische Dichtergrößen wie der 1914 geborene Dylan Thomas wurden hier bei auflaufendem Wasser schon vom Meer eingeschlossen, während sie über ihre neuesten Verse nachdachten. Genützt hat die Abgeschiedenheit und Ruhe am Coastal Path auf jeden Fall etwas: Dylan Thomas hat sogar eine Jahrhundert-Band inspiriert, erzählt Noel Clawson:
"Tatsächlich wurde einer der Beatles sehr von ihm beeinflusst: John Lennon. Eines ihrer berühmtesten Alben war Sgt. Peppers Lonely Heart Club Band. Und eine der ersten Personen, die auf das Cover gebracht wurden, war dieser Poet: Dylan Thomas."
Auch andere Menschen haben den Weg nach Wormshead gefunden, wenn auch unfreiwillig. Strandräuber haben hier in Sturmnächten noch bis Ende des 19. Jahrhunderts Segelschiffe mit Laternen auf den Strand gelockt. Eines der zahlreichen Wracks – die Helvetia – steckt noch heute tief im Strand und kündet bei Ebbe mit ihren muschelbewachsenen Schiffsrippen von den Gräueltaten vergangener Tage. Eine Attraktion auch für Strandbesucher Richard Phillips, der das Schiffswrack seit seiner Jugend kennt:
"Als ich das Schiff das letzte Mal gesehen habe, war es wesentlich größer und es haben mehr Rippen aus dem Sand geguckt. Aber das ist 42 Jahre her. Ich mag es hier sehr in Rhossili Beach und die Helvetia als Geisterschiff liegt schon so lange hier. Gruselig ist es hier trotzdem nicht, aber der Platz hat eine schöne Atmosphäre und der Strand ist wunderschön."
Einer, der den Strand und das Schiff jeden Tag vor Augen hat, ist der Wirt des Wormshead-Hotels, Julian Short. Der 75-Jährige betreibt das fast 140 Jahre alte Haus in walisischer Tradition und kennt alle Legenden rund um das Hotel und das Schiffswrack. Auch die Geschichte des jungen Mädchens, das die Helvetia in einer Sturmnacht mit einer Laterne auf den Strand gelockt hat und dafür gehängt wurde. Ihr ruheloser Geist steht in Vollmondnächten mit der Laterne in der Hand am Strand, sagen die Einheimischen. Manche von ihnen fürchten die Gegenwart des Geistes vielleicht zu Recht. Immerhin wurde das Holz des Seglers in vielen der Häuser der Region verbaut und ist noch heute dort. Julian Short zumindest ist das spukende Mädchen noch nicht begegnet, aber:
"Ich muss zugeben, dass ich habe oft Ausschau nach ihr gehalten. Ich habe sie noch nicht gesehen, aber ich bin mir sicher, dass sie dort ist. Vor acht Jahren haben wir das Hotel für Reparaturen geschlossen und wir hatten Geisterjäger hier für drei Tage und drei Nächte. Ich habe gehofft, dass sie etwas finden, aber es war nichts. Ich bin mir trotzdem sicher, dass das Geistermädchen mit der Laterne da draußen und ist. Und traurig, zu sagen: Sie ruht nicht in Frieden."
Von der Gower-Halbinsel geht es am nächsten Morgen weiter in Richtung Pembrokshire. Die Küstenlinie wird felsiger und das Meer rauer. Der Pembrokshire Coast Path auf der britischen Atlantikseite ist mit dem Gründungsjahr 1970 einer der ältesten Teile des Wales Coastal Path. Und er ist nicht nur einer ältesten, sondern auch einer der schönsten Teile. Erst kürzlich hat "National Geographic" Pembrokshire zur zweitschönsten Küstenregion der Welt gekürt. Hier gibt es mehr Robben und Seevögel zu sehen, als sonst irgendwo in Wales. Besonders spektakulär ist die Steilküste bei St. Davids. Hier in Caerfai Bay steht Kathrin Thomas von der nationalen Naturschutzorganisation National Trust auf einer grasbewachsenen Steilklippe. Der beständige Wind läuft in Wellen durch das satte Grün und lässt das Sonnenlicht auf den Grashalmen glitzern. Kathrin Thomas zeigt hinunter auf den Sandstrand der Bucht. In Pembrokshire die Schönheit und Macht des Meeres zu erleben, ist etwas ganz Besonderes, sagt sie:
"Weil der Meeresspiegel steigt, ist die Flut hier von Jahr zu Jahr höher und wenn die Wetterbedingungen stimmen, können die Wellen sehr spektakulär sein. Man selbst fühlt sich so klein und zerbrechlich, wenn man die Größe der Wellen sieht. Das flößt schon Respekt ein."
Auf den schmalen gewundenen Pfaden und gras bewachsenen Feldwegen entlang der Küste kommen einem immer wieder freundlich grüßende Wanderer entgegen. Der Coastal Path in Wales hat sich seit seiner Eröffnung im Jahr 2012 zu den beliebtesten Wanderwegen in Großbritannien und auch Europa entwickelt. Offizielle Besucherzahlen gibt es zwar nicht, aber los ist hier immer etwas, sagt Roger Waymark, der als Freiwilliger der Küstenwache in einem kleinen weißen Backsteinbau an der St. Non's Bucht sitzt:
"Es ist völlig egal, wie das Wetter hier ist. Es scheint so, als ob hier draußen immer jemand ist. Die Leute kommen hier vorbei und gucken rein, auch schon mal auf einen Kaffee oder einen Keks und eine kurze Unterhaltung. Aber es gibt natürlich auch mal ruhigere Tage – so wie heute."
Neben den vielen kleinen Fischerdörfern, Hafenstädten, windgedukten Kirchen aus dem 12. Jahrhundert und der bewegten Landesgeschichte, fasziniert der Coastal Path in Wales vor allem mit einem: Seiner endlosen und vielfältigen Natur, die hinter jeder Küstenkurve immer wieder anders ist und einen tief durchatmen lässt. Chris Dale ist als leitender Parkranger für große Teile des Coastal Path verantwortlich. Er kennt die Schönheit der walisischen Küste vom Beginn der Strecke in der Nähe von Cardiff bis zu ihrem Ende am Fluss Dee bei Queensferry – und er kennt auch ihre Tücken:
"Manche Abschnitte des Coastal Path werden regelmäßig überflutet. Es ist wichtig, dass die Besucher dort vorsichtig sind, weil wir nicht wollen, das jemand weggespült wird. Man muss also warten, bis die Flut vorbei ist. Es ist sehr wichtig, diese Stellen dann nicht zu überqueren, weil die Strömung sehr stark und gefährlich sein kann."
Solange man sich aber als Wanderer an der Natur orientiert, kann einem nichts passieren, versichert er. Und verweist auf die walisischen Wildpferde, die einem auf dem Weg in den Norden an der Küste immer wieder begegnen und seit Jahrhunderten mit der Ebbe und vor allem mit der Flut in Wales leben:
"Die Tiere leben dort seit vielen Generationen und haben gelernt, damit zu leben, dass die Flut kommt und die Wiesen überspült. Wenn das passiert, stellen sie sich einfach auf höher gelegene Stellen und wissen wo es sicher ist. Wenn die Flut da ist, sind sie komplett vom Wasser umgeben und bewegen sich nicht, bis das Meer wieder weg ist. Dann gehen sie wieder runter und grasen auf den Wiesen weiter, als wäre nichts geschehen."
So ist der Coastal Path in Wales ein ganz erstaunlicher Weg entlang einer Küste, die sich im Verlauf der insgesamt 1.400 Kilometer immer wieder verändert, berührend schöne Bilder bereithält, mit ihrer Natur und Vielfalt verzaubert. All das aber wäre wohl nur halb so schön ohne die große Gastfreundlichkeit der Waliser. Abends nach einem langen Küstenwandertag am Hotel in einen der Pubs einzukehren, ist wohl das Schönste, was man sich vorstellen kann, sagt Barkeeper Scott Thomas:
"Ich denke, es liegt an den Leuten hier. Alle sind sehr freundlich und dadurch ist es eine schöne Atmosphäre in den Pubs. Jeder ist hier willkommen. Und am guten Bier liegt es bestimmt auch. Das hier kommt aus Cornwall. Es ist ziemlich teuer, aber das lohnt sich, weil man davon wirklich schnell betrunken wird. Es hat 4,8 Prozent – super."
Und natürlich lebt der Coastal Path in Wales neben der Gastfreundlichkeit vor allem auch von den Mythen, Legenden und Geschichten. Manche davon sind vielleicht sogar wahr, meint der Wirt des Hotels am Wormshead. Er zumindest hat schon öfter gesehen, dass der steinerne Drache im Meer nicht still gelegen hat. Allerdings steckt dahinter - wenn auch in diesem Fall ein nicht ganz Wales-typisches – Geheimnis:
"Ich habe gesehen, wie er sich bewegt hat. Und zwar, nachdem ich ein paar Whiskey hatte oder nach einem guten Essen und ein paar Flaschen Wein."