Die Mörder fuhren wie ihr Opfer mit offenem Verdeck. Als sie das Ministerauto überholten, eröffneten sie aus einer Maschinenpistole das Feuer und warfen eine Handgranate. Als Märtyrer der ersten deutschen Demokratie ist Walther Rathenau bis heute in Erinnerung. Der aus einer jüdischen Unternehmerfamilie stammende Außenminister der Weimarer Republik, der für Verständigung mit den Siegern des Ersten Weltkrieges eintrat, hatte den Hass nationalistischer Ultras auf sich gezogen. Das Ministeramt, das Rathenau 1922 fünf Monate lang bis zu seinem Tod ausübte, war indes nur eine, die letzte, seiner unterschiedlichen Lebensrollen.
"Rathenau ist Chemiker den Studien nach, Bankdirektor in seinem sichtbaren Werk, Künstler nach Neigung, Politiker aus nationalem Bewusstsein. Er ist Zentrum aller kulturellen Bemühungen in Deutschland, Mittelpunkt vielfachster Interessen."
Wirtschaftsboss und Literat
So charakterisierte ihn 1912 der mit ihm befreundete Schriftsteller Stefan Zweig. Geboren am 29. September 1867, führte Rathenau zeitlebens eine Doppelexistenz. Wirtschaftsboss und Literat, in beiden Rollen gleichermaßen prominent. Er war Vorstand, später Aufsichtsratschef der von seinem Vater Emil Rathenau gegründeten und unter dessen Leitung zum weltweit größten Elektrokonzern herangewachsenen AEG. Zugleich trat er als debattenfreudiger Publizist und Kunstkritiker hervor – nach den Worten seines Biographen Lothar Gall in dem Bestreben, sich vom Vater, dem erfolgreichen Unternehmer, zu emanzipieren:
"Er wollte auf eigenen Füßen stehen, und das hat er mit Nachdruck betrieben, und vor allem hat er einen eigenen Bereich sich aufzubauen versucht, der mit dem des Vaters nichts zu tun hatte. Also, seine ganzen Interessen an der Literatur, an der Kunst waren auch gewissermaßen ein Element der Absetzung vom Vater."
Der Publizist Rathenau profilierte sich als wortgewaltiger Kritiker des politischen Systems, der gesellschaftlichen Verhältnisse und herrschenden Kultur seiner Zeit, der wilhelminischen Epoche.
"Nach bewährter Vorschrift stehen die offiziellen Pilaster wie Grenadiere zwischen den wohlverglasten Riesenfenstern, und die massigen Eckzwinger zeigen den kriegerischen Trutzstil, in dem der öffentlichen Baugeschmack des neuen Reiches gipfelt. Selbst die an sich gefällige goldene Kuppel sieht in dieser Umgebung einem riesigen Tintenfassdeckel nicht unähnlich."
Er nahm manche Entwicklungrn um Jahrzehnte vorweg
Das schrieb er 1898 über den vier Jahre zuvor fertiggestellten Neubau des Berliner Reichstages. Rathenau verstand sich als Wortführer des Aufbruchs in die Moderne. Er verkörperte damit einen Zeitgeist, der in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg im liberalen Bürgertum zunehmend Anklang fand. Als Kommentator der politischen Verhältnisse propagierte er den Wandel des autoritären Obrigkeitsstaats zu einem parlamentarischen System. Er geißelte die Diskriminierung der Juden, die Kolonialpolitik des Kaiserreiches und nahm mit seinen Zukunftsentwürfen manche Entwicklungen um Jahrzehnte vorweg. Im November 1913 plädierte er für eine europäische Friedensordnung durch wirtschaftliche Integration.
"Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, aber es ist doch Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation."
Den Beginn des Ersten Weltkrieges wenige Monate später erlebte Rathenau als verstörenden Schock. Er schwankte zwischen Depression und Siegeszuversicht, hoffte auf Verständigung, dann wieder auf ein deutsches Friedensdiktat. Anfang August 1914 stellte er sich als Organisator der Rohstoffbewirtschaftung zur Verfügung und sorgte dafür, dass sämtliche im deutschen Machtbereich vorhandenen Bestände der Kriegswirtschaft zugeführt wurden. So schuf er die ökonomische Grundlage, auf der das Kaiserreich militärisch über vier Jahre durchhalten konnte – ungeachtet seiner Zweifel am Sinn des Krieges.
"Dieser Feind steht rechts"
"Natürlich ist es so, dass dieses ein Gegensatz ist, also diese Position, die ja eine sehr führende Position war und tatsächlich dann die Verlängerung des Krieges bewirkt hat, denn er wollte nicht, dass diese deutsche Nation sozusagen von den Alliierten in einem Atemzug überwunden wurde."
Sein gewaltsamer Tod am 24. Juni 1922 erschütterte die junge Republik in ihren Grundfesten. Im Reichstag gab Kanzler Joseph Wirth den Deutschnationalen die Schuld an der "Entwicklung einer Mordatmosphäre".
"Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Dieser Feind steht rechts!"