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Wandel der Kommunikation
Produktives Nichteinverständnis als Idealvorstellung

Wie könnte Dialog aussehen in einer Welt, in der fast alle eine Stimme haben? Zwischen Hass auf der einen Seite und Hypersensibilität auf der anderen sieht der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen eine dritte Kommunikationswelt. Die führe zu einer "Wahrheit höherer Ordnung".

Bernhard Pörksen im Gespräch mit Michael Köhler |
Bernhard Pörksen beim Medienpolitischen Kongress der Landesregierung Baden-Württemberg 2019.
Produktives Nichteinverständnis sei die reifste Form der Meinungsverschiedenheit, sagt Bernhard Pörksen (IMAGO / Arnulf Hettrich)
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt im Deutschlandfunk drei Kommunikationswelten: Neben Hass und Hetze in manchen sozialen Netzwerken und einer "gelegentlich moralisierenden Hypersensibilität in einzelnen Milieus" sieht er eine dritte.
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Clubhouse, Böhmermann und das Bedürfnis spontaner Mündlichkeit

Verwirklicht ist diese Vorstellung freilich nicht. Pörksen sieht eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raumes: "Jeder hat auf einmal eine Stimme, jeder will auch womöglich eine Stimme haben". Weltgeschichtlich sei das eine gute Nachricht, dass nicht nur wenige Privilegierte Gehör finden. Das schlägt sich nach dem Aufstieg der sozialen Netzwerke auch in Podcast-Formaten wie "Fest & Flauschig" mit Jan Böhmermann und Olli Schulz oder "Gemischtes Hack" (Felix Lobrecht und Tommi Schmitt) nieder. Diese erreichen seit mehreren Jahren enorme Reichweiten. Eine App wie Clubhouse erlebt einen Hype und könnte als Ausdruck eines neuen Bedürfnisses nach spontaner Mündlichkeit gesehen werden.
Diese Öffnung des kommunikativen Raums bringt mehrere Effekte hervor. Die "vernetzten Vielen" könnten Empörung als produktive Kraft einsetzen und ein Thema mit Wucht auf die Agenda setzen. Man denke an die Bedeutung der sozialen Netzwerke für den Arabischen Frühling oder auch an die Streitschrift von Stéphane Hessel gegen die Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft, die nicht zufällig den Titel "Empört euch!" trägt. Demgegenüber sieht Pörksen aber auch die Doppelgesichtigkeit der Empörung: "Ich denke, dass wir, wenn wir zurückblicken, wenn wir den Hype um einzelne Nonsens-Themen rekonstruieren, dass wir dann auch durchaus empörungskritisch oder empörungskritischer werden können, denn nicht alles, was an Wut durch die sozialen Netzwerke spült, ist sinnvoll."
Ein Smartphone-Display mit den Symbolen verschiedener Apps
Bernhard Pörksen sieht eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raumes (picture alliance / NurPhoto | Maxym Marusenko)

"Die Filterblasen-Idee ist ein Mythos"

Den Effekt einer Filterblasenbildung sieht Pörksen dagegen nicht, er erteilt ihr sogar eine Absage: "Diese Filterblasen-Idee ist ein ganz gewaltiger Mythos, es gibt so gut wie keine empirischen Belege." Im Gegenteil: Zwar spricht Pörksen an anderer Stelle von Selbstbestätigungsmilieus, in denen Falschnachrichten kursieren. Dennoch sei man immer nur einen Klick von einem anderen "Wirklichkeitsuniversum" entfernt. "Das ist, wenn Sie so wollen, so eine merkwürdige Stimmung eines belagerten Tals. Ja, wir hocken womöglich in unserem Tal, aber wir wissen längst von dem Tal der anderen, wir können es sogar ganz unmittelbar sehen und es ist womöglich nur einen Klick von dem unseren entfernt. Das ist so eine Bewusstseinslage eines fragilen Fundamentalismus, die auf diese Weise entsteht. Wir sind uns ganz sicher, fühlen uns aber gleichzeitig in unserer Sicherheit permanent bedroht, denn die anderen, die anders denken, sind permanent präsent."
Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, spricht während des medienpolitischen Kongresses "source" der baden-württembergischen Landesregierung.
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Das Interview im Wortlaut
Michael Köhler: Wir wollen sprechen über das Sprechen, reden über das Reden, über das Zueinanderfinden und auch das Überhören in Zeiten, wo die Frage nach dem Wir virulent geworden ist und wir in zunehmend disparaten Öffentlichkeiten zu leben scheinen. Und wir wollen das tun mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Er lehrt als Professor für Medienwissenschaft an der Universität in Tübingen. Es gibt gegenwärtig vielleicht einen Drang zur neuen Mündlichkeit. Schaut man sich nämlich allein den Erfolg von neuen Apps wie Clubhouse oder von Konkurrenten, die auf den Markt drängen, von Twitter oder Facebook etwa, die heißen dann Spaces, das sind neue große, soziale Quatschräume, nenne ich sie jetzt mal etwas salopp und ungeschützt. Etwas empirischer gesprochen: Leute wie Schulz und Böhmermann zeichnen seit 2012 jede Woche ein Gespräch auf, Baywatch Berlin, Gemischtes Hack, Fest & Flauschig, Herrengedeck, das sind sogenannte Laberpodcasts – und die sind sehr erfolgreich. Glaubt man den Angaben von Spotify, dann erreichen die locker wöchentlich eine Million Hörer. Herr Pörksen, gerade im im Lockdown entdecken offenbar viele diese Podcasts, eine Art Fernsehserie für die Ohren. Würden Sie zustimmen, dass wir da einen neuen Trend beobachten?
Bernhard Pörksen: Ja, das würde ich so sagen, in der Tat, wir leben jetzt ja in einer Phase der Pandemie, Sie haben es gerade erwähnt. Und auch der Hype um Clubhouse scheint mir ein Indiz dafür, wie groß die Sehnsucht geworden ist danach, einfach so vor sich hin zu sprechen, miteinander zu reden, zu driften, zu diffundieren. Ich würde sagen, Clubhouse ist so etwas wie ein Sehnsuchtsmedium. Wir haben ja, gerade bedingt durch die aktuelle Situation, so etwas wie eine permanente Funktionalitätsvergiftung der Kommunikation, so könnte man das vielleicht nennen. Immer geschieht etwas, um zu. Wir loggen uns ein, um ein Interview zu führen, um eine endlose Zoom-Konferenz zu praktizieren, um eine Vorlesung zu halten. Immer regiert dieses um zu. Es gibt ganz offensichtlich – und hier setzt dieses neue Medium an – ein dringendes Bedürfnis nach dem spontanen, nach dem ungeplanten, nach dem tatsächlich offenen einfach so miteinander Reden. Das ist aus meiner Sicht der Hintergrund für den aktuell erlebbaren Hype.
Köhler: Bevor wir das deuten, noch eine Sekunde mal sammeln. Jeder kennt aus seinem Nahbereich sprachgesteuerte Umgebung. Das fängt an mit einfachen Sprachsteuerungsbefehlen für den Radiowecker oder den Haushaltsstaubsauger, den Toaster, Roboter, es geht dann über Alexa bis zu Voice-Commanding-Systems bis zu künstlicher Intelligenz und so weiter. Das heißt, wir erleben forcierte Mündlichkeit, die – und das wäre jetzt der wichtige Nebensatz – das alte Kommunikationsideal der Schriftlichkeit ablöst?
Pörksen: Ganz so hart würde ich nicht formulieren, es entsteht so eine Art Übergang, eine Mischform womöglich. Auf der einen Seite natürlich texten wir nach wie vor sehr viel, schreiben sehr viel, aber tun das mit einer anderen Leichtigkeit und auch Freiheit, abgelöst von den vergleichsweise starren und statischen Normen der Schriftform. Hier entstehen Übergangsphasen, hier entstehen Hybride, Mischformen. Ich würde sagen, was etwa in Clubhouse oder anderswo passiert, ist etwas, was man konzeptionelle Mündlichkeit nennen könnte oder gefühlte Mündlichkeit. Wir reden in dem Bewusstsein, das ist nur mündlich, nur so daher gesagt und gleich wieder weg. Faktisch ist es aber, und das zeigen ja auch die aktuellen Skandälchen rund um ein solches Medium, faktisch ist es aber sehr leicht dokumentierbar. Denken Sie an einen Ministerpräsidenten wie Bodo Ramelow, der sich dann bekennt, er würde in den Ministerpräsidentenkonferenzen, wo es um Corona geht und um die Pandemiebekämpfung, irgendein Computerspiel spielen, oder der sich bekennt, er würde die Kanzlerin Angela Merkel mit irgendwelchen komischen Kosenamen belegen. All das wird dann unter Umständen blitzschnell dokumentiert. Das meint aus meiner Sicht gefühlte Mündlichkeit. Man lebt im Bewusstsein, man formuliere einfach so nur dahin, das sei gleich verwischt und verweht, aber faktisch ist es unter den aktuellen Medien- und Kommunikationsbedingungen auf Dauer dokumentierbar und potentiell einem Weltpublikum verfügbar.
Köhler: Nicht zufällig hat übrigens Thomas Gottschalk gerade auf Clubhouse ein Interview zu seinem inkriminierten Fernsehgespräch gegeben. Sie haben etwas Wichtiges, glaube ich, gesagt: Diese Podcasts sind ungeregelt, sie sind locker, sie sind formlos, sie reagieren aber zugleich auch auf gesellschaftliche Forderungen, die sagen, lasst uns miteinander reden, lasst den anderen eine Stimme geben, lasst uns auf die anderen hören. Wie authentisch, wie echt, wie aufrichtig, das ist ja noch mal eine andere Frage, aber einen, ich glaube, mit Ihren Worten gesprochen, kommunikativen Klimawandel kann man schon beobachten.
Pörksen: Ja, unbedingt. Und aus meiner Sicht ist das einer der ganz wesentlichen Kommunikationseffekte der Digitalisierung, den Sie gerade beschrieben und benannt haben. Ich würde sagen, Digitalisierung setzt eigentlich die Dialogerwartung als soziale Norm. Jeder soll mitsprechen können, jeder soll eine Stimme bekommen. Mediale Umgebungen, ganze Informationsökologien, das sehen wir in der aktuellen Entwicklung, sind ja auf diffuse Art und Weise normativ. Sie setzen Regeln, sie setzen Erwartungen, sie setzen Ansprüche. Und der Anspruch des Dialogs, des miteinander Redens, des gehört Werden, des eine Stimme Bekommen, der ist in Zeiten der sozialen Netzwerke längst zu einem universalen Anspruch geworden. Und eigentlich ist das eine gute Nachricht, auch wenn wir sagen müssen, wir erleben eine fundamentale Paradoxie der Medienentwicklung, denn auf der einen Seite, darüber reden wir gerade, eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raumes, jeder hat auf einmal eine Stimme, jeder will auch womöglich eine Stimme haben.
Köhler: Was es erforderlich macht, dass wir ein Gesetzespaket gegen Hasskriminalität gerade auf den Weg gebracht haben.
Pörksen: Ja, das ist die eine Dimension. Aber vielleicht ein zweiter Gedanke noch: Diese merkwürdige Paradoxie besteht ja darin, Öffnung des kommunikativen Raumes und gleichzeitig in Gestalt von wenigen digitalen Giganten eine massive Zentralisierung, Monopolbildung, Refeudalisierung im öffentlichen Raum. Aber Sie haben völlig recht, die Öffnung hat auch dazu geführt, dass sich Menschen zuschalten, die eben ungehindert, ungefiltert Hass in die sozialen Netzwerke sprühen, die andere verfolgen, diffamieren und online oder im Extremfall auch offline zur Menschenjagd aufrufen.
Köhler: Sie haben gerade mit Ihrem Kollegen, dem Psychologen Friedemann Schulz von Thun, ein Buch veröffentlicht im vergangenen Jahr, "Kunst des Miteinander-Redens", und geben darin durchaus auch Ihrer Empörung oder Ihrer Empörung über die Empörung Ausdruck. Jetzt würde ich dagegen halten: Das, was wir bis grade beschrieben haben, ist das nicht eigentlich eine prima Entwicklung, dass die bislang Unerhörten, die bislang nicht Repräsentierten jetzt auch sich zu Wort melden können, auch gehört werden, auch eine Stimme haben?
Pörksen: Ja, das ist natürlich absolut eine gute Nachricht, weltgeschichtlich gesprochen eine gute Nachricht, dass nicht nur einige wenige Privilegierte eine Stimme haben, sondern eben auch die vernetzten Vielen. Und Sie haben auch recht, Empörung kann durchaus produktiv sein, eine produktive Kraft der gesellschaftlichen Veränderung. Ich würde sagen, Empörung hat eigentlich stets ein Doppelgesicht, sie ist Instrument der Aufklärung, sie kann ein Thema mit der nötigen Wucht auf die öffentliche Agenda setzen, aber sie ist eben auch Instrument der Gegenaufklärung, des sinnlosen Spektakels. Und ich denke, dass wir, wenn wir zurückblicken, wenn wir den Hype um einzelne Nonsens-Themen rekonstruieren, dass wir dann auch durchaus empörungskritisch oder empörungskritischer werden können, denn nicht alles, was an Wut durch die sozialen Netzwerke spült, ist sinnvoll. Nicht alles, was an Empörung bekannt wird, will ein wichtiges Thema auf die Agenda setzen. Wir haben also aus meiner Sicht unterschiedliche Formen von Empörung, über die wir hier reden. Und die Empörungserschöpfung, von der ich spreche, so eine Art Rage Fatigue, wenn Sie so wollen, diese Erschöpfung bezieht sich auf die Spektakelthemen, auf die Nonsens-Themen, auf den Hype um das Sinnlose, auf den Kult der Irrelevanz.
Köhler: Die Kommunikationskonflikte, ich benutze ein Wort von Ihnen, nehmen aber zu, weil wir nämlich jetzt in der Lage sind, mehr Kontakte zu eröffnen. Will sagen: Kulturkonflikt durch Kulturkontakt – das ist auch so eine merkwürdige Paradoxie.
Pörksen: Absolut. Viele Menschen haben ja die falsche Theorie, Kontakt an sich sei schon gut und wir hätten gewissermaßen gesellschaftlich das Problem, dass wir alle nur in unseren Filterblasen hocken und keine Berührung mehr haben mit Andersdenkenden. Diese Filterblasen-Idee ist ein ganz gewaltiger Mythos, es gibt so gut wie keine empirischen Belege. Und jeder macht natürlich tagtäglich die Erfahrung, dass man mit einem Klick blitzschnell in eine anderen . Und diese Erfahrung kann und sollte man nicht einfach wegwischen. Also wir können uns in eine Behauptung, in unser Wirklichkeitsuniversum, in unser Selbstbestätigungsmilieu reingoogeln, wir sind aber auch immer – und eben das meint Filterclash – mit der Weltwahrnehmung von anderen konfrontiert. Das ist, wenn Sie so wollen, so eine merkwürdige Stimmung eines belagerten Tals. Ja, wir hocken womöglich in unserem Tal, aber wir wissen längst von dem Tal der anderen, wir können es sogar ganz unmittelbar sehen und es ist womöglich nur einen Klick von dem unseren entfernt. Das ist so eine Bewusstseinslage eines fragilen Fundamentalismus, die auf diese Weise entsteht. Wir sind uns ganz sicher, fühlen uns aber gleichzeitig in unserer Sicherheit permanent bedroht, denn die anderen, die anders denken, sind permanent präsent.
Köhler: Die Öffentlichkeit, so Ihre Behauptung, liege nicht in Trümmern. Nach dem, was wir bis gerade aber beschrieben haben, die Entstehung von Teilöffentlichkeiten, von Hass, von ungezügelter übler Nachrede und Ähnlichem, belegt das nicht das Gegenteil?
Pörksen: Ja, in der Tat. Natürlich, es gibt Hass und Hetze, entsetzliche Formen der Menschenjagd online wie offline. Aber es gibt eben auch eine gelegentlich moralisierende Hypersensibilität in einzelnen Milieus – und es gibt eine dritte Kommunikationswelt, die wir beobachten können, ein Bemühen um echten, respektvollen Austausch, um authentische Wertschätzung. So wie heute in den Schulen, in Universitäten, in Unternehmen gesprochen wird, auch in Redaktionen, da ist schon ein kommunikativer Klimawandel im Sinne des Positiven zu diagnostizieren. Und eben das meint diese Formel, die Friedemann Schulz von Thun und ich in diesem kleinen Buch entwerfen, Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten, wir leben kommunikationsanalytisch betrachtet in dieser Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten. Hass und Hetze auf der einen Seite, Hypersensibilität auf der anderen Seite und schließlich aber auch Bemühen um authentische Wertschätzung. Und letzte Bemerkung, letzter Satz: Wer behauptet, die Öffentlichkeit liege in Trümmern, wer sagt, die Diskurswelten gingen unter in einem einzigen Rausch, einem Spektakel des Postfaktischen, der besorgt im Grunde genommen das Geschäft der Populisten. Das ist die apokalyptische Zuspitzung, das ist die Behauptung des Niedergangs, die sich empirisch leicht widerlegen lässt, die sich womöglich aber, das wäre tatsächlich tragisch, dramatisch, in eine selbsterfüllende Prophezeiung verwandeln kann. Man ist dann entmutigt, und die Engagierten sagen sich, man kann nichts mehr tun außer nach Hause gehen und die Welt verloren geben. Das wäre tatsächlich eine schlechte Botschaft.
Köhler: Wir haben mit der Konjunktur der Mündlichkeit begonnen. Mich treibt noch eine Sache um, wenn jetzt alle davon sprechen, dass man anderen die Stimme geben soll, dass wir da vielleicht zu einem Authentizitätsaberglauben oder -phantasma vielleicht erliegen. Was meine ich damit? Stimme als Ausdruck höchster Individualität, höchster Eigentlichkeit, aber ein kurzes Nachdenken zeigt ja schon: So, wie ich mich höre, hören Sie mich nicht – oder umgekehrt. Was will ich damit sagen? Wir unterstellen immer, dass im Sprechen eine Art unverwechselbarer Kern zum anderen liegt, sehr romantisch gesagt so von Herz zu Herz. Nun weiß man beim kurzen Nachdenken, das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist leichter, als jemanden hinter das Licht zu führen beim Sprechen. Führen die neuen Techniken nicht eher vom Menschen weg, während sie uns vorgaukeln, zu ihm hinzuführen, zu einem neuen Wir?
Pörksen: Ich würde das nicht so sagen. Aus meiner Sicht erleben wir, dass beides denkbar, beides möglich ist. Diese Technologien, die wir gegenwärtig haben, haben keineswegs eine so eindeutige Tendenz. Sie können sich als wunderbar erweisen, wer möchte in Zeiten der Pandemie ohne seinen Computer sein, ohne das Netz. Diesen Menschen würde ich gerne kennenlernen. Wir sehen, wie wir jetzt gerade Skype, Zoom, Teams als Kommunikationstechnologien der leichten Beziehungsbestätigung, des Austausches benutzen können, so anstrengend das auch immer sein mag und so belastend das auch immer sein mag. Und gleichzeitig lassen sich natürlich diese Kommunikationstechnologien auch benutzen, um Authentizität zu simulieren, das private Erzählen nur zu behaupten und andere hinter das Licht zu führen, zu heucheln, also gerade nicht authentisch zu sein. Für mich ist der Kern der gegenwärtigen Entwicklung, wir sind in einer Art Übergangsphase der Medienevolution, weg von der alten gleichsam zentralistischen Mediendemokratie hin zu Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters. Hier ist ein offener Raum entstanden, viel Wildwuchs, viel positive Entwicklung, viel Gleichzeitigkeit des Verschiedenen. Und da wird sich, hoffe ich, allmählich gewissermaßen ein neues Bewusstsein für Konventionen, ein neues Bewusstsein für bestimmte Regeln, ein neues Bewusstsein auch für den Wert solcher Kommunikationsregeln, die man gar nicht meistens immer juristisch kodifizieren muss, herausbilden.
Köhler: Das ist Gelegenheit, Sie haben es mir leicht gemacht, quasi unter die Zunge gelegt gerade, mit Ihnen über Ihr jüngstes Buch zu sprechen, das Sie zusammen mit Friedemann Schulz von Thun veröffentlicht haben, "Die Kunst des Miteinander-Redens". Ich verbinde das mit der Frage, wie sieht denn dann ein produktives Uneinverständnis aus, das das Wir am Ende nicht aufgibt, also das nicht Unverständnis an den Tag legt, um Gräben zu vertiefen, sondern vielleicht zu sagen oder einzuräumen, ich muss einräumen, wenn ich den anderen für mich gewinnen will, dass ich gegebenenfalls auch die Seite wechseln muss, nämlich dass der andere vielleicht auch recht hat?
Pörksen: Ja, das finde ich einen wunderbaren Ausdruck. Produktives Nichteinverständnis, das sieht so aus, das ist eigentlich die reifste Form einer Meinungsverschiedenheit, wir beleidigen uns nicht auf der Beziehungsebene, erkennen aber inhaltlich an, wir haben eine Differenz, einen wirklichen Unterschied. Und die Wahrheit beginnt idealerweise zu zweit, in einem dialogischen Miteinander. Ich würde sagen, genau das macht einen Dialog, ein wirkliches Gespräch aus, ein produktives Nichteinverständnis bei gelegentlichem Einverständnis. Wir bewegen uns aufeinander zu, wir bewegen uns voneinander weg, wir ringen um die Perspektive, A sagt etwas, B sagt etwas – und aus dem jeweils Gesagten entsteht ganz allmählich in dem Prozess der Reibung, deswegen darf dieses Wir keine Auflösung des Ich bedeuten, entsteht im Prozess der Reibung so ein Tanz des Denkens und letztlich eine, wenn Sie so wollen, verzeihen Sie mir diesen emphatischen Begriff, eine Wahrheit höherer Ordnung.
Köhler: Steht dem aber das, was wir eingangs beschrieben haben, die Laberpodcasts, nicht ziemlich im Weg?
Pörksen: Das kann natürlich sein. Bei einem Gespräch muss es um etwas gehen, man braucht ein Thema, man braucht eine Idee, man darf nicht nur strategisch kommunizieren, das wäre das eine Extrem, das ruiniert ein wirkliches Gespräch, einen wirklichen Dialog garantiert, und man darf aber nicht nur gewissermaßen die Kommunikation als L'art pour l'art, schön, dass wir geredet, schön, dass wir gesprochen haben – ohne wirkliche Vitalisierung durch ein Thema – betreiben. Beides funktioniert nicht. Also, man braucht ein Thema, man braucht gewissermaßen eine Mischung aus Assoziation und Loslassen und dem Versuch, wieder zurückzukehren, festzuhalten an einzelnen Standpunkten. Es ist, wenn Sie so wollen, eine Doppelbewegung, ein Streicheln und Kratzen, hat Martin Walser einmal das gute Gespräch genannt. Und ein gutes Gespräch wechselt in diesem Sinne die Tonalitäten, aber ist mal dicht und inhaltlich stark und lässt dann wieder locker und geht ins Offene. Diese Doppelbewegung braucht es immer.
Köhler: Jetzt haben Sie sehr romantisch, goetheanisch geradezu gesprochen, von dem wir wissen, dass er das Gespräch über alles schätzte, noch mehr als das Licht, weil in ihm das Beglückende lag. Und eben auch das Sprechen nicht nur mit einem anderen, sondern mit dem anderen oder auch mit anderen Zeiten, Wesen, Menschen und Zeiten. Und das ist ja der entscheidende Punkt, dass man buchstäblich einen Horizontwechsel vornimmt. Sie unterscheiden zwischen Verstehen, Verständnis und Einverständnis?
Pörksen: Ja, das ist so eine Drei-Stufen-Lehre, die mein Kollege und Freund Friedemann Schulz von Thun entwickelt. Mir hilft dieses Dreier-Schema selbst, um zu klären, wie dialogbereit bin ich eigentlich in Wahrheit? Verstehen sollte ich den anderen immer, egal, ob ich mit ihm übereinstimme oder nicht. Verständnis haben für seine Empfindlichkeiten und Reizbarkeiten vielleicht, aber ob ich einverstanden bin, ist eine ganz andere Frage. Also, um einen Dialog zu führen, muss ich von der Annahme ausgehen, dass der andere recht haben könnte. Insofern hilft diese Unterscheidung von Verstehen, Verständnis und Einverständnis eine tatsächliche Dialog- und Gesprächsbereitschaft zu klären.
Köhler: Wenn ich dann auf ein neues Wir, auf dem Boden Ihrer Dialogangebote und Ihrer Kunst des Miteinander-Redens zurückgreife, dann heißt unter anderem Zivilisation, zu wissen, wann man sich zusammenreißt und, bitteschön, auch die Klappe hält.
Pörksen: Ja, in der Tat, so könnte man Zivilisation, ich habe eine solche Definition noch nie gehört, definieren. Aber das heißt auf jeden Fall auch abwarten können, den anderen sprechen lassen, nicht sofort reingrätschen, die Idee, man wisse es besser, die Figur des Bescheidwissers ist für einen Dialog unter Umständen tödlich. Ich würde vielleicht nicht von Zivilisation sprechen, sondern eigentlich von Gesprächs- und Dialogvoraussetzung.
Köhler: Zu deren Grundlage auch zählt, zögern können zu wollen.
Pörksen: Unbedingt, ja. Das ist in der Tat ein Anreizsystem in der gegenwärtigen Kommunikationsumgebung, das Kommunikation oder das den Austausch bedrohen kann. Wer sofort antwortet, wer sofort reagiert, begünstigt ein Klima der unmittelbaren Eskalation. Es gilt, Abschied zu nehmen von diesem kommentierenden Sofortismus. Das Abwarten, das Zögern können, das skeptische Zurücktreten, all das sind ja uralte Kommunikationstugenden, die aber unter den Hochgeschwindigkeitsbedingungen der digitalen Zeit wieder an Relevanz und an Bedeutung gewinnen.
Köhler: Ich hatte das Glück, mal den hochbetagten, fast 100-jährigen Hans-Georg Gadamer in Heidelberg zu treffen, der mich mit den Worten verabschiedete, es sei doch gut, dass man sich nie ganz ausspricht. Und da steckt ein schöner Doppelsinn drin, nämlich das Beenden, das Aus-Sein, das Aufhören, aber eben auch, dass man nie zu einem Kern vordringt, sondern im Gespräch bleiben muss. Was meinte er damit? Er meinte damit, dass wir gut beraten sind, wenn wir kein Gespräch führen in dem Sinne, dass wir herrisch glauben, der Herr oder Mann oder Frau oder Regent des Gesprächs zu sein, sondern einräumen, dass wir in ein Gespräch geraten, aus dem wir anders herausgehen, als wir hineingegangen sind. Gehen Sie mit?
Pörksen: Ich gehe absolut mit. So ein Moment des unplanbaren, des nicht steuerbaren, auch des womöglich vergnüglichen, erhellenden, inspirierenden, manchmal auch etwas schmerzhaften Kontrollverlustes, das gehört zu einem gelingenden Gespräch tatsächlich dazu. Wer alles plant, in der Hand halten will, steuern möchte, eine feste Strategie hat, der wird den Dialog mit Sicherheit und Gewissheit ruinieren.
Köhler: Und so ein kleiner Schuss Medienökonomie schadet dann auch nicht oder?
Pörksen: Ja, unbedingt. Wir haben ja Emotions- und Erregungsindustrien, die von dem Spektakel, dem Hype leben und die ja sehr genau beobachten können, was funktioniert, was greift in einem härter werdenden Kampf um Aufmerksamkeit. Es ist die Geschichte von irgendeinem Löwenbaby, das von einem Affen weggetragen wird, es ist die Geschichte von irgendeiner sogenannten Inter-Species-Lovestory, nach dem Motto, man wirft einem sibirischen Tiger eine Ziege zum Fraß vor, und die beiden kuscheln dann miteinander. Das, weiß man inzwischen, geht weltweit durch die Decke. Und es gibt eigene Emotions- und Erregungsindustrien, die sehr genau ausmessen, was interessiert, was fasziniert, und die dann den Hype entsprechend strategisch verstärken. Und das reicht, dass wir womöglich rund um den Globus am Ende des Tages über einen einzigen Scherz, eine einzige Geschichte, ein einziges Video lachen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.