Walter Boehlich war der Inbegriff eines unabhängigen, freischwebenden Privatgelehrten, und wenn man ihn in den letzten Jahren vor seinem Tod 2006 in der Öffentlichkeit sah, umwehte ihn bereits sein eigener Mythos. Berühmt wurde er als Cheflektor in den großen Jahren des Suhrkamp-Verlags von 1957 bis 1968 und als Hauptakteur des berühmten "Lektorenaufstands" bei Suhrkamp – danach war er einer der gefragtesten Kenner und Philologen, der es sich aussuchen konnte, wo und was er publizierte. Als Kritiker hatte er bereits in den frühen 50er-Jahren auf sich aufmerksam gemacht, und der Haltung, die er schon damals formulierte, blieb er zeit seines Lebens treu:
"Wir haben eben ein schlechtes Publikum und eine halb-idiotische Kritik, wenn Sie dieses starke Wort verzeihen, die in der Regel nur auf das reagiert, was bereits vorgekaut ist, sich aber scheut, noch Unbekanntes zu begreifen, weil es ihr dazu an Vorkenntnissen fehlt, die sie einmal nicht erwerben will."
Jeder Brief eine Vorlesung
Walter Boehlich wurde 1921 in Breslau geboren und galt in der Diktion der Nationalsozialisten als "Halbjude". Er überlebte die Nazizeit als illegaler Gasthörer an der Breslauer Universität. Der erste Brief, der in der großen Auswahlausgabe seiner Korrespondenz abgedruckt wird, hat etwas Symbolisches: Es ist ein Brief an seine Mutter, die ins Lager Theresienstadt deportiert worden war, aus dem Jahr 1944. Auf seine jüdische Herkunft hat Boehlich später allerdings kaum Bezug genommen. Ihn interessierte die Welt der Philologie, und von seiner späteren linken und gesellschaftskritischen Haltung ist in der frühen Zeit noch nichts zu spüren. Prägend wurden seine Jahre als Assistent des bedeutenden Romanisten Ernst Robert Curtius von 1947 bis 1951 in Bonn. Immer wieder zitiert er die Mahnung, die ihm Curtius mit auf den Weg gegeben hat: "Meiden Sie den Schein". In dieser Zeit wurde die Grundlage für Boehlichs stupende literarische Gelehrsamkeit gelegt. Manche wie nebenbei fallende Sätze in seinen Briefen ersetzen ganze Seminare:
"Im Französischen sind so viele verkürzende Stilformen möglich, die uns unmöglich sind. Löst man sie auf, sprengt man den Rhythmus der Fügungen und setzt an die Stelle eines auf Flaubert sich gründenden Stils ein Surrogat, dem gerade das nicht mehr anzusehen ist, was das Original liebenswürdig macht."
Zwist mit Siegfried Unseld
In Boehlichs Kritiken und Essays aus den fünfziger Jahren ist zu ahnen, was Peter Suhrkamp dazu bewog, ihn in seinen Verlag zu holen: Walter Boehlich war der ideale Lektor. Sein Anteil am steilen Aufstieg des Suhrkamp-Verlags im Laufe der sechziger Jahre ist nicht zu unterschätzen. Er schreibt anspielungsreiche, lustige Briefe an Uwe Johnson, solidarische an Wolfgang Koeppen, reizende und werbende an Ingeborg Bachmann, gibt für die Bibliothek Suhrkamp etliche internationale Entdeckungen heraus und übersetzt aus dem Französischen, Spanischen, Englischen oder Dänischen. Aber bald stellt sich heraus, dass es zwischen ihm und Siegfried Unseld, dem Nachfolger Peter Suhrkamps, persönlich nicht funktioniert. Schon am 14. April 1963 schüttet Boehlich in einem Brief an die Ilse Curtius, der Witwe seines Lehrers, sein Herz aus:
"Immer wenn ich denke, dass ich mich an Unseld gewöhnt habe und ihn ertragen kann, tut er etwas, woran ich merke, dass ich mich nie an ihn gewöhnen werde, ihn nie werde ertragen können. Man kann ihn nicht wirklich verändern. Es wäre auch leichter, wenn er aus bösem Willen täte, was unerträglich ist; aber er tut es aus Naivität, aus Dummheit, aus Ehrgeiz, aus Eitelkeit. Er hat zu viel Energie, und darum auch zu viel Machthunger, und schon lange will er nicht mehr nur den möglichst besten Verlag – auch wenn er nur klein wäre – haben, sondern den einflussreichsten. Ich fürchte, er schaut zu sehr darauf, in die Geschichte einzugehen, und deswegen tut er Dinge, die dem Verlage schaden müssen, weil er sich von ihnen erhofft, dass sie seinem persönlichen Ruhme nützen könnten."
Das Autodafé
Nach dem Lektorenaufstand 1968 wird Boehlich Mitbegründer des genossenschaftlichen "Verlags der Autoren" und Sprecher der umtriebigen Initiative der "Literaturproduzenten". Die Briefe von Walter Boehlich sind eine schier unerschöpfliche Quelle für die kulturellen Dispositionen der Bundesrepublik, und vor allem seine eigene Entwicklung ist ein spannendes Zeugnis dafür. Boehlich ist 1968 47 Jahre alt, also beileibe kein typischer 68er. Aber er erlebt im Laufe der sechziger Jahre eine Politisierung, die sich, wie bei den Jüngeren, am Umgang mit der Nazivergangenheit entzündet. Dass an den Universitäten zahllose Professoren bruchlos vom Nationalsozialismus in die Bundesrepublik hinübergeglitten sind, darunter wie Wilhelm Emrich oder Fritz Martini die angesehensten, empört Boehlich immer heftiger. An Herbert Marcuse schreibt er 1967:
"Kielmansegg ist keine Ausnahme. Von den Leuten seiner Generation, die auch in den letzten zwanzig Jahren das Entscheidende entschieden haben, gibts kaum einen, der nicht vergleichbaren Dreck am Stecken hätte."
Als Höhepunkt von Boehlichs radikaler Phase gilt sein "Autodafé", das als Faltblatt dem berühmten "Kursbuch" Nr. 15 beigelegt war und als Beleg für das Schlagwort vom "Tod der Literatur" gilt. Boehlich meinte in erster Linie das Ende der kapitalistischen Verwertungsprozesse der Literatur, allerdings trat für ihn die Belletristik tatsächlich vorübergehend in den Hintergrund. In späteren Jahren pflegte er sie, unter anderem als Übersetzer und Herausgeber einiger wunderschöner "Winterbücher" der Friedenauer Presse, dafür umso liebevoller. Diese Ausgabe der Briefe Walter Boehlichs ist äußerst verdienstvoll. Sie erschließt ein wichtiges Kapitel der bundesdeutschen Kulturgeschichte.
Walter Boehlich: "Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen. Briefe 1944 bis 2000"
herausgegeben von Christoph Kapp und Wolfgang Schopf
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main. 544 Seiten, 50 Euro.
herausgegeben von Christoph Kapp und Wolfgang Schopf
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main. 544 Seiten, 50 Euro.