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Wandel der landwirtschaftlichen Tierhaltung
Tiere unter Kontrolle

Turbokühe und in Rekordzeit gemästete Schweine und Geflügel: Das Tierwohl ist in vielen deutschen Ställen auf der Strecke geblieben. Das sei das logische Ergebnis einer Agrarpolitik, die Landwirtschaft möglichst schmerzfrei industrialisieren wollte, sagte die Historikerin Veronika Settele im Dlf.

Veronika Settele im Gespräch mit Dörte Hinrichs |
Masthähnchen in einem der Ställe der Agrarproduktionsgesellschaft Agp Lübesse.
Wann und wie verschwanden die Nutztiere aus dem Bewusstsein der Menschen? Die Historikerin sieht die vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als entscheidend an. (picture alliance / dpa)
Die Ausbreitung des Coronavirus bei Mitarbeitern in deutschen Schlachtbetrieben hat auch wieder ein Schlaglicht auf die Tierhaltung insgesamt geworfen. Wo Landwirte unter Druck stehen, immer schneller und günstiger zu produzieren, wo industrielle Tierhaltung in großem Stil staatlich gefördert wird, bleiben Tierwohl, humane Arbeitsbedingungen und Umweltschutz allzu oft auf der Strecke. Welche Bedingungen führten dazu, dass Kühe und Schweine immer schneller Fleisch ansetzen und Hühner deutlich mehr Eier legten? Wann und wieso verschwanden die Nutztiere aus dem alltäglichen Bewusstsein?
Schlachthöfe in Europa: Billiges Fleisch, unhaltbare Zustände
Die große Zahl der COVID-19-Fälle in Schlachthöfen hat ein Schlaglicht auf die prekären Zustände dort geworfen. Begonnen hat die systematische Ausbeutung von Arbeitsmigranten in deutschen Fleischfabriken.
"Revolution im Stall" heißt der Titel der Dissertation von Veronika Settele, in der sie diesen Fragen nachgegangen ist. und für die die Historikerin mit dem Deutschen Studienpreis ausgezeichnet wurde. In ihrer Forschung hat sie sich auf die deutschen Ställe von 1945 bis 1990 konzentriert.
Dörte Hinrichts: Inwieweit hilft der Blick zurück in diese Zeit, um Licht in das Dunkel der heutigen Konfliktlagen zwischen Stall und Gesellschaft zu bringen, wo ja vielen Menschen doch die derzeitigen Haltungsbedingungen von Rindern, Schweinen oder Geflügel weder gesellschaftlich akzeptabel noch zukunftsfähig erscheinen?
"Eine höchst plausible Entwicklung"
Veronika Settele: Der eine Punkt ist, dass in diesem Zeitraum landwirtschaftliche Tierhaltung, wie wir sie heute kennen, auf Schiene gebracht worden ist. Also, dass alle Strukturmerkmale, große Ställe, Konzentration, enorme Spezialisierung, nicht mal nur auf eine Tierart, sondern auf ein Wachstumsstadium einer Tierart beispielsweise, dass all das in diesem Zeitraum entwickelt und implementiert worden ist. Das ist der eine Punkt.
Und der andere Punkt ist, dass ich glaube, dass der geschichtswissenschaftliche Blick zugleich Handlungsspielräume schafft, indem er ganz automatisch sozusagen vor Augen führt, dass der Status quo jetzt keine Verschwörung gemeiner Bösewichte ist, sondern eine höchst plausible Entwicklung, für die es Ursachen gibt und Strukturen und handelnde Akteure. Und aufgrund von deren Entscheidungen ist eben auch so was wie die Massentierhaltung, wie die heutige Art, Tiere zu halten, oft despektierlich genannt wird. Es ist ein ganz logisches Ergebnis einer Agrarpolitik, in der in beiden deutschen Staaten einmütig beschlossen wurde und auch in diesen ganzen Zeitraum nicht hinterfragt wurde, wie die Landwirtschaft eben möglichst schmerzfrei in die Industriegesellschaft überführt werden kann und dass die Schlüsselgröße dafür eine gestiegene Produktivität in den Ställen ist. Die es eben erlaubt, die Beschäftigtenzahlen herunterzufahren und dennoch eine stabile Versorgungslage zu gewährleisten.
Ein Rind schaut während einer Polizeikontrolle eines Tiertransporters auf einem Parkplatz an der Autobahn 250 (Maschen-Lüneburg) verängstigt durch einen Belüftungsschlitz.
Massentierhaltung und seine Konsequenzen seien keine Verschwörung gemeiner Bösewichte, sagte die Historikerin Settele im Dlf. (picture alliance / dpa / Hans-Jürgen Wege)
Hinrichs: Was ging in beiden deutschen Staaten vor sich im Verhältnis zwischen Mensch und Tier, als Kühe, Schweine und Geflügel produktiv wurden wie nie und gleichzeitig auch immer weniger Menschen mit ihnen arbeiteten.
Settele: Es ist im Grunde eine paradoxe Entwicklung. Also wir haben auf der einen Seite eine Entfremdung von den allermeisten Menschen und den wichtigsten landwirtschaftlichen Lebensmittellieferanten, also Rindern, Schweinen und Hühnern. Also wann sieht man heute repräsentativ gehaltene Rinder, Schweine und Hühner? Man sieht sie nicht. Man sieht vielleicht Viehtransporter auf der Autobahn, die man überholt.
Und sonst sieht man diese Tiere live eher in eben nicht repräsentativen Umständen, also auf irgendwie einem Ferienbauernhof oder in einem Streichelzoo. Aber man hat im Grunde keinerlei Berührungspunkte mit den üblichen Orten ihrer Haltung. Also da eine Entfremdung, und zugleich eben eine Unterwerfung eben dieser Tiere, die man nicht mehr sieht, weil in dieser Zeit - also vor allem die der 60er-Jahre sind das wichtigste Jahrzehnt - neue biologisch-medizinische Prozesse im Stall, die Körper der Tiere neuartig unter Kontrolle und damit zu neuartigen Leistungen bringen konnte. Also die menschliche Übernahme der Reproduktion der Tiere. Was dann unter Worten wie die künstliche Besamung stattfand, aber was bedeutet, der Mensch entscheidet, welche Tiere sich paaren. Das hat er möglicherweise schon auch davor, aber da gab es nun mal den Gemeindebullen oder den Eber, den man selbst im Stall hielt. Aber nun ist es möglich, sozusagen großflächig Populationsgenetik zu betreiben und die Tiere miteinander zu paaren, die die besten Leistungsanlagen versprechen. Das heißt, Konzentration in weniger Betrieben, Berührungspunkte verschwinden und zugleich eben neue Haltungstechniken an den Tieren, die erlauben, diese Produktivitätsrekorde zu realisieren.
Günstige Butter und ganzjährig Eier
Hinrichs: Waren diese Produktivitätsrekorde so nachgefragt, vielleicht noch aus der kriegsbedingten Mangelerfahrung?
Settele: Also da ist ein großes Ja zu setzen. Ob Produktivitätsrekorde nachgefragt sind, aber auf jeden Fall war aus der Mangelerfahrung raus ganz klar, dass eine stabile Versorgungslage an - und das ist meines Erachtens auch entscheidend - eben den gefragtes Produkten der Konsumgesellschaft, also günstiger Butter, ganzjährig Eier und regelmäßig guten Stücken Fleisch, das war ein ganz, ganz wichtiger Motor. Und das war im Grunde eine Sache, über die man nicht sprechen musste, weil sie so selbstverständlich war durch alle Bevölkerungsschichten hindurch.
Unterschiedliche Idelogien, gleiche Haltungsbedingungen
Hinrichs: War denn die Entwicklung diesbezüglich in der Bundesrepublik und der DDR ähnlich?
Settele: Ja, das ist ein großes Argument der Studie, dass bei allen wichtigen Unterschieden vor allem in der Organisation, aber beispielsweise natürlich auch, was politischen Zwang anbelangt, also auch in der Bundesrepublik ist ja der landwirtschaftliche Strukturwandel ist oft ein von vom Zwang zur Hofaufgabe beispielsweise die Rede. Aber das ist qualitativ natürlich ein völlig anderer Zwang als die Zwangskollektivierung in der DDR. Aber dass trotz aller Unterschiede die Grundentwicklungen sehr ähnlich sind, das ist ein großes Ergebnis der Arbeit, dass Unterschiede oft eher der verschiedenen politischen, ideologischen Überformung zuzuschreiben sind. Also, dass man allzu sehr herausgekehrt hat, dass in der Bundesrepublik der bäuerliche Familienbetrieb die Nation versorgt mit den wertvollen Lebensmitteln, wohingegen in der DDR das ja gerade in den Staatsbetrieben oder vergenossenschaftlichen Produktionsstätten geschieht. Aber wenn man sich anguckt, wie wurden Tiere gehalten, dann überwiegen die Ähnlichkeiten bei weitem.
DDR-Plakat aus den 50er-Jahren: Gesunde Viehhaltung führt zum Wohlstand
DDR-Plakat aus den 50er-Jahren: "Gesunde Viehhaltung führt zum Wohlstand" (picture alliance / akg-images)
Mehr Veränderung in vier Jahrzehnten als in den 150 Jahren davor
Hinrichs: Eine stärkere Produktivität und Technisierung bei gleichzeitiger Einsparung von Arbeitskräften kennzeichnet ja die Entwicklung in vielen Industriebereichen, so eben auch in der Landwirtschaft. Und wie Sie eben gesagt haben, auch in beiden deutschen Staaten. Was ist an der Entwicklung denn hier besonders revolutionär?
Settele: Zum einen ist es die zeitliche Verdichtung, also es ist ein kurzer Zeitraum weniger Jahrzehnte, vielleicht drei, vier Jahrzehnte mein Untersuchungszeitraum, in dem sich landwirtschaftliche Tierhaltung radikal wandelte, und eben stärker wandelte als in den 150 Jahren davor. Und was landwirtschaftliche Tierhaltung dann aber unterscheidet von anderen Industriezweigen, die ähnliche Veränderungen erlebten, ist, dass sie über den Konsum ihrer Produkte trotz aller Technisierung, aller Entfremdung, aller Industrialisierung, auf ganz intime Weise mit uns allen, also mit dem Kern individueller und kollektiver Existenz verbunden blieb.
Wie Käfigbatterien in das Bewusstsein der Menschen kamen
Hinrichs: Und heute wird auch wieder kontrovers darüber diskutiert, ob Ferkel ohne Betäubung kastriert, Hühner ihre Schnäbel abgeschnitten und Rinder enthornt werden dürfen. Aber auch, wie viel Platz die Tiere in den Ställen haben sollten. Also kurzum: Auch tierethische Fragen prägen ja schon seit Jahrzehnten die gesellschaftspolitischen Debatten. Wodurch wurden sie eigentlich ausgelöst und haben Sie auch Folgen gezeigt?
Settele: Ausgelöst wurden sie durch eine freie Medienöffentlichkeit. Das lässt sich im deutsch-deutschen Vergleich schön zeigen, weil beispielsweise die ersten großen Ställe für Geflügel Käfighaltung, sogenannte Käfigbatterien, riefen in beiden deutschen Staaten recht ähnliche Bedenken hervor. Und in der Bundesrepublik wurde dieses vielleicht diffuse Gefühl in der Bevölkerung aufgegriffen von einem wort- und wirkmächtigen Fürsprecher der Tiere, Bernhard Grzimek, dem Frankfurter Zoodirektor, der in seiner Sendung "Ein Platz für Tiere" am 13. November 1973 eben statt wie üblich afrikanische Tiere in freier Natur, deutsche Hühner in ihren Käfigen zeigte. Und daraufhin brannte die westdeutsche Diskussion los.
Bernhard Grzimek, deutscher Tierarzt, Verhaltensforscher, Tierfilmer und Direktor des Zoos in Frankfurt, 
Bernhard Grzimek, deutscher Tierarzt, Verhaltensforscher, Tierfilmer und Direktor des Zoos in Frankfurt (picture alliance / United Archives)
In der DDR ist sowas eben nicht zu beobachten, obwohl es vereinzelt, also in einzelnen Quellen, die Gegenstimmen durchaus gab. Und wenn man bei dem Beispiel der Geflügel-Käfighaltung bleibt, zeigt sich, dass zwar sehr langsam, sehr träge, aber doch dieser gesellschaftliche Gegenwind diese Haltungsform zum Erliegen brachte oder bringt, denn auch jetzt sind noch einige Jahre so veränderte Kleingruppenkäfige erlaubt. Aber die Käfighaltung, gegen die die Menschen auch auf die Straße gingen und sich massiv seit den 70er-Jahren engagierten, der wurde der Gar ausgemacht.
Veronika Settele: "Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945-1990"
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020