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Wandel im Schulsystem
Auswirkung erforschen ist "ziemlich blind im Nebel rumstochern"

Schulbildung in Deutschland ist Ländersache. Entsprechend viele Gesetzesreformen gab es in der Vergangenheit. Das Fatale: Klare Ergebnisse darüber, welche Reform sich positiv oder negativ auf die Bildung auswirkt, gibt es nicht, denn Forschern sei es verboten, Datensätze nach Bundesländern auszuwerten, erklärte der Sozialforscher Marcel Helbig im DLF.

Marcel Helbig im Gespräch mit Jörg Biesler |
    Kinder sitzen in einem Klassenraum und hören der Lehrerin zu.
    Sozialforscher Marcel Helbig: "Das Schlimme ist, man weiß es halt nicht so ganz genau." (dpa/ picture-alliance/ Caroline Seidel)
    Jörg Biesler: Die Schulpolitik in Deutschland ist bunt wie das Herbstlaub, denn Bildung ist Ländersache, und die Landesregierungen profilieren sich gern im Bereich Bildung. Entsprechend oft ist die Schulgesetzgebung geändert worden seit Gründung der Bundesrepublik 1949, und jetzt gibt es zum ersten Mal einen Überblick über diesen Wandel. Marcel Helbig ist einer der Autoren und zugleich Mitarbeiter des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung und Professor für Bildung und soziale Ungleichheit in Erfurt. Ihn habe ich vor der Sendung gefragt, wo sich denn Unterschiede zeigen im Vergleich.
    Marcel Helbig: Zum einen kann man die Bundesländer daran vergleichen, wie die Chancen verteilt sind, überhaupt zum Beispiel aufs Gymnasium zu gehen und das Abitur zu erlangen, und zum anderen kann man sagen, dass die Bundesländer sich auch unterscheiden in dem Ausmaß, wie die soziale Herkunft über den Bildungserfolg bestimmt. Und da gibt es schon immer Variationen zwischen den Bundesländern. Es gibt da bestimmte Entwicklungen – manche Bundesländer, die haben eher eine hohe Ungleichheit und die ist auch immer noch hoch, also in den letzten 40 Jahren hat sich da relativ wenig getan, andere sind eher sozial weniger selektiv geworden.
    Und das ist eigentlich so die Frage, dieses zu erklären durch die Schulgesetze, wo da die Beziehung eigentlich zueinander liegt.
    Reform der gymnasialen Oberstufe "ging ein bisschen an der Öffentlichkeit vorbei"
    Biesler: Wird das Schulsystem insgesamt betrachtet liberaler, gibt es Bewegungen in die eine Richtung und wieder zurück in die andere, vielleicht nach dem PISA-Schock ist alles wieder formalisierter und strenger geworden, konnten Sie so was feststellen?
    Helbig: Wir unterscheiden erst mal so zwei Dimensionen. Das sind zum einen die Strukturen, also wann trennen die Schulsysteme ihre Schüler in die verschiedenen Schulformen auf, also da gibt es in Deutschland einmal nach der vierten Klasse, einmal nach der sechsten Klasse. Dann wie viel Gesamtschulen gibt es, gibt es überhaupt Gesamtschulen, gibt es eine Vorschule und so weiter. Und da kann man dann an dieser Dimension halt ablesen, dass sich die Schulsysteme insgesamt in den Bundesländern eher modernisiert haben.
    Und dann auf der anderen Seite, die zweite Dimension – das haben wir Kontrolle von Inhalten genannt, das kann man aber auch so als Übergangskontrolle bezeichnen –, da sehen wir, dass es in den 50er-, 60er-Jahren eher standardisiert abgelaufen ist, es waren klare Vorgaben, wie hat das Schulsystem zu sein, wie werden Übergänge geregelt.
    Dann haben wir in den 70er- und 80er-Jahren in vielen Bundesländern eher so einen Trend hin zu einer stärkeren Destandardisierung, das heißt also, dass man nicht mehr bindende Empfehlungen hatte fürs Gymnasium, dass es in vielen Bundesländern dann kein Zentralabitur mehr gab, dass es auch eine größere Freiheit gab, welche Schulfächer man in der gymnasialen Oberstufe halt hatte. Und dann kam es um PISA herum, aber man kann es auch nicht so ganz klar sagen, ob das nun alles ein PISA-Effekt war, dass wir jetzt ganz klar wieder hin zu einer stärkeren Standardisierung.
    Also fast alle Bundesländer haben jetzt das Zentralabitur eingeführt, es wird viel weniger Wahlfreiheit gelassen, also das ist auch so eine Reform, die so ein bisschen an der Öffentlichkeit vorbeiging, die Reform der gymnasialen Oberstufe, also dass man jetzt gar nicht mehr so stark auswählen kann, welche Fächer darf ich belegen, welche kann ich vielleicht sogar abwählen.
    Also diese Reformen, die man in den 70er-Jahren mit so einer großen Wahlfreiheit geschafft hat, wurden eigentlich mehr oder weniger an der Öffentlichkeit vorbei jetzt wieder zurückgedreht.
    Biesler: Wenn man das jetzt mal auf Ihr Spezialthema bezieht, wird die Ungleichheit größer, ist sie kleiner geworden in den letzten 60 Jahren?
    Helbig: Im Zugang zum Abitur oder zur Studienberechtigung sind die sozialen Ungleichheiten eher kleiner geworden, allerdings, wenn es dann zum Übergang zum Studium halt hingeht, ist die Schere an dieser Stelle wieder größer geworden. Das heißt, wenn man dann zum Beispiel sich anschaut, wie die soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft sich verändert hat, dann ist da relativ wenig Bewegung drin, weil das, was man im Schulsystem erreicht hat, reißt man dann quasi im Hochschulsystem wieder ein Stück weit ein.
    Biesler: Ist das eigentlich ein Problem? Ich hab ja vorhin gesagt, die Bildungspolitik ist eigentlich immer was, wo sich die Landesregierungen auch versuchen dran zu profilieren. Ist das ein Problem für die Schulen, für das Schulsystem, dass es häufigen Wandel gibt?
    Helbig: Das Schlimme ist, man weiß es halt nicht so ganz genau. Wir haben einfach viele, viele Punkte, die ideologisch in die ein oder andere politische Richtung zu rücken sind, also wie zum Beispiel Kartierung von Gesamtschulen, längeres gemeinsames Lernen und dergleichen. Und solange ich das nicht weiß, ist es ziemlich blind im Nebel rumstochern, was die Schulpolitik halt angeht. Und das große Problem dabei ist, dass die Bundesländer bisher systematisch verhindert haben, überhaupt Forschungen dazu durchzuführen.
    Es gibt zwar diese bundesländer-vergleichenden Analysen, die PISA-Ergänzungsstudie und heute Ländervergleich vom IQB.
    Das Problem ist, der Forscher, der sich wirklich dafür interessiert, welche Effekte zum Beispiel Schulpolitik eben hat und die Reformen von Schulpolitik, der darf diese Datensätze überhaupt nicht anfassen, also es ist ihm verboten, nach Bundesländern das Ganze auszuwerten. Da ist zwar ein bisschen Bewegung momentan drin, dass man da auch von Bundesländerseite ein bisschen die Opportunitätsfenster halt öffnet, aber da sind immer noch extrem hohe Hürden, die an einen Bundesländervergleiche überhaupt angestellt ((gestellt?)) werden.
    "Man könnte rausfinden, dass das Ergebnis einfach nicht das ist, was man erwartet hat"
    Biesler: Klingt, als würde man nicht unbedingt wollen in der Bildungspolitik, dass man überprüft, ob das, was man tut, Sinn hat, Hand und Fuß.
    Helbig: Eben, ja, genau. Man könnte ja im Endeffekt nachweisen, dass irgendwas, was man mehr aus ideologischen als aus pädagogischen Gründen halt eingeführt hat oder aus Gründen sozialer Ungleichheit zu nivellieren. Man könnte halt rausfinden, dass das Ergebnis einfach nicht dann das ist, was man so erwartet hat. Und wenn das nachgewiesen werden würde, kämen auch Landesregierungen unter Druck und würden in ihrer Handlungsfreiheit dann einfach beschnitten werden.
    Biesler: Der Wandel der Schulsysteme in den deutschen Bundesländern seit 1949 – Marcel Helbig hat ihn erforscht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.