Archiv


Walesas „Solidarnosc“ öffnete die Tür

Die Verbindung zwischen Polen und der Europäischen Union ist noch jung. Erst im September 1988 wurden erstmals offiziell diplomatische Beziehungen aufgenommen, zwischen der Volksrepublik Polen und der Europäischen Gemeinschaft, wie die Union damals noch hieß. Polen war eines der ersten Länder des ehemaligen Ostblocks, das direkte Kontakte mit der Wirtschaftsgemeinschaft Westeuropas aufnahm und ein Jahr später einen Vertrag über Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnete. Noch bis 1986 hatten die Satellitenstaaten der Sowjetunion die Europäische Gemeinschaft gar nicht anerkannt, erst der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow brachte mit Perestroika und Glasnost den Durchbruch. Doch bevor das alles möglich wurde, hatte in Polen die Gewerkschaft Solidarnosc den Weg bereitet. Schon im Jahr 1980 begann der Weg Polens in die Freiheit, als die Arbeiter der Danziger Leninwerft mit wochenlangen Streiks das Recht auf freie Gewerkschaften in Polen erkämpften und damit dem kommunistischen System eine erste Niederlage bescherten.

Bernd Musch-Borowska | 05.03.2003
    Lech Walesa wurde nicht nur der Anführer der streikenden Werftarbeiter, sondern die Integrationsfigur der gesamten Bewegung Solidarnosc und im Ausland die Symbolfigur für die politische Wende in Polen. Unter seiner Führung erkämpfte sich die Gewerkschaft Solidarnosc die ersten Stücke der Freiheit:

    Und jetzt gehen wir zurück zur Arbeit, mit der gleichen Solidarität und Besonnenheit, mit der wir gestreikt haben. Ab morgen beginnt das Leben unserer neuen Gewerkschaften. Sorgen wir dafür, dass sie immer unabhängig bleiben, dass sie immer selbstverwaltet sind und für uns alle arbeiten, für das Wohl des Landes, für Polen. Ich erkläre den Streik für beendet.

    Mit diesen Worten von Lech Walesa endete im August 1980 der Besetzungsstreik auf der Danziger Leninwerft. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Volksrepublik Polen und des gesamten sowjetischen Herrschaftsbereiches überhaupt, endete ein Arbeitskampf nicht ausschließlich mit ökonomischen Konzessionen, sondern mit politischen Zugeständnissen, die einen Bruch in den totalitären Strukturen des Staates zur Folge hatten. Dieser Bruch konnte nicht wieder aus der Welt geschafft werden. Weder durch das Kriegsrecht, das im Dezember 1981 verhängt wurde, noch in den Jahren danach, bis zum langsamen aber sicheren Zerfall des Kommunismus in Osteuropa. Damals hat der Marsch zur Freiheit Europas begonnen, sagt Bogdan Lis, der damalige Stellvertreter Walesas im Verhandlungskomitee der Streikenden:

    Im Jahre 1980, das war eine gesellschaftliche Bewegung, es war in einem gewissen Sinne eine national-freiheitliche Bewegung, die natürlich friedliche Methoden benutzte und sich nicht immer dessen bewusst war, dass damit unser Marsch zur Freiheit angefangen hat. Denn neben uns war die Sowjetunion, an der Grenze stand die sowjetische Armee, in Polen gab es sowjetische Divisionen. Wir hatten also äußere Beschränkungen, von denen wir uns nicht befreien konnten. Aber das, was hier begann, veränderte den Charakter Europas, der Welt. Zehn Jahre nach der Entstehung der Solidarnosc ist die Berliner Mauer gefallen, also dieser Marsch zur Freiheit begann im Jahre 1980.

    Das Kriegsrecht, das im Dezember 1981 verhängt wurde, hat den Freiheitsdrang der Polen gestoppt, aber nur vorübergehend. Zahlreiche bürgerliche Rechte, die die Gewerkschaft Solidarnosc erkämpft hatte, wurden wieder aufgehoben.

    Böse, feindliche Kräfte versuchen die Fundamente unserer sozialistischen Gesellschaft zu erschüttern, sagte General Wojciech Jaruzelski, der das Kriegsrecht über das Land verhängte, im polnischen Parlament. Dies dürfe nicht zugelassen werden.

    Das Postgeheimnis wurde aufgehoben, Briefe wurden von nun an von Amts wegen geöffnet und zensiert, die Grenzen wurden geschlossen, auch der freie Reiseverkehr innerhalb Polens wurde eingeschränkt. Öffentliche Versammlungen wurden verboten und von 22 Uhr an galt jede Nacht ein Ausgangsverbot.

    Die Gewerkschaft Solidarnosc, die erst eineinhalb Jahre zuvor als erste unabhängige Gewerkschaft zugelassen worden war und inzwischen mehrere Millionen Mitglieder hatte, wurde verboten, ihr Vorsitzender Lech Walesa verhaftet und interniert. Ebenso andere prominente Bürgerrechtler, wie Tadeusz Mazowiecki und Adam Michnik.

    Nachdem Mitte der 80er Jahre das Kriegsrecht schrittweise wieder aufgehoben wurde, gewann auch die Freiheitsbewegung Solidarnosc wieder an Kraft. Sie erreichte am Runden Tisch, einem Gesprächsforum der kommunistischen Regierung und der außerparlamentarischen Opposition, dass der totalitäre Staat schließlich bereit war, seine Macht abzugeben. 1989 kam es in der Konsequenz zu den ersten freien Wahlen in Polen.

    Werbespot Solidarnosc: Wählt Solidarnosc. Ich möchte dass es in Polen besser wird. Komm, auf zur Wahl. Wähl Solidarnosc.

    Die Vertreter der Solidarnosc, die noch einige Jahre zuvor verfolgt und inhaftiert worden waren, durften an der Wahl teilnehmen. Die Gewerkschaftsbewegung bekam ihre eigene Zeitung, mit der sie für ihre Wahlziele werben konnte, die Gazeta Wyborcza und sie erhielt Werbezeiten im staatlichen Rundfunk und Fernsehen. Die Kampagne mobilisierte das ganze Volk, sich an der Gestaltung der neuen Gesellschaft zu beteiligen.

    Der Werbesong der Freiheitsbewegung wurde zu einem populären Lied: Lasst uns unsere Sache in die Hand nehmen, wählt Solidarnosc, dann hat die Krise ein Ende.

    Die Bewegung Solidarnosc wurde zum großen Sieger der Wahl. Zwar wurden nur 35 Prozent der Sitze im Parlament durch freie Wahlen bestimmt, doch Tadeusz Mazowiecki, einer der intellektuellen Führer der Solidarnosc wurde der erste Premierminister der Republik Polen:

    Wir wollen ein Polen, das Europa und der Welt gegenüber aufgeschlossen ist. Ein Polen, das ohne Minderwertigkeitsgefühl materielle und geistige Güter mitgestaltet. Ein Polen, dessen Bürger sich in anderen Ländern Europas und der Welt wie freundlich begrüßte Gäste und nicht wie ungebetene Eindringlinge fühlen.

    Die polnische Bewegung Solidarnosc hatte die politische Wende in Europa eingeleitet und so den Weg geebnet für die Integration Polens in die Strukturen der westeuropäischen Staatengemeinschaft. Kurz nach dem Amtsantritt von Mazowiecki fiel auch die Berliner Mauer und nur zwei Jahre später zerfiel sogar die mächtige Sowjetunion.

    Die junge Republik Polen suchte ihren Weg im neuen Europa und es gab kaum einen Zweifel, wohin dieser Weg führen sollte. Die Menschen in Polen hatten sich - auch unter dem kommunistischen Nachkriegs-Regime - immer als Teil Europas verstanden. Die Integration in die Strukturen der Europäischen Gemeinschaft war vor diesem Hintergrund nur ein logischer Schritt.

    Im Juni 1993 beschlossen die 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass alle ost- und mitteleuropäischen Länder EU-Mitglied werden könnten, wenn sie bestimmte politische und wirtschaftliche Bedingungen erfüllten. Diese Bedingungen, die als Kopenhagener Kriterien bekannt wurden, umfassten das Bekenntnis zu Demokratie, Pluralismus, zur Wahrung der Menschenrechte, zu Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, die allgemein üblichen Aufnahmevoraussetzungen zu erfüllen.

    Der Weg Polens in die Europäische Union begann. Im April 1994 stellte die polnische Regierung offiziell den Aufnahme-Antrag. Im gleichen Jahr trat der Assoziierungsvertrag zwischen Polen und der EU in Kraft. Der damalige polnische Präsident Lech Walesa sagte später, ein anderer Weg sei für Polen gar nicht in Frage gekommen, zum EU-Beitritt habe es niemals eine Alternative gegeben:

    Das Problem besteht darin, dass wir keine andere Wahl haben. Die Entwicklung der EU, die Vereinigung eines Kontinents, das ist so ähnlich, wie früher bei der Gründung von Staaten. Deshalb ist eine EU-Erweiterung nötig, natürlich eine, die keine Destabilisierung herbeiführt. Bestimmt gibt es bei uns einige Dinge, die nicht zur EU passen, aber sie sind Folge des eisernen Vorhangs. Trotzdem: Wir dürfen nicht zu sehr zögern, denn sonst könnte mit uns das gleiche passieren, was mit Weißrussland passiert ist. Weißrussland hat sich Russland zugewandt, weil es keinen Plan gab. Sie hatten keine Perspektiven, keine Chancen, sie waren den Sowjets untergeordnet und sie konnten ihre Unabhängigkeit nicht aufrechterhalten.

    Der EU-Gipfel in Madrid, 1995, legte den Zeitplan für die EU-Osterweiterung fest. Bundeskanzler Helmut Kohl und Frankreichs Präsident Jacques Chirac hatten Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik eine Aufnahme im Jahr 2000 in Aussicht gestellt. Die Zeit wurde knapp. Eigentlich wollte man schon 1997 mit den Beitrittsverhandlungen beginnen, doch dazu kam es nicht. Und erst im März 1998, nahm die EU-Kommission mit Polen und fünf weiteren Kandidatenländern schließlich offizielle Beitrittsverhandlungen auf.

    Fast 30 Verhandlungskapitel mussten abgearbeitet werden. Rechtssysteme wurden angeglichen, Zoll- und Steuervorschriften harmonisiert, Verbraucherschutz, Umweltschutz und vor allem die Landwirtschaft mussten für den gemeinsamen Markt vorbereitet werden. Polen war zu Beginn das Zugpferd unter den Beitrittskandidaten. Das größte der Kandidatenländer, mit den meisten Einwohnern über 40 Millionen Menschen - aber auch den gewaltigsten Problemen. Vor allem die Anpassung der Landwirtschaft an EU-Standards erwies sich im Laufe der Verhandlungen als besonders schwierig. Dieses Kapitel wurde deshalb schon bald bis zum Ende der Beitrittsverhandlungen verschoben.

    Es ist keine Frage, dass die Landwirtschaft zu den schwierigsten Problemen im Erweiterungsprozesses gehört. Und zwar nicht nur in Polen sondern in allen Kandidatenländern. Aber in Polen ist das Problem besonders groß, weil wir hier mit einem riesigen Strukturproblem konfrontiert sind, das es in dem Maße in den anderen Ländern nicht gibt. Deshalb sind wir dafür, dass man eine Diskussion darüber führt, wie man einen vernünftigen Übergang von der jetzigen Situation zur Zukunftssituation schafft. Das wichtigste dabei sind Jobs für die Leute, die aus der Landwirtschaft hinausgehen. Die ländliche Entwicklung ist eine absolute Priorität und deshalb wollen wir da auch mithelfen.

    Franz Fischler, der EU-Agrarkommissar machte der polnischen Regierung von Anfang an klar, dass die ländlichen Regionen in Polen von den Herausforderungen der europäischen Integration am stärksten betroffen sein würden. Etwa ein Viertel der gesamten polnischen Bevölkerung lebt auf dem Land und direkt oder indirekt von der Landwirtschaft. Die meisten der Bauernhöfe sind allerdings zu klein, um wirtschaftlich arbeiten zu können, in vielen Fällen deckt der Ertrag gerade mal den Eigenbedarf.

    Die Angst vor den Folgen der Umstrukturierung führte zu einer wachsenden Skepsis bei der polnischen Landbevölkerung. Die Bauern hatten anfangs noch auf einen Geldsegen aus dem EU-Agrarhaushalt gehofft, doch als klar wurde, dass die Europäische Union ihre Subventionspolitik nicht auf die neuen Mitglieder ausweiten würde, kippte auf dem Land die Stimmung um:

    Weil wir nicht wissen, nach welchen Bedingungen wir beitreten werden. Wenn wir nach solchen Bedingungen beitreten, wie die Länder in Westeuropa haben, wird der polnische Bauer bestimmt nicht gegen die Integration mit der EU sein. Denn wir wollen auch produzieren können, damit wir irgendwelche Mittel für den Unterhalt der Familie und die Modernisierung der Wirtschaft haben.


    Ich weiß nicht, ob wir den Anforderungen gewachsen sind, denn die Bedingungen sind sehr schwierig, aber wir werden uns nach allen Kräften bemühen. Es ist unser Traum, der Europäischen Union beizutreten, aber ob wir das schaffen, das wissen wir nicht. Denn es ist noch unklar, nach welchen Bedingungen wir mit unserer Rentabilität beitreten werden. Wir bemühen uns einfach, allen Anforderungen gewachsen zu sein.



    Wir sind deshalb dagegen, weil wir solche erschreckende Information bekommen, dass wir nicht die gleichen Direktzahlungen für die Landwirtschaft haben werden, wie die Bauern in den Ländern, die schon in der EU sind. Und das beunruhigt die Menschen.

    1999 wurde Polen in die NATO aufgenommen. Für die Integration in das transatlantische Verteidigungsbündnis gab es in der Bevölkerung einen breiten Konsens, im Gegensatz zum EU-Beitritt. Für die Menschen in Polen war die Aufnahme in die NATO der eigentliche Garant der frisch erlangten Freiheit, für die Regierung war es nur erst der erste Schritt. Präsident Alexander Kwasniewski bei der Aufnahme Polens in die NATO:

    Dies ist ein ungewöhnlicher Moment in unserer Geschichte. Unsere Träume haben sich erfüllt. Die gemeinsamen Bemühungen haben Erfolg gehabt. Wir treten der NATO bei. Wir kehren an unseren Platz zurück, denn die Allianz ist eine gemeinsame Macht im Namen gemeinsamer Werte. Nach diesen Werten haben unsere Nationen verlangt. Sogar im düsteren System nach Jalta, im Warschauer Oktober, während der Tragödie von Budapest im Jahre 1956, während des Prager Frühlings 1968 und während des Kampfes der polnischen Solidarnosc im Jahre 1980. Heute sind wir am Ziel. Aber das ist noch nicht das Ende. Das ist der Anfang. Heute in der NATO, morgen in der Europäischen Union. Gemeinsam werden wir das erreichen.

    Doch inzwischen war Polen in der Gruppe der Beitrittsländer weit zurückgefallen. Während die anderen Beitrittskandidaten schon viel mehr Verhandlungskapitel abgeschlossen hatten, kämpfte die polnische Verhandlungsdelegation um Übergangsfristen zum Schutz des heimischen Marktes. Auf der anderen Seite ging auch in den EU-Staaten der Enthusiasmus für die Erweiterung verloren. Während sich die wirtschaftliche Entwicklung weltweit verlangsamte, wuchs die Sorge vor den riesigen Kosten der Erweiterung und den Folgen für die Wirtschaft in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten.

    Hauptstreitpunkte waren unter anderem die Direktsubventionen für die Landwirtschaft sowie die Themen Landkauf durch EU-Bürger in Polen und Freizügigkeit für polnische Arbeitnehmer in der EU. Der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günther Verheugen wurde in Polen zu einem der am meisten gefürchteten und geachteten Gesprächspartner der Regierung. Verheugen setzte sich auf der einen Seite bei den EU-Mitgliedsländern für die Interessen der Kandidatenländer ein und redete auf der anderen Seite den Polen ins Gewissen, wenn die Verhandlungen ins Stocken gerieten:



    Der EU-Beitritt ist natürlich freiwillig. Niemand wird gezwungen, der Europäischen Union beizutreten. Wenn ein Land nicht will, wäre das bedauerlich, aber das müssten wir akzeptieren. Und wenn ein Land sagt, wir sind noch nicht bereit, dann gilt die Regel, die vor allem von Polen immer unterstützt wurde, dass die anderen Kandidatenländer nicht auf dieses Land warten müssen.

    Am 13. Dezember 2002 wurden auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit den insgesamt 10 Kandidatenländern offiziell abgeschlossen. Bis zuletzt hatte die polnische Regierung hart verhandelt, um die besten Bedingungen für die polnischen Bauern herauszuholen. Anfang Juni soll die Bevölkerung in einem Referendum über den Beitritt abstimmen. Doch der Ausgang ist ungewiss. Zwar gibt es in den Umfragen zur Zeit eine deutliche Mehrheit für die europäische Integration, doch die aktuelle politische Situation ist denkbar ungünstig für die Abstimmung über den EU-Beitritt. Erst Ende vergangener Woche ist die Regierungskoalition aus der Linksallianz und der Bauernpartei ausgerechnet im Streit um die Agrarpolitik und den EU-Beitrittsvertrag zerbrochen. Premierminister Leszek Miller muss jetzt ohne Mehrheit im Parlament weiterregieren. Aber: Angesichts des anhaltend schlechten Abschneidens des Kabinetts Miller in den Meinungsumfragen, könnte es noch schwer fallen, bis zum Referendum in rund 100 Tagen, das Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen.

    Link: 10 plus - Ein Europa - Nahaufnahmen aus den Beitrittsländern