Walt Whitman war einer der größten US-amerikanischen Autoren. Sein Hauptwerk, der Gedichtband "Grasblätter", erschien 1855. Danach überarbeitete und erweiterte er ihn mehrfach – ein Lebensprojekt. Der 1819 geborene Autor, der aus einfachen Verhältnissen kam, sah sich als Stimme der jungen aufstrebenden USA. Als sozialkritischer Journalist und Schriftsteller pries er die Demokratie, kritisierte Ausbeutung und Rassismus, stritt für die Gleichberechtigung der Frau und setzte sich für Naturschutz ein – Themen, die bis heute aktuell sind. Vor den "Grasblättern" schrieb er auch Prosa, zu der er später teilweise auf Distanz ging.
"Er hat sogar gedroht, spätere Herausgeber erschießen zu lassen, wenn sie sich um diese frühen Schriften kümmern…"
… sagt der Whitman-Übersetzer Jürgen Brôcan. In seinem klischeehaften Debütroman "Franklin Evans" von 1842 kritisiert Whitman moralisierend Alkoholkonsum.
"Nicht alle frühen Prosaversuche sind im Grunde genommen gleich gut gelungen, sodass manches vielleicht ein bisschen zu Recht der Vergessenheit anheim gefallen ist."
Amerikanisten gingen davon aus, dass Whitman nach "Franklin Evans" keinen weiteren Roman publizierte. Doch 2016 kam der amerikanische Doktorand Zachary Turpin auf die Spur eines zweiten Romans. Sein Thema: ein armer Straßenjunge, der sich um 1850 in New York durchschlägt. Den Roman hatte Whitman lediglich in Notizen skizziert und die Forscher dachten, er sei nie erschienen. Turpin durchforstete Bibliotheken nach Texten, in denen Namen, Orte und Handlungen aus den Skizzen auftauchten – und wurde fündig. In einer längst vergessenen Zeitung fand er den Fortsetzungsroman "Life and Adventures of Jack Engle".
"Er ist im Jahr 1852 zuerst in dieser Zeitung herausgekommen, nicht unter Whitmans Namen, sondern anonym. Und das machte es schwierig, diesen Roman dann späterhin zu identifizieren."
Ein Roman - drei Übersetzungen
Der Roman erschien 2017 in den USA. Noch im selben Jahr kamen zwei deutsche Übersetzungen heraus. Eine im Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" in eher wörtlicher Übertragung, die manchmal umständlich wirkt, und eine bei Manesse, die sich um eine heutige Sprache bemüht. Jetzt hat dtv eine dritte Übersetzung vorgelegt, "Leben und Abenteuer von Jack Engle", ergänzt um Notizen und Texte aus dem Umfeld des Romans. Jürgen Brôcan, der schon die "Grasblätter" übertrug, wird nun allen Sprach-Ebenen des Romans gerecht. Denn Whitman verbindet, auch ironisch, Hoch- und Alltagssprache.
"Whitman hat es geschafft mit diesem Roman ein Kompendium der damals sprachlichen Möglichkeiten vorzulegen. Das ist ja durchaus kühn, finde ich, für die Zeit."
Im Roman erzählt der Protagonist Jack Engle rückblickend von seiner Kindheit und Jugend in New York. Er wächst mit anderen Kindern auf der Straße auf – wie im Buch geschildert wird.
"Einige sind Waisen der ärmsten Schichten. Andere laufen vor der Brutalität ihrer Eltern fort, die schließlich bei Hoch und bei Niedrig reichlich vorhanden ist. (…) Das einzige Prinzip, das uns beherrschte, war der Lebensinstinkt, ganz animalisch: zu essen (falls wir etwas bekommen konnten), wenn wir hungrig waren, und uns hinzulegen und zu schlafen, wo auch immer die Müdigkeit uns überwältigte."
Jack hat Glück und wird im Alter von zehn Jahren von dem warmherzigen Ehepaar Foster aufgenommen, das einen kleinen Lebensmittel-Laden hat. Sie lieben den Jungen wie einen eigenen Sohn. Er geht in die Schule, hilft im Laden und als er 20 ist, bringt ihn Foster zu dem Anwalt Covert, wo Jack eine Ausbildung macht. In seiner Freizeit streift er mit wachen Sinnen durch die Stadt.
"Vielleicht ist New York ein bisschen der heimliche Protagonist dieses Romans. Whitman beschreibt das Zusammenleben der verschiedenen Berufe, der Religionen, der Gesellschaftsschichten."
Sagt Jürgen Brocan. Whitman zeichnet ein lebendiges Bild New Yorks Mitte des 19. Jahrhunderts. So wird "Leben und Abenteuer von Jack Engle" zu einem frühen modernen Stadtroman.
Solidarisch mit den Armen
Jack genießt es, Teil einer multikulturellen fortschrittlichen Metropole zu sein. Doch als ehemaliger Straßenjunge blickt er auch solidarisch auf die Not anderer Menschen.
"Ich kenne wenige Anblicke, die betrüblicher sind als diese alten Männer, die man heute in New York hier und da sieht; offenbar unbeweibt und kinderlos, äußerst ärmlich, die Lippen über zahnlosen Gaumen eingefallen, mit gammeligen, speckigen Lumpen bekleidet, beenden sie ihr Leben auf dem umstrittenen Boden zwischen ehrenhaftem Hungertod und dem Armenhaus."
Whitman führt ein buntes Arsenal von Figuren ein, die alle in Beziehung stehen mit Jack und dem Anwalt Covert – etwa das Mädchen Martha, in das sich Jack verliebt. Covert ist ihr Vormund und will ihr Erbe an sich bringen. Jack und Martha machen sich mit Hilfe von Freunden daran, dem betrügerischen Anwalt das Handwerk zu legen. Insgesamt wirken die Figuren allerdings eindimensional, die Guten sind gut und die Bösen böse.
"Das ist schon ein bisschen stereotyp gezeichnet. Ich denke, Whitman ging es da sicherlich zunächst erst mal darum, eine spannende Geschichte zu schreiben."
Was ihm auch gelingt, der Roman hat gegen Ende Züge eines Krimis. Der betrügerische Anwalt verlässt schließlich Hals über Kopf die Stadt. Jack und Martha heiraten und sie bekommt ihr Erbe – ein etwas abruptes Happy End.
"(…) mit einem Segen für meine Leute und jene, die meine Freunde geblieben sind, als ich sie am nötigsten brauchte; mit guter Laune aller Welt gegenüber, einem zufriedenen Herzen und Taschen, die nicht flattern vor Leichtigkeit – beendet Jack Engle hier den Bericht seines Lebens und seiner Abenteuer."
Natürlich verblüfft es, dass nach 125 Jahren ein zweiter Roman von Whitman auftaucht, mit Themen, die auch seine Lyrik prägen: Sozialkritik, Solidarität, nicht zu vergessen New York. Doch eine literarische "Sensation", wie ihn manche Feuilletons priesen, ist er nicht. "Jack Engle" ist ein gut lesbarer Unterhaltungsroman mit moralischem Mehrwert. Mehr sollte er wohl auch nicht sein. Große Literatur schrieb Whitman dagegen mit seinen Gedichten, den "Grasblättern" und ihrem Lob der Natur:
"Ich glaube, ein Grasblatt ist nicht geringer als das Tagwerk der Sterne, / (…) Und eine Maus ist Wunders genug, Sextillionen von Ungläubigen wankend zu machen."
Seine langen, ungereimten, frei rhythmisierten Verse prägten die moderne Lyrik. Neu und umstritten war auch, dass er unverstellt von sich selbst sprach, Körper und Sexualität feierte, und zwar von Mann und Frau.
"Ich feiere mich selbst und singe mich selbst, / Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen, / Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört genauso gut dir."
"Inhaltlich neu ist sicherlich auch, dass Whitman die Erscheinungen der Natur und der modernen Welt in einem Buch zusammenbringt. Das sind keine Gegensätze mehr, Natur und Urbanität, sondern für ihn sind das zwei Aspekte der sehr vielfältigen Welt, die er beschreibt."
"Der Donnerer von Manhattan"
Whitmans Modernität kam für viele zu früh. Die Kritiken der "Grasblätter" waren durchwachsen, das Buch verkaufte sich schlecht. 1861, der Autor war Anfang 30, begann ein Bürgerkrieg, der die USA spaltete. Die Südstaaten waren für die Sklaverei, die im Norden dagegen. Whitman verabscheute Sklaverei, sprach sich aber anfangs für den Krieg aus. Er meinte, dass der wie ein reinigendes Gewitter wirke und die Menschen danach zur Humanität fänden. Dazu wollte er mit Gedichten beitragen, in denen er Brüderlichkeit und die Einheit der USA feierte – er ging auch in Lazarette und half Verletzten. Als der Krieg 1865 endete, wurde die Sklaverei weitgehend abgeschafft, doch die schrecklichen Kriegsbilder prägten den Autor tief. Nun nannte er Politiker, die den Krieg vorangetrieben hatten,
"… Zuhälter, Mörder, Terroristen!"
Erst in seinen späten, von Krankheit überschatteten Jahren erhielt Whitman mehr Zuspruch für seine Lyrik. Kurz vor seinem Tod machte er sich an eine letzte Fassung der "Grasblätter" und stellte eine Werkausgabe zusammen, die auch Prosa und Essays enthält. Whitman starb am 26. März 1892, mit 72 Jahren. Bald wurde sein Werk in den ganzen USA bekannt und strahlte bis nach Europa aus. Thomas Mann nannte ihn den "Donnerer von Manhattan", Expressionisten übernahmen seine Form der Langverse. Kurz vor seinem Tod sagte Whitman über die "Grasblätter":
"Im Laufe der Zeit wird die Welt mit dem Buch anstellen, was ihr gefällt. Ich bin entschlossen, die Welt wissen zu lassen, was mir gefallen hat."
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Walt Whitman: "Leben und Abenteuer von Jack Engle".
Herausgegeben und aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Jürgen Brôcan.
Dtv, München.
224 S., 22 Euro
Herausgegeben und aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Jürgen Brôcan.
Dtv, München.
224 S., 22 Euro