Moderation: Zeitzeugen im Gespräch. Heute: Rainer Burchardt im Gespräch mit Walter Momper.
Moderation: "Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt", rief er den begeisterten Kundgebungsteilnehmern am Tag nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus zu. Tausende Menschen aus Ost und West lagen sich dabei überschwänglich in den Armen. Am Rednerpult stand der Mann mit dem roten Schal, Regierender Bürgermeister von Berlin, just zur Wendezeit in den Jahren 1989 bis 1991. Die Rede ist von Walter Momper, Jahrgang 1945, geboren im niedersächsischen Sulingen. Sein Abitur machte er in Bremen, sein Studium an den Universitäten in Münster, München, und an der FU schloss er 1969 in Berlin als Diplom-Politologe ab. In die SPD trat er 1967 ein, brachte es unter anderem zum Landesvorsitzenden in Berlin, war Mitglied im SPD-Bundesvorstand und löste 1989 als Spitzenkandidat seiner Partei Eberhard Diepgen, CDU, als regierender Bürgermeister von Westberlin ab. Allerdings konnte sich Diepgen schon Anfang 1991 nach einer deutlichen Wahlniederlage der SPD erneut als regierender Bürgermeister von Berlin durchsetzen. Walter Momper blieb Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und amtierte von 2001 bis 2011 als dessen Präsident. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Walter Momper: Es war eine voll-revolutionäre Situation. Die da oben wollten was und die da unten machten nicht mehr mit.
Erinnerungen an Zeiten des Kalten Krieges, Deutschlands Wiedervereinigung und Anmerkungen zur heutigen Lage.
Rainer Burchardt: Herr Momper, heute vor genau einer Woche ist Egon Bahr gestorben. Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen? Egon Bahr galt ja als der Architekt der Ostpolitik. Sie waren um den 9. November herum der Regierende hier in Berlin. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn so ein großer Mann der deutschen Politik stirbt?
Momper: Erst mal tritt einer von den Älteren ab. Man merkt, die Einschläge kommen näher. Und zweitens, er war ja wirklich der Architekt der neuen Ostpolitik, er hat das alles durchdacht, strategisch durchdacht, zusammen mit Willy Brandt dann umgesetzt, und ohne ihn wäre wahrscheinlich die Einheit so nicht oder gar nicht gekommen, das weiß man nicht, aber er ist schon einer derer, die an der Geschichte des letzten Jahrhunderts in Berlin und Deutschland richtig mitgemacht hat und das richtig durchdacht hat, und man sieht, das war erfolgreich.
Wir waren nah dran an den Veränderungen in Europa
Burchardt: Sie sind ja damals, wie es auch in Ihrer Vita steht, weltbekannt geworden, nicht nur Sie, sondern auch Ihr roter Schal als Markenzeichen. Sie haben damals an vorderster Front gestanden mit Willy Brandt, mit Helmut Kohl, auch mit Ihren damals auch Ostberliner Kollegen. Sind Sie eigentlich aus dieser historischen Bewusstwerdung, ist Ihnen damals schon klar geworden, was tatsächlich geschieht?
Momper: Nein. Ich glaube, wir waren damals schon ganz schön dran, was die Veränderungen in Europa anbelangt, dass das alles kommen würde, auch vom Februar 1990 an, dass die Wiedervereinigung kommen würde, dass die gar nicht mehr aufhaltbar war. Wir haben das schon analysiert, wir haben auch darüber gesprochen, dass es ein kollektives Sicherheitssystem für Europa geben müsse, das war uns schon sehr bewusst, die Veränderungen, die jetzt kommen würden. Wir hatten auch gehofft und gedacht, nun bricht der ewige Friede aus, weil der Ost-West-Konflikt ist weg, was soll denn dann noch kommen, und wir haben natürlich überhaupt nicht gesehen, dass Terrorismus, die Veränderungen in Arabien Herausforderungen sind, die Veränderungen im Nahen Osten insgesamt, die eine völlig neue Herausforderung machen, und in der sind wir jetzt ja mitten drin eigentlich, sowohl, was die Ukraine anbelangt, wo die Russen auch wieder ein bisschen Rollback versuchen, als auch was Arabien, die Flüchtlingsbewegung und all das anbelangt.
Burchardt: Wenn wir vielleicht noch bei diesem Jahr 1989, 90 bleiben - Sie werden zitiert mit einer geradezu visionären Aussage. Es heißt dort, Sie hätten gesagt: "Europa wird nicht mehr so sein wie es war".
Verhältnis zu Russland ist die zentrale Frage
Momper: Ja, das war auch unsere feste Überzeugung. Dass das sich trotzdem zuerst ja ganz schnell neu geordnet hat in Osteuropa - alle wollten EU-Mitglieder werden, alle wollten NATO-Mitglieder werden und das ja auch ohne wesentlichen Widerstand der Russen dann umgesetzt wurde -, das hat uns allerdings auch erstaunt, das haben wir auch nicht gedacht, dass das so schnell gehen würde. Nur, dass die Eruptionen, die dadurch hervorgerufen werden, das sieht man ja an der Ukraine, die Reaktion der Russen eben doch nicht so ist, dass sie das alles ganz toll finden, sondern ziemlich große Vorbehalte haben, das merken wir ja erst heute. Ich glaube, mit der Neuordnung Osteuropas sind wir noch nicht am Ende damit, und unser Verhältnis zu den Russen ist sicherlich eine zentrale Frage dabei, die man sorgfältig bedenken muss, ganz im Sinne von Egon Bahr, dass man wirklich jeden Gesprächskontakt, jeden Kanal nutzen muss und miteinander redet, besser als dass man aufeinander schießt oder sonst wie böse Dinge macht.
Burchardt: Wo Sie gerade das Stichwort Kanal bringen, es geht ja um Gesprächskanäle –Egon Bahr war ja sozusagen der Meister der Geheimdiplomatie, er selber war auch immer sehr stolz, auch in Zeiten der größten Krise, während des Kalten Krieges, Backchannels, also Rückkanäle zu haben nach Moskau, hatte da immer wieder Gesprächspartner und wusste deshalb auch, wie dort gedacht wurde. Fehlt das heute?
Momper: Ja, ich glaube das fehlt eindeutig. Das sagen auch die Freunde, die wir in Russland haben, die sagen ganz klar, früher hatte man ein paar auch, gerade bei der Sozialdemokratie, identifizierbare Personen, die für das Russland-Geschäft bereitstanden und die gibt es heute in der Form nicht mehr. Das sind nur noch ganz wenige – Erler beispielsweise – in der aktiven Politik, die über ein breites Sensorium auch für die Situation dort verfügen und das gut interpretieren können. Nein, das fehlt uns heute schon sehr.
SED war richtig unter Druck
Burchardt: Zwei Jahre vor der sogenannten Wende gab es das sogenannte Streitpapier zwischen SED und SPD, und das war ja riesig umstritten, ja nicht nur bei der Opposition oder bei der damaligen Regierung, sondern auch innerhalb der SPD selber. Welche Bedeutung hat das für Sie gehabt eigentlich damals? Sie waren ja auch gewissermaßen führender SPD-Politiker in der Zeit.
Momper: Ja, der Glaube daran, dass der Osten wandelbar war, den habe ich man auch nur sehr begrenzt gehabt, aber dass die andere Seite dieses Papier unterzeichnete und sich selbst damit ja die Diskussion ins Haus holte darüber, das haben wir erst auch nicht so gesehen, das ist nachher ganz deutlich geworden. Ich war damals auf einer Delegationsreise in der DDR und einer unserer Mitreisenden fragte danach und sagte, haben Sie denn auch schon das Papier diskutiert, und dann brach das aus dem Kultursekretär, von Leipzig war der, so richtig raus, der sagte, wissen Sie, man kann hier in keine Parteiveranstaltung mehr gehen und überall wedelt einer mit dem Papier und sagt, hier, was ist denn mit der Reformfähigkeit auf unserer Seite und so weiter. Also man sah daran, das hat schon innerhalb der SED richtig – und innerhalb der DDR natürlich auch –, richtig Druck aufgemacht. Es war eben die Handreichung dafür, dass Regime auch wandelbar sind, veränderbar sind, und das nichts so bleibt, wie es ist, was wir dann ja auch gesehen haben.
Burchardt: Es gibt eine etwas irritierende Information in Ihrer Vita, die besagt, dass Sie Ende Oktober 1989, also etwa zehn Tage vor dem Mauerfall, mit Günter Schabowski zusammengesessen hätten und dem damaligen Bürgermeister von Ostberlin und da schon Andeutungen erfahren hätten, dass demnächst die Grenze geöffnet würde. Das heißt also, Schabowskis sogenanntes, wie sagt man, sein "Versprechen" in Anführungsstrichen - also Verplappern - sei im Grunde genommen dann ja erledigt.
Ankündigung zur Reisefreiheit war nicht exakt
Momper: Ja, er hat genau das umgesetzt, was er uns zuvor angekündigt hatte, nur war die Ankündigung - relativ vage kann man nicht sagen, aber sie war nicht sehr exakt, dann passiert das und das, sondern er hat uns nur gesagt, wir werden Reisefreiheit geben und dazu muss das Pass- und Reisegesetz geändert werden, das hätten Sie noch nicht, aber das wollten sie machen. Dann haben wir mit ihnen darüber gesprochen, was bedeutet denn das für uns, wie viel Hunderttausend Menschen werden an dem ersten Tag, wo das möglich ist, zu uns nach Westberlin kommen - das war ja das, was uns interessierte.
Burchardt: Haben Sie ihn danach gefragt?
Momper: Ja, danach haben wir ihn gefragt, und wir hatten so eine Einschätzung, eine Million kann es sein, kann auch eine halbe Million sein, und er sagte, ach, machen Sie sich mal keine Sorgen darum, es haben nur zwei Millionen DDR-Bürger einen Pass, bis die ein Visum gestempelt haben und neue Pässe haben, das dauert, das können wir steuern. Dann habe ich ihm noch widersprochen und gesagt, Sie machen das doch schon, weil jetzt die Situation schon nicht mehr haltbar ist. Ja, ja, meinte er, das solle ich mal seine Sorge sein lassen, und dann habe ich gedacht, naja, gut, wenn du es so siehst, dann siehst du es eben so. Und wir selbst haben dann danach gesagt, naja, mit 500.000 Besuchern müssen wir rechnen - tatsächlich waren es ja nachher eine Million an einem Tag, in der kleinen Zwei-Millionen-Stadt Westberlin sah man das schon, wenn da eine Million Menschen zu Besuch sind - und haben alles Anrollen lassen, was zur Vorbereitung erforderlich war.
Burchardt: Sie haben auch eine Urlaubssperre erlassen.
Momper: Ja, das war ganz ungewöhnlich in Berlin, für die leitenden Beamten wurden Urlaubssperren erlassen.
Burchardt: Haben die nicht gefragt, was soll der Quatsch?
Neues Reisegesetz wurde sowieso erwartet
Momper: Ja, doch. Nein, das ist auch kein Geheimgespräch gewesen, das war ja richtig, wurde hinterher eine Pressekonferenz gemacht, da haben wir das auch gesagt, natürlich ein bisschen vager, wir haben gesagt, die werden die Reisemöglichkeiten liberalisieren, nur war das sowieso im Zuge der Zeit, weil die erwarteten sowieso von der Führung ein neues Reisegesetz. Und dann hat es ja auch eins gegeben, das gleich im Papierkorb der Volkskammer gelandet und dann noch ein zweites. Nein, wir haben klar gesagt, wir müssen mit einem erhöhten Reiseansturm rechnen, nur wir wussten nicht was und weiß ja auch nicht, wie er das dann realisiert, und dass er es dann so Eins-zu-eins realisiert hat, wie er sich das vorher vorgestellt hat, das haben wir auch nicht gedacht. Nur, dass dann der Sturm der Menschen darüber einfach wegging und die einfach gesagt haben, Schabowski hat gesagt, wir können reisen - die sind ja zur Grenze hingegangen, haben gesagt, hier, Schabowski hat gesagt, wir können alle raus. Dann haben die Grenzer gesagt, haben Sie einen Pass, haben Sie ein Visum, haben Sie nicht, geht nicht. So ist das ja gewesen. Die Leute haben einfach gesagt, der hat gesagt, wir können.
Burchardt: Nun war das ja keine Entwicklung von heute auf morgen, sondern die Leipziger Demos waren da, es ging im Grunde genommen ja schon durch die gesamte DDR so eine Bewegung, die schon was Revolutionäres an sich hatte. Haben Sie rückwirkend betrachtet, erstens, das Gespräch mit Schabowski zehn Tage vorher, als eine gezielte Information gewertet, nach dem Motto, bereitet euch mal auf was vor, damit wir nicht im Chaos landen, und, zweitens, damals war ja auch noch die sogenannte Pekinger Lösung von Egon Krenz im Gespräch, nämlich, dass man diesen Ansturm dann mit Waffen bekämpft.
Momper: Ja, weiß Gott, das war damals so, die haben ja auch bei einer Leipziger Montagsdemonstration im Oktober dann die Truppen alle zusammengezogen, aber die konnten einfach nicht mehr, weil die sind ihnen auch nicht mehr gefolgt, also nicht mal mehr die Truppen, ihre eigenen Truppen. Von daher lief das nicht mehr. Es war eine voll-revolutionäre Situation. Die da oben wollten was und die da unten machten nicht mehr mit und machten ihre eigenes Ding. Das kam natürlich in erster Linie, das war für uns auch immer der Maßstab, zu gucken, wie viele Menschen gehen zur Leipziger Montagsdemonstration hin, da hatte man ja eine Kette. Und als die dann Anfang Oktober bei 60.000 waren auf dem Ring, war klar, das kannst du nicht mehr mit den Mitteln der Polizei wieder niedermachen, wie die das ja vorhatten.
Burchardt: Hatten die es wirklich vor?
Die haben nicht mehr mitgemacht
Momper: Es war jedenfalls alle Voraussetzung dafür erfüllt. Und sie haben es ja auch versucht. Es hat ja eine Befehlsausgabe. In Leipzig-Markkleeberg waren die alle zusammengezogen, also Betriebskampfgruppen, die sind schon gar nicht mehr zum Dienst erschienen, dann die Volkspolizei, und als scharfe Munition ausgegeben wurde, hat die Volkspolizei geweigert, sich die überhaupt noch anzunehmen, hat gesagt, das machen wir nicht, wir schießen nicht auf die eigenen Leute, und dann hat die NVA zwar die Munition noch genommen, aber hat auch gesagt, wir schießen nicht auf die eigenen Leute. Also von daher, ob das überhaupt befehlsmäßig noch versucht worden ist, weiß ich natürlich nicht, aber es waren alle Voraussetzungen dafür da. Letzten Endes – es gibt einen schönen Stasi-Bericht über diese Situation dort –, letzten Endes ist es dann daran gescheitert, dass die nicht mehr mitgemacht haben, was ja auch irgendwie ein versöhnliches Element ist, wenn ausgerechnet gerade die Sicherheitstruppen sagen, sie machen da nicht mehr mit. Man sieht, die lebten schon in der Lage und wussten, was los war. So war die Situation in der DDR viel dramatischer geworden, also man musste sich schon fragen, für wen spricht denn Schabowski eigentlich noch, aber gut, sie waren die Inhaber der Gewalt und von daher war das alles schon sehr ernst zu nehmen. Aber es war völlig klar, dass in der DDR alles drunter und drüber ging. Für mich war so - wenn bei den bewaffneten Kräften, wenn die einen Soldatenausschuss gewählt hatten, der irgendwelche Forderungen übergab, dann wusstest du, da hatten schon die Offiziere nicht mehr das Sagen, sondern andere Leute.
Burchardt: War Ihnen das damals auch so klar bewusst?
Momper: Das haben wir jeden Tag analysiert. Ich weiß noch, das erste Beispiel war nach der Schöneberger-Rathaus-Kundgebung, kam ein - also am 10. November -, kam ein völlig betrunkener Soldat zu mir, also einer in Zivil natürlich, aber er stellte sich vor, er sei NVA-Soldat, zeigte mir dann auch seinen Soldatenausweis da vor und sagte, das sei doch nur alles wunderschön und nun könnte man hier kommen und so was alles. Da haben wir gesagt, Mensch, wenn das so weit geht, dass einen die bewaffneten Kräfte hindern, dann hast du die nicht mehr, das geht nicht mehr. Von den Russen wussten wir auch, dass die nicht intervenieren wollten. Was sollten sie auch - sollten sie die DDR noch mal besetzen, das war ja sinnlos. Also die hätten nur noch ein Kuba am Hals gehabt, was sie hätten ernähren müssen. Nein, ich glaube, das war ziemlich klar und auch, dass diese revolutionäre Situation da war. Ich habe mir machen lassen damals, die Tagesfluchtzahlen von 1961 vor dem Mauerbau - das ist ja so, das sind jeden Tag so Zwei-, Dreitausend, die aus der DDR nach Westberlin kamen, und dann steigt es auf einmal auf 10.000, 11.000, 14.000 an, an den Tagen unmittelbar vor dem 13. August. Dann habe ich mir die derzeitigen Zahlen geben lassen - das waren auch so Zwei-, Dreitausend über Ungarn und über Prag, die vor allen Dingen nach Berlin natürlich kamen - und habe gedacht, so ein Schiebedings machst du davon, und wenn die Zahlen steigen, dann platzt irgendwann der Kessel. Aber dazu ist es dann überhaupt nicht mehr gekommen. Es waren Zwei-, Dreitausend auch vor dem 9. November und am 9. November.
Momper: Wir Berliner waren natürlich für die Einheit, aber andere konnten sich das nicht vorstellen. Die Jüngeren waren es, die sich ein wiedervereinigtes Deutschland, einiges Deutschland gar nicht vorstellen konnten.
SPD-interne Verwerfungen zur Einheitsfrage, das Zerwürfnis Brandt-Lafontaine sowie Fehler bei der Wiedervereinigung.
Burchardt: Haben Sie denn damals - wenn wir jetzt über den 10. November 89 sprechen und diese Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus oder im Schöneberger Rathaus, die Freiheitsglocke, die dann auch erklang, das Deutschlandlied, all dieses - haben Sie eigentlich damals gedacht, wie schnell es dann zum Prozess der Wiedervereinigung kommen könnte?
Momper: Nein, das habe ich auch nicht gedacht. Ich dachte, es würde viel länger dauern. Das dachten ja im Übrigen fast alle. Also wenn Sie mal viel später die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten de Maizière durchlesen, dann ist das ja ein Programm, was für drei, vier Jahre gemacht worden ist. Nein, das hat keiner abgesehen. Ich glaube Helmut Kohl war mir da zugegebenerweise voraus, der hat das vor Weihnachten auf der Kundgebung in Dresden bemerkt, wo die alle mit den Plakaten kamen, kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr. Da war das offenkundig, und ich habe es dann am 2. – das ist nachweisbar –, am 2. Februar 1990 gesagt auf dem Bezirksparteitag der Ostberliner SPD, und die fielen ja fast alle vom Stuhl, als auf einmal ich sagte, Leute, wenn die in der DDR die Einheit wollen, wir haben nix dagegen, wir machen sie dann und dann aber so schnell wie möglich, damit die Schiebergeschäfte aufhören, denn das lief ja damals gigantisch um, dass die kofferweise Ostgeld zum Bahnhof Zoo brachten und umtauschten in Westgeld und so was alles.
Burchardt: Willy Brandt, damals SPD-Vorsitzender, hat ja im Grunde genommen mit seiner Vision damals, die sicherlich auch im Rückblick auf das, was er gemeinsam mit Egon Bahr auf den Weg gebracht hatte, ähnlich wie Helmut Kohl argumentiert, und ist damals im SPD-Vorstand ja gegen die Wand gelaufen. Ist darauf auch, nach Ihrer Meinung, zurückzuführen dieses desaströse Ergebnis der SPD bei der Volkskammerwahl im März?
Alles Linke war diskreditiert in der DDR
Momper: Ja, ich glaube, das hat viele, viele Ursachen, vor allen Dingen, wie eben alles Linke in der DDR diskreditiert war und von daher auch eine irgendwie noch linke Partei wie die SPD dann letzten Endes nicht gewählt wurde. Es kam hinzu, dass Helmut Kohl in seiner ganzen Statur den kleinen de Maizière in den Arm nahm und sozusagen deutlich machte, Leute, ruhig, wir schaffen das schon alles, wir schaffen die blühenden Landschaften. Ich glaube, dass das das Entscheidende war, aber natürlich war die Lage innerhalb der SPD nicht sehr goldig, und Jochen Vogel hatte schon alles Mögliche zu tun, die Truppe beisammenzuhalten, wobei Willy, soweit ich das erinnere, eigentlich im Parteivorstand, naja, eine Hälfte für sich, eine Hälfte gegen sich hatte. Also wir Berliner waren natürlich für die Einheit, weil es ging auch gar nicht anders, also man hätte ja in der Berliner Situation … wer da etwas anderes sagen wollte, dem hätte man gesagt, guck dir die Realität an einer geteilten Stadt, das ist eine Katastrophe, aber andere konnten sich das nicht vorstellen. Ich glaube, es waren vor allen Dingen die Jüngeren – ich habe viele Freunde im Ruhrgebiet beispielsweise, sozialdemokratische Abgeordnete, die waren alle sehr dafür, die stiegen da voll ein –, aber die Jüngeren waren es, die sich ein wiedervereinigtes Deutschland, einiges Deutschland gar nicht vorstellen konnten.
Burchardt: Es gab damals ja eine Konfrontation zwischen Willy Brand und Oskar Lafontaine, die wahrscheinlich historisch gesehen ausschlaggebend war.
Lafontaine war gegen das Tempo der Wiedervereinigung
Momper: Klar, das hat den ganzen Wahlkampf gebremst. Es kam hinzu, dass Oskar Lafontaine als jemand galt, der eigentlich gegen die Wiedervereinigung war, was er so gesehen gar nicht war.
Burchardt: Vielleicht gegen das Tempo.
Momper: Gegen das Tempo, und er hatte natürlich im Handbuch der Volkswirtschaft gelesen, wenn du ein Währungsgebiet hast, was ganz schlecht entwickelt ist und eins, was gut entwickelt ist, dann lass es lieber zwei sein und entwickele die langsam aneinander an, aber wir konnten, wir wollten keine Grenzen mehr haben, schon gar nicht innerdeutsche und schon gar nicht Zollgrenzen und schon gar nicht Grenzen, wo jeder nur danach trachtete, die irgendwie zu überwinden und Schmuggel zu betreiben. Von daher war das nicht realistisch. Nachher hatte er das verstanden, aber da war es dann zu spät.
Burchardt: Wir kommen nachher noch mal auf den Euro zu sprechen, an den denkt man natürlich sofort bei diesem Zitat aus dem Lehrbuch. War es dann ein Fehler, die Deutsche Mark so schnell einzuführen, was ja heute nachträglich betrachtet von vielen so argumentiert wird? Auch Leute, die dann letztendlich gegen den Euro geklagt haben, sagen ja, wir haben ja schon am Beispiel der übereilten Einführung der D-Mark, dann die Eins-zu-eins-Parität, da haben wir ja schon grundlegende Fehler gemacht.
Kohl hat wirklich keinen vorher gefragt, was auch geschickt war
Momper: Ja, ich glaube, die Fehler, die gemacht worden sind, die sind der Situation und der politischen Lage geschuldet. Man musste einfach den ehemaligen DDR-Bürgern etwas anbieten und sie wollten … Die hatten natürlich ganz große Hast und wollten ganz schnell das haben, wollten auch die Herrschaft der D-Mark und damit sozusagen die Gleichberechtigung mit den westdeutschen Brüdern und Schwestern, relativ schnell haben. Sie wollten natürlich in erster Linie Abwesenheit von SED, von Staatssicherheit haben, aber diese ökonomischen Fragen, die spielten schon eine große Rolle, und sie fanden ja auch darin ihren Ausdruck, dass eben doch viele nach Westdeutschland gingen. Und dann begann die ganze Abwickelei in der DDR, die Schließung der völlig unrentablen Betriebe, die vielleicht auch hätte langsamer gemacht werden müssen, aber dann hätte es wieder mehr Geld gekostet und, und, und. Ich glaube auch nicht, dass Helmut Kohl - also wenn ich das im Nachhinein, danach haben wir natürlich immer geguckt -, gießt der Öl ins Feuer oder beruhigt er die Wogen, und man muss ja sagen, er hat kein Öl ins Feuer gegossen, also nicht auf der berühmten Kundgebung in Dresden, kurz vor Weihnachten 1989, sondern das ganz moderat, das hat er auch später geschildert, das eine seiner schwierigsten Reden gewesen, war es sicherlich auch, da das Gleichgewicht zu wahren und die Leute trotzdem bei der Stange zu halten, und darum ging es halt.
Burchardt: Der Zehn-Punkte-Plan von Helmut Kohl war ja im Grunde genommen das, was Willy Brandt vorher schon mal formuliert hat und sicherlich erfolgreich durchgeführt.
Momper: Ja. Der Zehn-Punkte-Plan, der wird ja heute sozusagen zum Fahrplan zur Deutschen Einheit hin hochstilisiert, das ist natürlich völliger Quatsch. Der ist eine ganz, ganz vorsichtige Analyse der Situation und der Handlungsoptionen, und es war an einer Stelle von konföderativen Elementen überhaupt nur die Rede. Also der hat mehr gewirkt als Botschaft nach Osten, wir wollen euch, er hat gewirkt gegenüber den Alliierten, gegenüber den Westalliierten vor allen Dingen, Leute, wir machen unser Ding auch ohne euch, wenn ihr nicht wollt, und wir machen es überhaupt in diesen sensiblen Fragen ohne euch, denn er hat ja wirklich keinen vorher gefragt, und was eben auch geschickt war, schon allein, weil damit Botschaften ausgesandt wurden.
Burchardt: Es gibt ja nicht wenige Menschen, die auch heute, nachträglich betrachtet, mehr als 25 Jahre danach sagen, diese Anschlusspolitik, die von einem doch sehr besitzergreifenden Westen betrieben worden ist, sei im Grunde genommen unanständig gewesen. Sehen Sie das auch so?
Größter Fehler war die Eigentumsregelung
Momper: Naja, es sind natürlich … Ja, aber man konnte das von der politischen Ebene her auch schwerer steuern. Ich meine, den größten Fehler, den ich da gesehen habe, ist damals die Eigentumsregelung gewesen, die dann ja auch eben die Folgen für die Besitzergreifungsritter aus dem Westen gewesen ist.
Burchardt: Sie meinen die Rolle der Treuhand.
Momper: Weniger die Rolle der Treuhand als mehr das Gesetz, wonach Realrestitutionen vor finanzieller Restitution gilt. Nicht nur, dass damit lange Zeit Investitionen nicht möglich waren, sondern das war auch hoch kompliziert, und vor allen Dingen, die Westdeutschen nahmen als Botschaft wahr, wir kriegen unsere alten Sachen alle wieder zurück, und die Ostdeutschen, wir werden von allem enteignet. Ich glaube eigentlich, die Kernfrage ist die, Helmut Kohl hätte nicht sagen dürfen oder so tun dürfen als könne er das Ganze aus der Portokasse finanzieren, sondern wenn man sieht, den Ost-West-Transfer, der ja unvergleichlich viel höher ist als die eine Milliarde D-Mark, von denen Lafontaine damals sprach…
Burchardt: Das waren 80 dann am Schluss. Im Grunde immer noch.
Momper: Genau, es waren 80 Milliarden nachher. Da hätte man von vornherein, hätte Kohl sagen müssen, Leute, im Westen, für euch ist eine unvergleichliche Anstrengung in finanzieller Hinsicht, wir müssen das ausbügeln, was da nicht gemacht worden ist in den Nachkriegsjahren, was dem Land entzogen worden ist, und denen im Osten hätte er sagen müssen - was sie ja sowieso mussten -, ihr müsst in eine völlig neue Gesellschaftsordnung eintauchen und alles neu lernen, was Ökonomie, tägliches Leben, öffentliches Leben und dergleichen anbelangt. Diese außerordentliche Anstrengung, die es ja wirklich für das Land auch war, die hätte er mehr kennzeichnen müssen, die hätte er mehr deutlich machen müssen.
Momper: Mit einigen anderen zusammen haben wir uns entschieden, in die SPD einzutreten. Wir wollten den Marsch durch die Institutionen machen, das war uns auch bewusst.
Die Kriegsangst der 60er-Jahre, SPD-Eintritt und regierender Bürgermeister von Berlin.
Burchardt: Herr Momper, mit Verlaub, Sie sind eigentlich Wessi, sind Jahrgang 45, in Westdeutschland haben Sie Ihre Kindheit zumindest verbracht, sind dann aber, wie auch zu lesen ist, ein Kreuzberger aus Überzeugung geworden, also Berliner, und zum Schluss dann eben auch diese Traumposition des regierenden Bürgermeisters, aber das war ja sicherlich auch für Sie schon eine tolle Zeit.
Momper: Ja!
Burchardt: Aber ich würde ganz gerne mal auf die 60er zurückkommen. Nehmen wir mal als Beispiel, angesprochen, der Mauerbau, da waren Sie 16, die Kuba-Krise: Es war ja im Grunde genommen ein Jahrhundert - zumindest die zweite Hälfte nach dem Zweiten Weltkrieg - von Spannungen überlagert. Wie haben Sie das als Kind erlebt und wie haben das auch Ihre Eltern erlebt?
Momper: Naja, als Kind war immer die Kriegsangst groß. Ich weiß noch, ich habe als Kind aus dem Koreakrieg Wochenschauen gesehen und meine Mutter hat eigentlich immer gesagt, bloß, dass das nicht wiederkommt, das war so furchtbar. Das wollten sie nicht wieder.
Burchardt: Da stand immer der Russe vor der Tür.
Momper: Es stand immer der Russe vor der Tür, ja. Mehr oder minder, das spürte man in Deutschland eben … Klar, da stand er ja unmittelbar vor der Tür, merkte man in Deutschland am ehesten. Und 61 mit dem Mauerbau, ich habe den nicht für möglich gehalten. Ich weiß noch genau die Situation: Meine Eltern, die waren nach Dänemark in den Urlaub gefahren, ich war mit meiner Großmutter alleine zu Hause, und dann hörte ich das, das alles kann gar nicht sein, weil ja vorher war meine Mutter mit mir zusammen in Berlin für einen Tag gewesen, und ich habe gesagt, das geht nicht, das können die gar nicht. Und sie haben gezeigt, es ging doch, und wie. Das war schon eine furchtbare Situation, aber dann stabilisierte sich das Ganze auch wieder. Dann blieb mein Wunsch, ich wollte immer nach Berlin zum Studium, das war schon klar, schon alleine wegen der Uni, aber auch wegen der politischen Situation der Stadt, eben so an Ost-West, und damals war ja die Grenze noch offen, die wurde dann relativ schnell zugemacht. Aber wir hatten auch noch viele, als Studenten, gute Beziehungen zu den evangelischen Studierenden der Theologie im Ostteil der Stadt, das war schon sehr schön und sehr interessant und sehr angenehm.
Beim ersten Sit-in an der FU dabei
Burchardt: Haben Sie Kennedy 63 erlebt hier in Berlin?
Momper: Nein, da war ich noch nicht … Ich bin 65 nach Berlin gekommen.
Burchardt: Das heißt aber, Sie sind dann am Anfang der Studentenunruhen schon in Berlin gewesen.
Momper: Ja.
Burchardt: Und wie haben Sie diese Zeit als Student dann … Haben Sie dort voll mitgemacht, haben Sie Rudi Dutschke kennengelernt?
Momper: Ja, ziemlich voll mitgemacht. Ich war bei dem ersten großen Sit-in in der Freien Universität mit dabei, da weiß ich noch, wie Rektor Lieber auf den Treppenstufen stand und uns beschwor, doch hier wegzugehen und aufzustehen und rauszugehen, haben das auch nicht gemacht, aber man war im tiefen Zweifel. Dann die Vietnam-Demonstration, aber als ich sich das dann … Erstens, habe ich 69 Examen gemacht, bin einer der wenigen, die damals - heute ist das ja auch wieder anders - mit Schlips und Kragen noch zum Examen gegangen ist …
Burchardt: Braver Student.
Momper: Ja, braver Student. Naja, mit einigen anderen zusammen haben wir uns entschieden, in die SPD einzutreten. Wir wollten den Marsch durch die Institutionen machen, das war uns auch bewusst.
Burchardt: Aber dafür stand doch nicht die SPD.
Momper: Doch, damals absolut!
Burchardt: Also waren Sie im SDS?
"Ich bin gleich in die SPD eingetreten"
Momper: Nein, ich bin gleich in die SPD eingetreten in Kreuzberg im Wohngebiet, und das stand schon … Ich meine, die Ansatzpunkte, die man überhaupt hatte für einen reformistischen Studenten, der nun nicht daran glaubte, die bürgerliche Ordnung sozusagen umkippen zu können wie andere das geglaubt haben, für den war die SPD schon das gegebene Mittel.
Burchardt: Was hatte das mit Willy Brandt zu tun?
Momper: Eine Menge. Ich meine, der hat uns … Klar, haben den verehrt, hochverehrt, er war uns Vorbild, und vor allen Dingen natürlich, dass er an die Immigration gegangen ist.
Burchardt: Als Sie nach Berlin gingen, war die Große Koalition ein Jahr später eingerichtet mit dem Kanzler Kiesinger und mit dem Außenminister Willy Brandt. Hat Sie das nicht irritiert?
Momper: Ja, ziemlich hat uns das irritiert, aber auf der anderen Seite sah man, nur so würde es weitergehen. Es ist ja etwas anderes, wenn du als aufsteigender Teil in eine Koalition gehst oder als absteigender, da muss man immer aufpassen.
Burchardt: Haben Sie damals so auch schon gedacht?
Momper: Ja, so auch schon. Das ist ja auch die Hauptbegründung für die Große Koalition damals gewesen.
Burchardt: Als Willy Brandt dann zurücktreten musste, um es mal so zu sagen – ob er es wirklich musste, ist ja bis heute sehr umstritten –, wir kommen noch mal auf Egon Bahr zurück, hätte er ja gesagt, als Herbert Wehner dann mit einem Rosenstrauß kam und sagte, wie sehr er ihn geliebt habe oder liebe, sei ihm vor Wut die Tränen gekommen über diese, wie er es formulierte, Heuchelei. Haben Sie das damals auch so empfunden?
Verzweiflung über den Rücktritt Brandts
Momper: Wir haben das gesehen im Fernsehen und ich dachte immer, es sei Verzweiflung darüber gewesen, dass Willy zurücktrat. War es sicherlich auch …
Burchardt: Das war ja auch die offizielle Version, die damals kursierte.
Momper: Ja. Wenn er hinterher gesagt hat, es sei vor Wut über die Heuchelei vom Wehner gewesen, der ja mit dem Rosenstrauß auch einmal dann auf den Tisch geklopft hat und so was - es kann sein, ja. Naja, natürlich. Ich meine, heute im Nachhinein, wenn man manches klarer, was damals … Also die Streitigkeiten innerhalb der Troika - Wehner, Brandt, Schmidt -, die haben wir ja nicht gesehen, das habe ich damals nicht so erkannt. Ich habe gerade vor Kurzem das Buch von Hoffmann, von dem Bonner "Zeit"-Korrespondenten, gelesen, wo das ja alles noch mal schön aufgedröselt wird und sehr sensibel auch angesehen wird. Nein, das haben wir damals nicht so gesehen, sondern es war generell eine Verzweiflung darüber, und auch die Diskussion, musste er denn wegen dieser Geschichten zurücktreten.
Burchardt: Wann eigentlich, Herr Momper, haben Sie beschlossen, Regierender Bürgermeister von Westberlin, damals Westberlin, zu werden - später ja ganz Berlin? Gibt es da ein Datum für Sie, was in Erinnerung ist?
Momper: Kein bestimmtes. Ich weiß nur, mit einem Freund bin ich mal spazieren gegangen und der sagte mir - wir sprachen über die Spitzenkandidaten der SPD, was wir denn an Personal da hätten -, und da sagte er, na, das wirst du doch, das ist doch völlig klar!
Burchardt: Wie kam der drauf?
Momper: Ja, eben, frage ich mich … Und dann habe ich gesagt, ja, meinst du. Ja, sagt er, guck doch die anderen an. Sicherlich, ich hatte ja natürlich auch eine optimale Stellung als Partei- und Landesvorsitzender damals und habe den Laden auch zusammengehalten - im Nachhinein muss man das ja noch mal sagen -, das war ja auch nicht so einfach. In Berlin schon gar nicht.
Burchardt: Wie sagt man, Intrigen zum Ortstarif.
Momper: Ja, Intrigen zum Ortstarif am Telefon! Das war nicht so einfach, und das habe ich, glaube ich, auch ganz gut gemacht, und dann haben die gesagt, ja, jetzt sollst du das machen. Wobei einige - das ist ja immer so -, also in der Wahlnacht dachten die, ich verliere, und saßen schon zusammen, um jemand anderes auszusuchen.
Burchardt: Damals war Eberhard Diepgen der Regierende, der CDU.
Die SPD wollte die Einheit, die Grünen nicht
Momper: Eberhard Diepgen war der regierende Bürgermeister, ja. Und dann kam es eben doch anders. Wir wurden rot-grüne Regierung, das war ja auch ganz schön.
Burchardt: Aber mit der Alternativen Liste hatten Sie nicht nur Ihre Freude.
Momper: Nein, überhaupt nicht, kann man sagen! Wir hatten schon Freude und manches lief ja auch wunderbar, auch nachher nach dem 9. November, als dann Austausch zwischen den Verwaltungen … Erst waren die dann später zusammengelegt worden - das war schon ganz schön, das hat auch Spaß gemacht, und das überdeckte natürlich das Dunkle, was gerade die Streitpunkte am Ende der Koalition waren.
Burchardt: Woran hat es gelegen, dass die AL dann ausgetreten ist aus der Koalition?
Momper: Nicht wegen der Räumung der Mainzer Straße, das haben die genauso gewusst. Das ist ja im Senat besprochen worden. Ich war da aber gar nicht bei, weil ich in Moskau war. Nicht deshalb, sondern weil sie dachten, wenn wir aus der Regierung rausgehen mit einem guten Argument dagegen, dann ist das optimal, das hat der damalige Parteivorsitzende Ströbele aus Bonn so angeordnet. Tatsächlich sind sie dann ja halbiert worden zu meiner nicht geringen Schadenfreude, aber die Berliner wollten auch gar nicht. Die Senatoren sagten, wieso denn, es gibt doch so eine gute Zusammenarbeit. Aber der Punkt, um den es natürlich letzten Endes auch ging, der die Leute verrückt machte, war, dass die Koalition in der Frage der Einheit nicht zusammen war. Die SPD wollte das, war richtig auf dem Trip, die Grünen wollten es aber nicht.
Burchardt: Es steht auch ein bisschen im Widerspruch zu dem, was man damals als Berline Euphorie im Zusammenhang mit der Einheit empfunden hatte. Die gesamtdeutschen Wahlen waren dann ja auch und führten zum 3. Oktober und führten dann eben zur Einheit. Das war eigentlich nicht nachvollziehbar oder haben Sie heute irgendwelche rationalen Gründe?
Momper: Man muss es mal aus der Sicht der Bürger, die wählen sollen, sehen. Es war eben nun doch die Mainzer Straße, die Räumung derselben. Da waren böse Bilder, brennende Straßen und Barrikaden in der Zeitung und die haben natürlich uns nicht genutzt. Ich weiß, viele Leute haben gezögert bis zuletzt und dann wollten sie aber doch natürlich große Koalition haben, das war eigentlich die weitverbreitete Haltung. Die Grünen auf gar keinen Fall wieder, das war auch klar, die sind dann ja, wie gesagt, auch halbiert worden, aber große Koalition war das Gegebene. Du weißt, es passiert nix Böses, da ist die SPD gegen, und sonst geht alles langsam voran. Und so ist es dann ja auch gelaufen.
Momper: Unser Hauptproblem wird eher sein, einen Weg zu finden, bei aller Grundsatztreue zu den Amerikanern, gleichwohl mit Russland eine zukunftsorientierte Politik zu machen.
Krisen, Kriege und Konflikte – Einschätzungen zur unruhigen Welt des 21. Jahrhunderts.
Burchardt: Herr Momper, im letzten Teil unseres Gesprächs sollten wir ein bisschen in die Aktualität gehen. Ich vermute mal, obwohl Sie jetzt in der Wirtschaft tätig sind, dass Sie sicherlich sehr lebendig auch teilhaben an dem, was weltpolitisch geschieht. Frank-Walter Steinmeier hat kürzlich gesagt, die Welt sei aus den Fugen geraten. Sie sind krisenerprobt, wenn auch vor Ort in einem europäischen Bereich, aber wenn man mal nur die Stichworte nimmt, ISIS, dann die Stichworte Flüchtlingsthema, gerade auch für Deutschland – wie sehen Sie die Lage im Augenblick? Ist da noch was in den Griff zu bekommen oder muss man sagen - die Ukraine, die hatten Sie vorhin ja auch schon angesprochen, gehört auch dazu -, man hat das Gefühl, dass im Moment eine weltpolitische Lage da ist, die nicht mehr kontrollierbar ist.
Momper: Ja, in gewisser Weise, die arabische Welt ist im Umsturz begriffen und das geht leider nicht in die richtige Richtung, sondern wie man an Libyen, an der ISIS, an Syrien auch sieht, in die völlig falsche Richtung. Ich glaube, um das erste abzumachen, unser Verhältnis zu den Russen, da müssen wir sehen, dass wir jeden Gesprächskontakt wahren, dass man miteinander redet, dass man versucht, die kleinen Möglichkeiten, die man hat, auszuloten unterhalb sozusagen der großen Ebene der offiziellen Politik. Das zweite ist Arabien und da ist natürlich so gut wie alles in Unruhe. Man sieht, die meisten Staaten, denen geht es schlecht, sie haben entweder die ISIS im Lande oder kommen nicht richtig voran, und der Bürgerkrieg in Syrien ist das stärkste Fanal davon. Ägypten ist auch nicht so stabil wie man immer meint und wie man immer sieht, und Tunesien leider auch nicht, wie wir vor Kurzem gesehen haben. Aber ich denke, man muss versuchen, eine stabilisierende Politik in die Richtung zu machen. Erdogan ist natürlich falsch, die Kurden in dieser Situation zu bomben ist absurd, beschafft ihm nur innenpolitisch vielleicht ein bisschen Luft da, aber ich weiß es auch nicht. Ich glaube, dass es kein Rezept gibt, um die arabische Welt zu befriedigen, weil die nationalen Grenzen - das sehen wir ja - sind nicht viel wert, sie sind auch teilweise ahistorisch gezogen worden. Also von daher gibt es keine Befriedung. Und wenn man Libyen sich anguckt mit den einzelnen Stämmen, die da das Sagen haben - du kannst nicht sagen, der eine ist jetzt der Oberstamm und der andere nicht, sondern es geht chaotisch weiter, die werden letzten Endes die Machtverhältnisse unter sich auskämpfen müssen und es geht nicht anders.
Flüchtlinge sollten schnell integriert werden
Burchardt: Thema Flüchtlinge?
Momper: Flüchtlinge, glaube ich, ist ein ganz großes Problem, was jetzt und für einige Zeit uns erhalten bleiben wird. Wenn man sieht, wie viele Menschen im Grunde aus Syrien - bleiben wir nur mal bei dem Beispiel Syrien - weg sind, in umliegenden Ländern, welche Lasten die damit zu tragen haben, dann glaube ich, dann muss wirklich Hilfsprogramme für diese Länder, für den Libanon, für Jordanien, kommen. Man wird auch längerfristig machen müssen, die Leute dort anzusiedeln, damit sie nicht alle hierher kommen. Und wir selbst: Das wird wohl bei den Flüchtlingszahlen bis auf Weiteres bleiben, ich sehe da überhaupt gar keinen Grund, warum die zurückgehen sollten. Ich glaube, es ist auch kein Schaden. Ich glaube, dass diese Menschen, vor allen Dingen die aus Syrien, bei uns bleiben werden, weil was sollen sie in ihrem zerstörten Land, in dem sie sowieso nur Unterdrückung und so was erlebt haben. Die werden hier bleiben, die werden sich sehr schnell integrieren, die werden schnell Deutsch lernen. Das ist ein anderer Schlag als die übrigen Araber oder ein Teil der übrigen Araber, und bei zurückgehender Gesamtbevölkerung können wir die auch gut gebrauchen - man muss es einfach mal so sagen -, man muss sie nur schnell integrieren und nicht ewig lange in Lagern da hocken lassen.
Burchardt: Eine europäische Krise ist Griechenland beziehungsweise die Frage, wie löst man dieses Problem Euro. Ist der Euro noch nachhaltig tragbar?
Momper: Ich glaube schon. Ich glaube, dass der Euro auch gerade in den Jahren, seitdem es ihn gibt, international eine solche Bank geworden ist, eine Reservewährung ja wirklich, dass sie gut bleiben wird, ganz bedeutend im Grunde auch für die Weltwirtschaft ist. Ich denke, dass wir trotz aller Probleme das Problem Griechenland in den Griff bekommen. Ich weiß ja nicht, ob es noch ein viertes und ein fünftes Hilfsprogramm gibt, wird es womöglich auch geben, aber ich glaube auch, dass die Griechen langsam auf dem richtigen Trip sind, auch im Inland. Man sieht das eben an dem Syriza-Vorsitzenden auch - der Tsipras macht heute eine Politik, da hätte er vor drei Monaten noch vor ausgespuckt oder sowas ähnliches.
Burchardt: Er hat ja auch Probleme damit. Zum Schluss vielleicht noch ein Thema, was gerade auch für Berliner interessant sein wird, nämlich Amerika. Rolle der USA im Augenblick, Stichwort Rosinenbomber, deutsche Wiedervereinigung, Zwei-plus-Vier-Gespräche - man verdankt den Amerikanern ja eine ganze Menge im positiven Sinne. Aber es gibt nicht wenige, auch Historiker, die heute sagen, das, was wir im Nahen Osten jetzt erleben, hat Amerika losgetreten, insbesondere durch die Interventionspolitik eines George W. Bush. Sehen Sie das auch so in der Interpretation oder gibt es andere Gründe?
Momper: Mit George W. Bush, das galt natürlich noch solange es nur um den Irak ging, da haben die das sicherlich losgetreten, nur man kann ja auch nicht furchtbare Regime überall belassen und sagen, wir gucken uns das nicht an oder betrachten das nicht näher. In Libyen waren ja alle für die Intervention, ohne an die Folgen zu denken. Die haben eine Schuld, die Amerikaner, aber es ist nicht die Hauptschuld. Ich glaube auch nicht, dass es Einfluss auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen hat, ich glaube schon, die deutsch-amerikanische Beziehung muss man nah haben. Was uns ja eher belastet, sind diese Geschichten, wo sie überall hingehört und zugehört haben, was sie auch aus der Zeitung hätten erfahren können.
Ausspähen, das geht nicht
Burchardt: NSA.
Momper: NSA. Und, gut, da muss man halt drüber wegkommen, man muss das klar sagen, was man davon hält und auch den Amerikanern klar sagen, was infrage kommt, was nicht infrage kommt, etwa wenn man die langen Ausspählisten überlegt, die es da gegeben hat und wohl immer noch gibt, das geht nicht. Aber ich glaube unser Hauptproblem wird eher sein, einen Weg zu finden, bei aller Grundsatztreue zu den Amerikanern, gleichwohl mit Russland eine zukunftsorientierte Politik zu machen. Das ist, glaube ich, das Problem, und da glaube ich, die vordergründige Kritik ans TTIP-Abkommen und dergleichen ist es gar nicht, sondern ist die langfristige Frage, mit wem wollen wir unsere Wirtschaftsbeziehung ordnen. Wenn wir das mit Amerika machen über das TTIP-Abkommen, was ich für notwendig halte, dann muss man aber gleichwohl eine Ergänzung sehen nach Russland hin, weil kommen wir denn mit Russland da mit klar, und die auch einbeziehen. Das, glaube ich, ist das Wichtige.
Burchardt: Ist nicht dann aber auch das Problem, wie halten wir es mit den Chinesen? Ich meine, auch China, wenngleich da im Augenblick eine Währungskrise da ist oder eine Wirtschaftskrise, um es mal beim Namen zu nennen, ist ja auch nicht mehr auszu… Zumal die Amerikaner ja durchaus in diesen Raum, mehr in den asiatischen Raum fokussieren.
Momper: Aber da sind die Amerikaner die ersten an der Spitze, die was machen müssen und die das auch machen werden. Allein wegen der Größe von China, da würden wir uns wohl auch ein bisschen verheben, wenn wir da eine halbwegs führende Rolle nun übernehmen wollten. Ich glaube, das ist nicht der Fall. Amerika muss das mit China machen, aber wir müssen das mit Russland machen, weil mit Russland machen die Amerikaner es nicht. Das ist denen eine zu kleine Macht oder was weiß ich. Aber die Amerikaner, klar, die müssen mit den Chinesen klarkommen, sie müssen mit den Indern klarkommen, alles im handels- und wirtschaftspolitischen Feld, und ich glaube, das wollen die auch machen. Das werden sie auch machen, aber wir müssen mit Russland klarkommen.
Burchardt: Wenn man Ihnen so zuhört, dann muss man sagen, der Mann ist noch voll am Ball politisch. Drängt es Sie noch mal in die Politik zurück?
Momper: Nein, nein, ich habe so viele Wahlkämpfe gemacht, gewonnen und verloren, 40 Jahre Politik, 32 Jahre Berliner Abgeordnetenhaus, das reicht mir auch, nein, danke!
Moderation: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie heute Rainer Burchardt im Gespräch mit Walter Momper.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.