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Wanderarbeiter
Ausgebeutet und ausgegrenzt

Wanderarbeiter gab es bereits im Mittelalter. Da zogen sie als Handwerker übers Land. Später kamen Gastarbeiter, heute heißen sie "mobile Arbeitnehmer". Eines haben sie in der Geschichte gemein: Schon immer wurden sie Opfer von Ausbeutung und Ausgrenzung. Wissenschaftler erklären die Hintergründe.

Von Ursula Storost |
    Im Eingangsbereich der Hinz-und-Kuntz-Zentrale rattert die Geldzählmaschine. Gegen Bezahlung erhalten die meist obdachlosen Verkäuferinnen und Verkäufer des Hamburger Straßenmagazins hier ihre Zeitungen. Manche von ihnen sind Wanderarbeiter aus Osteuropa.
    Birgit Müller, Chefredakteurin der Zeitschrift, sitzt ein paar Räume weiter an ihrem Schreibtisch. Sie kennt viele Wanderarbeiter, die ganz legal in Deutschland leben und arbeiten wollen.
    "Viele haben auf dem Bau gearbeitet. Oder in der Reinigungswirtschaft oder in Jobs, die sozusagen eh' schon mit Dumpinglöhnen zu tun haben. Und das Schlimme war, die wurden teilweise für ihre Arbeit nicht bezahlt."
    Diese Menschen, so Birgit Müller, werden nicht nur miserabel bezahlt oder ganz um ihren Lohn gebracht. Sie stoßen hier auch auf ein System der Ausbeutung,
    "Es gibt eine wahnsinnige Wohnungsnot. Die bekommen teilweise Zimmer zu horrenden Preisen. Schlafen dann da zu sechs, sieben Leuten in einem Zimmer, müssen ein irrsinniges Geld bezahlen, dürfen sich nur einmal in der Woche duschen oder sonst was. Da gibt’s unglaubliche Geschichten."
    Leicht hatten es die Menschen nie
    Im Mittelalter waren es vor allem Handwerker, die übers Land zogen, um Arbeit zu finden, sagt der Historiker Stefan Rahner vom Hamburger Museum der Arbeit, der eine Ausstellung zum Thema kuratiert hat. Später waren es oft Ungelernte, die als Wanderarbeiter ihr Glück suchten. Leicht hatten diese Menschen es nie.
    "Vor zwei-, dreihundert Jahren sind schon aus ländlichen Regionen ganze Gruppen, Bewohner von ganzen Dörfern losgezogen, um zum Beispiel in Holland als Grasmäher bei der Heuernte zu helfen oder als Erntehelfer. Oder im Lippischen gab es Wanderziegler, die losgezogen sind, um sich als Ziegeleiarbeiter zu verdingen. Oder auch die bekannten Schwabenkinder oder Tiroler Hütejungen, die sich woanders verdingen mussten, weil bei ihnen vor Ort nicht genug Arbeit war, um ihr Leben zu fristen."
    Natürlich gab es in der Geschichte auch hoch qualifizierte Menschen, die fernab ihrer Heimat Arbeit suchten. Um andere Länder kennenzulernen, sich weiterzubilden, neue Erfahrungen zu machen, erzählt Stefan Rahner. Aber die allermeisten Wanderarbeiter waren schon immer auf der Suche nach einem minimalen Auskommen. Und deshalb waren und sind sie leicht ausbeutbar.
    "Es gibt in Deutschland drei- bis vierhunderttausend Erntehelfer, die jedes Jahr in der deutschen Landwirtschaft arbeiten und vor allem aus Osteuropa kommen. Das beginnt im April mit der Spargelernte und endet im Herbst mit der Weinlese. Es ist also eine richtige Saisonarbeit und ist meistens organisiert, dass sie in Baracken, auf den Höfen wohnen oder in Bauwagen auf den Feldern sogar. Sieben Tage die Woche arbeiten zum Stundenlohn von vier bis fünf Euro in der Regel."
    Reguläre Arbeitsverträge bei Gastarbeitern
    In den 1950er-Jahren, so Stefan Rahner, als die ersten Gastarbeiter angeworben wurden, gab es solche Arbeitsbedingungen nicht.
    "Also die haben ganz normaler Verträge bekommen, sind regulär bezahlt worden, die Sozialversicherung war geregelt, die Rentenversicherungsbeiträge bezahlt usw. Dass die Leute oft an schlechten, gefährlichen Arbeitsorten eingesetzt wurden, das ist das Eine. Aber rein rechtlich bekamen sie ganz reguläre Arbeitsverträge."
    55 türkische Gastarbeiter kommen am 27.11.1961 auf dem Flughafen in Düsseldorf an.
    Ankunft von türkischen Gastarbeitern 1961 in Düsseldorf. (picture alliance / dpa /Wolfgang Hub)
    Reguläre Arbeitsverträge erhielten auch die Menschen, die im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung in die aufblühenden Städte zogen. Zum Beispiel ins Ruhrgebiet. Hier, so der Hamburger Historiker und Buchautor Dr. Lars Amenda, brauchte man Arbeitskräfte für die neu entstandene Kohle- und Stahlindustrie. Viele Deutsche aus polnischsprachigen Gebieten, sogenannte Ruhrpolen, wanderten ein. Sie kamen mit der Vorstellung, ein paar Jahre hier zu arbeiten und mit, dank guter Löhne, üppig Gespartem wieder zurückzugehen.
    "Also nach dem Prinzip, dass da ein großer Bedarf herrschte, dort sie dann angelockt wurden. Manchmal auch mit Wohnungen, dass dann Unternehmen gesagt haben, ihr könnt hier gleich in den Werkswohnungen unterkommen, ihr müsst euch darum nicht kümmern. Das gab es durchaus nicht selten. Nichtsdestotrotz war das natürlich doch körperlich sehr anstrengende Arbeit als Stahlarbeiter oder als Bergmann."
    Alltagsrassismus: Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg
    Obwohl reichlich Arbeit vorhanden war, entwickelten die Alteingesessenen eine Abneigung gegenüber den Wanderarbeitern, sagt Lars Amenda.
    "Dass es wirklich da auch Alltagsrassismus gab, der insofern oftmals verstärkt worden ist in dem Fall, wenn sich ausländische Arbeiter auch konzentrieren in einem bestimmten Stadtviertel. Und das war ja oftmals schon so vorgegeben, weil diese Werkskolonien bei den Industrieanlagen direkt benachbart lagen, was wiederum für die deutschen Arbeiter das noch mal deutlicher gemacht hat, jetzt sind ausländische Arbeiter bei uns hier vor Ort. Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg."
    Ressentiments, die manchem Arbeitgeber durchaus gefielen. Denn eine Spaltung der Arbeiterschaft, so der Historiker, konnte dem Unternehmen nur nützen.
    "Wir dürfen nicht vergessen, die Industrie boomt. Aber es entsteht auch eine politische Arbeiterschaft, die durchaus auch ein politisches Bewusstsein entwickelt. Ende des 19. Jahrhunderts. Die Sozialdemokratie wird ein wichtiger Faktor."
    Ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Bedingungen für deutsche Arbeiter auf der einen und Wanderarbeiter auf der anderen Seite waren, findet man in der Seefahrt. Seit dem Siegeszug der Dampfschiffe im 19. Jahrhundert gab es dort immer mehr ausländische Arbeitskräfte, sagt Lars Amenda. Denn:
    "Die Schifffahrt war gewissermaßen staatlich nicht geschützt, sondern war so ein ganz spezieller Bereich durch die internationale Ausrichtung, dass es dort auch keine Tarife in dem Sinne gab und das war ein ganz großer Faktor für die Anwerbung ausländischer Seeleute in der deutschen Schifffahrt. Also seit dem späten 19. Jahrhundert, weil die eben auch geringere Heuern, teilweise nur ein Drittel der Heuern bezahlt bekommen haben als deutsche Seeleute."
    Handelsmarine: Zehn Prozent Ausländer
    Auch Sozialabgaben, die seit Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden, mussten die Unternehmen für ausländische Arbeiter nicht bezahlen. Das machte die Ausländer zusätzlich interessant. Besonders für die neuen Berufe Heizer und Kohlenzieher.
    "Für diese Tätigkeiten sind sehr oft ausländische Arbeiter beschäftigt worden. Insbesondere auch chinesische Seeleute und indische Seeleute. Da war der heute etwas krude wirkende Gedanke dahinter, die kommen ja aus warmen, tropischen, subtropischen Regionen, deshalb müssen die ja diesen enorm hohen Temperaturen vor den Kesseln, die wirklich sehr hohe Temperaturen erreichten, besser gewachsen sein."
    In asiatischen Häfen, vor allem in Hongkong wurden von der deutschen Handelsmarine tausende chinesische und indische Seeleute angeworben.
    "Um 1900 waren insgesamt 50.000 Personen in der deutschen Handelsmarine beschäftigt und davon ungefähr 5.000 sogenannte farbige Seeleute. Also dazu zählten Inder, Chinesen und auch eine kleine Gruppe von Afrikanern."
    Diesen farbigen Seeleuten schlug Abneigung entgegen, berichtet Lars Amenda. Während der monatelangen Fahrten waren sie isoliert und hatten kaum Kontakt mit den deutschen Kollegen. Die diffamierten insbesondere die chinesischen Arbeiter als Kulis. Und:
    "Da gab es dann Vorwürfe, den Chinesen, denen bräuchte man nur ein paar Würmer hinzustellen. Damit seien sie schon zufrieden. Also daran sieht man schon, dass die Vorstellung bei einigen Arbeitern existierte, dass es keine vollwertigen Menschen seien."
    Wanderarbeiter haben sich schon immer vernetzt
    Ob Deutsche auf der Suche nach einem besseren Leben nach Amerika auswanderten oder ob Polen ins Ruhrgebiet kamen, immer schon gab es persönliche Netzwerke von Wanderarbeitern, sagt Lars Amenda,
    "Die oftmals so aussahen, dass ein Pionier als Erster sich aufmachte, der dann berichten konnte, ich arbeite hier bei dem Unternehmen soundso. Die Situation ist sehr gut, was dann auch dazu geführt hat, dass andere, weitere Verwandte ihm nachfolgen und eine Art von Kettenmigration entstand."
    Das ist bis heute so geblieben, weiß auch Rüdiger Winter. Der Politikwissenschaftler leitet in Hamburg eine gewerkschaftliche Beratungsstelle für mobile europäische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie es im Amtsdeutsch heißt. Seit 20 Monaten existiert das Projekt. Inzwischen wurden 377 Gerichtsverfahren wegen ungerechtfertigter Kündigung, falsch abgerechnetem oder nicht gezahltem Lohn eingeleitet. Nur die oberste Spitze des Eisbergs, sagt Rüdiger Winter. Aber statt sich über solche betrügerischen Machenschaften von Unternehmen aufzuregen, werden die Wanderarbeiter als Sozialtouristen diffamiert.
    "Das ist eine Polemik auf Kosten der Arbeitsmigranten, die nicht auf Fakten beruht. Es gibt verschiedene Studien, die eindeutig belegen, die meisten, die hierher kommen, über 90 Prozent, arbeiten hier, sie verdienen ihr Geld selber."
    "Gesellschaft darf Ausbeutung nicht dulden"
    Selbst nachdem für Rumänen und Bulgaren seit dem 1. Januar 2014 die Arbeitsbeschränkungen gefallen sind, ist es immer noch Usus, dass die Unternehmen lieber Scheinselbständige beschäftigen.
    "Die müssten ja jetzt bereit sein, die Arbeitsverhältnisse der Scheinselbstständigkeit umzuwandeln in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Das heißt, die Arbeitgeber müssten ihren Anteil zur Sozialversicherung leisten. Bisher haben sie sehr viel Geld eingespart."
    Am Busbahnhof der bulgarischen Hauptstadt Sofia besteigen am 1. Januar 2014 Leute einen Bus nach London über Deutschland und Frankreich.
    Rumänen vor einem Bus nach Deutschland: Seit 1.1. 2014 gilt in der EU Arbeitnehmerfreizügigkeit (AFP PHOTO / NIKOLAY DOYCHINOV)
    Auch so ein Verhalten, das in das System der Ausbeutung passt, resümiert Birgit Müller vom Straßenmagazin Hinz und Kuntz.
    "Es gibt eine Subkultur, da schlackern einem nur die Ohren. Und wenn wir das nicht bald in den Griff bekommen, wenn wir nicht bald den Leuten helfen, die hier sein wollen und hier arbeiten wollen, dann wird das auch zurückschlagen auf unsere Gesellschaft. Man kann das nicht dulden, dass es ein Ausbeutungssystem von oben nach unten gibt. Das kann man in einer Gesellschaft wie der unseren einfach nicht dulden."
    Im Hamburger Museum der Arbeit ist noch bis 2. März eine Fotoausstellung zur Situation der Wanderarbeiter weltweit zu sehen. Am 10. und 17. Februar gibt es dort außerdem noch begleitende Vorträge über die Situation von Wanderarbeitern aus Moldawien und die Arbeitsbedingungen von Saisonarbeitern.