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Wallfahrt zur Synagoge La Ghriba auf Djerba
Fest der Sinne, Partnersuche und Fruchtbarkeit

Jedes Jahr zum jüdischen Fest Lag BaOmer pilgern Juden aus aller Welt zur Synagoge La Ghriba auf die tunesische Insel Djerba. Viele haben ihre Wurzeln hier. Die Wallfahrt bringt sie alle wieder zusammen zu einem Ritual, bei dem neben Feigenschnaps vor allem Eier eine wichtige Rolle spielen.

Von Detlef Urban |
    Eier, die mit lateinischen, hebräischen und arabischen Wünschen beschriftet wurden. Sie sind Teil der Prozession zur Syngagoge La Ghriba auf der tunesischen Insel Djerba. Foto: imago stock&people
    Sie werden mit Wünschen auf Hebräisch, Latein und Arabisch und mit dem Namen des Gebers beschriftet: Eier sind ein wichtiger Teil der Wallfahrt zur Synagoge La Ghriba auf Djerba. (imago stock&people)
    Er versteht es, die Preise hoch zu treiben. Das ist sein Job als Auktionator. Der Herr mit Kipa und weißem Hemd hat die Menge fest im Griff. Es sind Frauen, die sich im Preis hochtreiben, westlich angezogen, keine orthodoxen Jüdinnen. Die Objekte ihrer Begierde sind eher Kitsch: blecherne Menorahs und billige Weihrauchgefäße, blumenumsäumte Bilder, Hochzeits-Schals. Eine Gewinnerin steht mit ihrem ersteigerten Gefäß vor einem rasch aus der Tasche gezogenen Transparent. "Merci La Ghriba", steht da drauf. Klick, Selfies, die Bilder gehen um die Welt.
    "Wir sind live auf Facebook. Ich habe heute schon 10.000 Klicks gehabt. 10.000 Followers, stellen Sie sich das vor."
    Wer ein Stück ersteigert, darf es später bei der Prozession auf den Wagen stellen. Das ist das eigentliche Ziel.
    Die Wallfahrt zur Synagoge La Ghriba ist Volksfest, Heiratsmarkt, Familientreffen von Juden, die im Ausland leben – Frankreich, Israel, Kanada, England, Belgien. 3.000 sind angereist, mehr als 100 allein aus Israel. Sie haben ihre familiären Wurzeln in Tunesien, wo früher über 100.000 Juden lebten. Nach der Gründung des Staats Israel und dem Sechs-Tage-Krieg 1967 emigrierten viele. Heute zählt Tunesien noch etwa 1.500 Juden, die meisten wohnen auf Djerba in den Dörfern Hara Kebira und Hara Sghira unweit der Synagoge.
    Tablas spielen, Schnaps macht die Runde. Frauen im gesetzten Alter plaudern lautstark, junge Frauen aus den Dörfern mit eng anliegenden Kleidern oder – nicht so slim-line – mit Chiffon-Gewändern und keck aufgesetzten Hüten, mit Sheitl, Tichel oder Shpitzel, den klassischen jüdischen Kopfbedeckungen, manche auch mit Perücke – man fühlt sich versetzt in eine Modezeitschrift der 1930er Jahre oder auf einen jüdischen Ball jener Zeit. Heute aber ist die alte Karawanserei der Laufsteg, wo früher Händler Rast machten.
    Auktion in der alten Karawanserei der tunesischen Insel Djerba: Bevor die Prozession zur Synagoge La Ghriba beginnt, werden hier allerlei religiöse Symbole verteigert.  Foto: Imago
    Bei der Auktion in der alten Karawanserei von Djerba, werden vor der Prozession zur Synagoge La Griba allerlei religiöse Symbole verteigert. (imago stock&people)
    Jüdische Symbole in römischen Mosaiken
    Ein Sänger aus Israel findet sein Publikum in dieser ältesten Synagoge Afrikas. Von Hohepriestern soll sie im 6. Jahrhundert vor Christus gegründet worden sein. Die Legende erzählt, sie seien aus Jerusalem geflüchtet nach der Zerstörung des salomonischen Tempels und hätten einen Stein und eine Tür aus den Ruinen mitgebracht. Historisch und archäologisch ist das nicht belegt. Jedenfalls kamen die Juden nach Djerba, zu den Vorfahren der Berber. Das Judentum war von den monotheistischen Religionen zuerst da, sagt Bernard Allali, der sein Buch über Juden in Tunesien mitgebracht hat.
    "Man findet jüdische Symbole in römischen Mosaiken und Zeichnungen in den Ruinen von Karthago. Sehen Sie hier die Bilder der beiden Öllampen. Die erste stammt wohl aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. In die Keramik eingebrannt ist eine Menorah. Und dann diese Lampe aus dem 3. Jahrhundert: wieder eine Menorah, aber darüber steht ein Mönch mit einem christlichen Kreuz. Zu seinen Füßen eine Schlange. Ist es eine Allegorie auf die Verführung im Paradies oder wird die Schlange das Judentum auffressen? Tatsache ist: die Mehrheit der Juden konvertierte damals zum Christentum. Um dann die Religion erneut zu wechseln, als der Islam ab dem 7. Jahrhundert Tunesien eroberte."
    Durch Synagoge und Karawanserei wabern Fragmente jüdischer Mystik, der Kabbala. Manche sprechen davon, keiner kann es erklären. An einem Verkaufsstand stehen Menschen Schlange für gekochte Eier. Sie werden bemalt, beschriftet - lateinisch, arabisch oder hebräisch mit allerlei Wünschen.
    "Ich schreibe hier meinen tiefsten Wunsch drauf. Und mache das auch für meine Freunde in Paris. Deren Kinder sind nicht verheiratet, aber sie wünschen sich Enkel. Die Eier legen wir dann in die Grotte der Synagoge. La Ghriba bringt Glück. Morgen früh holen wir sie wieder raus, legen sie in den Kühlschrank, und nehmen sie mit nach Paris. Man muss sie nämlich essen, damit der Wunsch in Erfüllung geht."
    Ich hatte die Synagoge schon einmal vor Jahren besucht und war angetan von dem kleinen prachtvollen Gebetsraum. Mit seinem umlaufenden Bogengang, den mit floralen Elementen bemalten Keramik-Kacheln, die im natürlichen Licht sanft schimmern, bekommt der Raum etwas Mystisches. Um den hölzernen Torahschrein sind Bänke gruppiert. Blau ist die Grundfarbe, dieses mediterrane Blau, das man rund ums Mittelmeer findet, in Tunesien oder in Griechenland. Ich fühle mich versetzt in ein Gemälde von Chagall.
    Das wichtigste aber, besonders am heutigen Tag, ist eine kleine Grotte an der Stirnseite. Nur geduckt kann man über eine Stufe hineinschlüpfen und ins Kerzenlicht eintauchen.
    Feigenschnaps als Segen
    Viel Platz gibt es nicht, höchstens für zwei oder drei Personen, links und rechts in den Ecken türmen sich Berge von beschrifteten Eiern. Im Kerzenschein hockt eine junge Frau und liest aus der Torah.
    Heute, am Feiertag Lag baOmer sind die Gebote der Trauerzeit nach Pessach aufgehoben. Das Essen wird geteilt, es wird getrunken und getanzt, ein Tag des Picknicks mit Freunden und Familie, auch in der Synagoge. Zwar ist sie ein Sakralbau, aber – das muss ich lernen – nicht geweiht wie eine Kirche. Auf jiddisch sagt man für Synagoge "Schul", es ist auch ein Gemeinschaftsraum. Einzelne Gruppen übertönen sich jetzt lautstark, die Wünsche auf den Eiern werden gleichsam untermauert. Trockenobst und Nüsse werden gereicht, volle Becher mit Feigenschnaps machen die Runde, einer bespritzt die Freunde mit Schnaps, es ist ein Segen. Bitte, trinken Sie.
    Eine Gruppe von Menschen in der Synagoge La Ghriba auf der tunesischen Insel Djerba. Ein Mann hält eine Flasche mit Feigenschnaps, auf Djerba "Boukha" genannt, in die Höhe. Der Schnaps ist Teil eines Rituals, das zum jüdischen Fest Lag baOmer gehört. Foto: imago stock&people
    Zu Lag baOmer wird auf Djerba traditionell "Boukha", Feigenschnaps getrunken. Mit dem Fest werden die Gebote der Trauerzeit nach Pessach aufgehoben. (imago stock&people)
    Eine Gruppe arbeitet sich durch zur vorderen Bank. Da sitzt in die Ecke gedrückt ein großer Mann mit Kipa, einen blauen Opferkasten vor sich. Ihm werden Trockenobst, Nüsse und Konfekt in eine bereits prall gefüllte Plastiktüte gekippt. Der Sitzriese ist Rabbiner, er besiegelt die Schnaps getränkte Zeremonie durch ein Gebet. Ohne diesen Segen, und er muss auf Hebräisch kommen, wird es nichts mit dem Eier-Wunsch.
    Eine Frau, die ein großes Tablett mit Nüssen in die Rabbiner-Tüte entleert, flüstert ihrem Sohn etwas ins Ohr, drückt ihn fest, weint, die Emotionen schlagen hoch. Sie ist Tochter algerischer Juden in Paris.
    "Ich bin hergekommen, weil mein Kind ziemlich krank ist. Ich habe den Namen meines Kindes auf das Ei geschrieben, seinen hebräischen Namen. Ich wünsche mir so sehr, dass er wieder gesund wird. Die Ghriba hat doch immer wieder Wunder bewirkt."
    Bei aller Unruhe fällt mir ein junges Paar auf, das sich genau wie ich den Trubel gelassen anschaut. Sie sind aus Tunis gekommen und stellen sich als Sherazad und Murat vor.
    Sherazad: "Wir sehen das hier mit großem Stolz und wollen unsere Solidarität zeigen mit der jüdischen Community, speziell weil wir Muslime sind. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, das von unserer Seite aus zu zeigen."
    Murat: "Wir haben doch eine gemeinsame Geschichte. Und wir sollten uns bemühen, sie lebendig zu halten. Hier können wir der Welt zeigen, dass es möglich ist, friedlich zusammenzuleben.
    Scharfschützen haben Posten bezogen
    Jetzt tanzt auch der französische Botschafter in der Synagoge, während draußen sein amerikanischer Kollege mit zehn Bodyguards anrückt. Der Premierminister ist gekommen, der Mufti, der Großrabbiner, der Religions- und der Innenminister, der nachsieht, ob die Sicherheit gewährt ist. Auf dem Flachdach des weißen Synagogenhauses stehen hinter einer umlaufenden Attika schwarz uniformierte Scharfschützen mit Gesichtsmaske, ein Heer von Polizisten und Soldaten hat weiträumig Posten um die Synagoge bezogen. Sicherheit muß man sehen, sagt Rene Trabelsi, der die Wallfahrt organisiert hat und sich noch mehr Besucher wünscht.
    "20.000 sind mein Traum. Belgier sind hier, Italiener, Franzosen, Israelis. Es könnten mehr Deutsche kommen. Ich kenne die Berliner Jüdische Gemeinde gut, und die ist doch sehr groß."
    In der Gasse zwischen Synagoge und Karawanserei arbeitet sich ein ehrwürdiger Rabbiner Zentimeterweise vorwärts, mit schwarzem Gehrock, Hut und langem grauen Bart. Er wird belagert, kommt aus Sfad, der israelischen Hochburg der Kabbala. Manche wollen seinen Segen, Journalisten wollen ein Statement. Im Trubel der Gasse stehen auch drei junge Männer an einem Stand, orthodoxe Juden aus Paris, Schüler. Sie wollen Passanten beibringen, wie man die Gebetsriemen um den Arm legt und lassen sie ein Gebet nachsprechen.
    Kurz vor Sonnenuntergang naht der Höhepunkt, die Prozession. Ein mit Tuch bedeckter Tisch auf Ballonrädern, darauf ein Kasten, an dem Hochzeitsschals und die Devotionalien der Versteigerung drapiert sind: blecherne Menorahs und Weihrauchgefäße. Auf dem Wagen hat ein Zeremoniar Platz gefunden, es ist der Auktionator aus der Karawanserei. Ich ahne es, gleich wird er Kamelle werfen. Und er tut es, wenigstens zwei Mal. Handys werden gezückt, alles live auf Facebook, vielleicht inzwischen 20.000 Klicks. Die Prozession ist wie eine Marienprozession ohne Maria und der kitschige Wagen erinnert mit seinem geschmückten Kasten an die Tradition djerbischer Hochzeiten, bei der die Braut auf dem Dromedar unter einem Kasten sitzt. Und so schließt sich der Kreis: die Wallfahrt zur La Ghriba ist ein Fest der Sinne, der Partnersuche und der Fruchtbarkeit - und der guten Wünsche. Ghriba bringt Glück.