Mitten auf der sonnigen Piazza von Amalfi nehme ich ein Bad in der Menschenmenge. Hier tobt das Leben. Kaum ein Stuhl in den unzähligen Cafés ist noch frei. Touristen aller Nationalitäten lassen sich auf den Stufen zur Kathedrale fotografieren. So viele Menschen! Dabei hat die Saison doch gar nicht begonnen, denke ich. Vielleicht hofften viele so wie ich, dass noch kaum jemand Urlaub hat, dass die Wanderwege an der Amalfiküste verlassen sind. Weit gefehlt. Hier ist wahrscheinlich immer Saison. Die Landschaft ist zu jeder Jahreszeit beeindruckend und berührend. Schroff und schön zugleich. Im Bus auf dem Weg von Neapel hierher wurde mir allerdings schummrig. Wer nicht höhentauglich ist, sollte nicht an die Amalfiküste fahren. Haarscharf am Rande der Straßen fallen die Klippen steil hinab ins Meer. Auf der anderen Seite ragen Bergwände steil hinauf zu unzähligen Terrassen und Hügeln.
Amalfi war berühmt für sein gutes Papier
Bevor ich den Bus nach Minori nehme - mein eigentliches Ziel - betrete ich in eine Gasse hinter der Paizza von Amalfi, gehe ein paar Treppen hoch und komme auf einen bequemen Weg in die Schlucht hinter Amalfi. Irgendwann sehe ich das Meer gar nicht mehr. Nur kühles Grün und das sanfte Plätschern eines Baches. Der Weg heißt Mühlenweg und tatsächlich, weit hinten in der Schlucht, stehen die Ruinen einer ehemaligen Papiermühle. Amalfi war berühmt für sein gutes Papier und wurde mit dem Export dieser wertvollen Schreibunterlage in alle Welt reich. Eine Wohltat, dieser ruhige Weg in die eingeschnittene Schlucht des Küstenstreifens. Aber ich kehre um, mein Bus nach Minori wartet.
Zitronen blühen vier Mal im Jahr
Weit weniger touristisch zeigt sich mir Minori, nur ein paar Kilometer südlich von Amalfi. Übersetzt heißt Minori "das Kleinere". Im Tal nebenan liegt der Ort Maiori, übersetzt "der Größere". Ich will den Zitronenweg von Minori nach Maiori wandern. Das ist für den Anfang eine überschaubare Strecke. Doch so einfach ist es nicht. Ich muss zunächst 500 Treppenstufen hinter dem Stadtplatz Minoris die Hügel hinaufklettern, bis oben der Zitronenweg beginnt. Ich hole Atem, bewundere die Aussicht und treffe Salvatore Aceto. Er ist Zitronenbauer, erzählt er. Ich steige mit ihm auf die Terrasse, auf der seine Zitronenbäume stehen. Die Bäumchen sind an Gerüsten festgebunden, sie sind nur etwa zwei Meter hoch und tragen dunkelgrüne, ledrige Blätter. Cremeweiß sind die kleinen, süß duftende Blüten. Ich wusste nicht, dass Zitronen vier Mal im Jahr blühen. Und vier Mal im Jahr erntet Salvatore. Auf den Bäumchen liegen dunkle Netze.
"Das hier ist eine der größten Zitronenplantagen der Amalfiküste, sie gehört der Familie Aceto. Unsere liegt hier in Minori und Maiori. Dann hat noch ein Onkel, er heißt Luigi, eine Zitronenplantage bei Amalfi."
Salvatore gibt seinen Gehilfen, die auf Leitern an den Bäumen arbeiten, Anweisungen. Er schöpft ein Bündel Weidenruten aus einem Topf mit Wasser, das über Holzfeuer kocht. Jetzt sind die Ruten biegsam. Damit bindet er die austreibenden Äste der Zitronenbäume an Holzgerüsten aus Kastanienholz fest. Über dem Blätterdach liegen Netze, die gegen Hagel und gegen zu viel Sonne helfen. Die Netze machen viel Arbeit, aber an der Amalfiküste kann es auch mal kühl werden, sagt Salvatore.
"Schauen Sie, die oberen Äste ziehen wir herunter und binden sie am Spalier fest und darüber kommt das Netz. Die Äste bleiben unter dem Netz. Wenn der Hagel direkt auf die Zitrone schlägt, bekommt sie hässliche Stellen und ist nicht mehr verkäuflich."
Keine Villen und keine Boutiquen
Es hagelt nur wenige Male im Jahr, trotzdem muss er die Zitronen schützen. Ich schaue zwischen den Zweigen hinunter nach Minori. Es ist ein einfaches Dorf, ohne Villen und Boutiquen. Eine Kirchturmuhr schlägt. Beim Blick auf das Meer zieht sich meine Kehle zusammen. Jetzt verstehe ich Goethe, wenn er in seinem Gedicht sagt, dass er dahin einmal mit seiner Liebe ziehen möchte, dahin, wo ein sanfter Wind vom Himmel weht, und wo die Zitronen stehen ...
"Das ist viel Arbeit. Hier ist es nicht wie in Sizilien. Die haben nicht so viel Arbeit mit ihren Zitronenbäumen, die sie auf offenen Feldern anbauen. Ohne Netze, ohne nichts."
Die Amalfizitrone ist ein eingetragenes regionales Produkt und durch die EU geschützt. Ohne die Sonne, die salzige und jodhaltige Luft, hätte sie niemals ihren typischen milden Geschmack, sagt Salvatore. Auf einem Weg weiter unten tauchen Mulis auf, sie sind beladen mit Holz.
"Mulis tragen die Äste für unsere Spaliere hinauf und nach der Ernte die Zitronen hinunter. Mulis sind unser Transportmittel. Wir brauchen nur vier oder fünf Mulis, sie bringen alles zur Plantage."
Endlich mache ich mich auf meine Wanderung. Nur zwei Kilometer trennen Minori und Maiori, trotzdem liegen die beiden Orte nicht in Sichtweite. Ein hoher Berg verstellt den Blick. Mein Blick geht immer wieder hinunter zum Meer. Ich komme an einem kleinen Schloss vorbei. Unter mir ein paar Höfe. Überall Terrassen, sorgfältig aufgeschichtete Steine bilden die Mauern. Überall blühende Zweige, duftende Zitronenbäume, pinkrosa Bougainvilleas, zwischen den Steinen gelber Klee. Ich bin froh, dass ich hier nur wenig Treppen zu bewältigen habe. Jetzt führt der Weg um den Berg herum.
Längster Strand der ganzen Amalfiküste
Ich erhasche einen ersten Blick auf Maiori. Vor mir, fast auf meiner Höhe sehe ich die Kirchenkuppel Maioris. Wie eine umgedrehte breite getöpferte Schale, liegt die Hauptkuppel vor mir. Sie ist mit gelben und grünen Kacheln belegt, das ein Rautenmuster bildet. Maiori wirkt ganz anders als Minori. Vor langer Zeit, an einem Regentag im Winter, lese ich im Reisebuch, schwoll der Fluss, der durch Maiori fließt, so stark an, dass er Brücken und Häuser mit sich nahm. Danach wurde die Stadt wieder aufgebaut. Doch waren es mehrstöckige Wohnhäuser, quadratisch, praktisch, mit verglasten Balkonen. Mein Weg geht viele steile Treppen hinunter. Unten in der Fußgängerzone eine Bäckerei, ein Spielzeugladen, ein Gemüseladen, ein Souvenirladen. Ein mit Blumen bepflanzter Kanal zieht sich hinunter zum Strand. Diese Innenstadt ist unspektakulär, denke ich, und gehe zum Meer. Ich setze mich an den längsten Strand der ganzen Amalfiküste und halte mein Gesicht in die warme Sonne.
Ich liege am Strand, schaue hoch in die Berge und bekomme einen Schreck. Da oben bin ich entlang gegangen? Und noch viel höher führen die Wege. Manchmal schneit es im Winter da oben.
Hausgemachter Limoncello
Ich laufe auf der stark befahrenen, engen Straße unten an der Promenade zurück nach Minori. Das dauert nur zwanzig Minuten und ist nicht halb so schön wie oben der Zitronenweg. Aber ich habe noch ein Ziel im Zentrum von Minori. In der Nähe der Kathedrale liegt eine kleine Familienmanufaktur. Der Besitzer Carlos Mansi erklärt mir die Herstellung des Zitronenlikörs, eine Spezialität aus der Amalfiregion.
"Wir beziehen die Zitronen aus der Umgebung. Aber wir nehmen sie, wenn sie noch grün sind. Die grünen sind besser als die gelben, sie haben viele mehr Aroma. Wir waschen sie und schälen sie mit einem speziellen Schälmesser, das Credo heißt. Das schält nur eine hauchdünne Schicht der Schale ab. Den Rest der Frucht benutzen wir nicht. Wenn wir die Schalen haben, legen wir sie zwei Tage lang in 96-prozentigen Alkohol."
Flink schält Carlos Mansi ein paar Schalen von einer grünen Zitrone und wirft sie in ein bauchiges Glasgefäß, wo sie zwei Tage ziehen. Der Rest der Frucht kommt in den Müll.
"Die Früchte haben uns ihr Aroma geschenkt. Wir stellen einen Sirup aus Zucker und Wasser her, erhitzen ihn, und geben ihn, wenn er abgekühlt ist, zum Alkohol, den die Zitronenschalen schon grün gefärbt haben. So also entsteht der Limoncello. Ganz einfach, ohne Filtrierung, ohne Farbstoffe, ohne Konservierungsmittel, alles natürlich."
Von Hand geschält
Zwei bis vier Tage lang wird das Gemisch in einem Rührgefäß langsam gerührt, sagt Mansi. Das ist alles.
"Leider wird der Limoncello auch in anderen Regionen hergestellt, aber das ist nicht der echte von der Amalfiküste. Sie müssen ja nur das Etikett lesen. Wenn darauf steht Herkunft Rom, dann sind es nicht unsere Zitronen. Dann wurden sie nicht von Hand geschält, sondern maschinell."
Früher gab es an der Amalfiküste nur hausgemachten Limoncello. Erst seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts wird er in kleinen Manufakturen produziert. Mansi stellt etwa 30.000 Liter pro Jahr her. Davon können er und seine Familie leben. Natürlich macht auch der Zitronenbauer Salvatore seinen eigenen Limoncello. Manchmal sing Salvatore auf seiner Zitronenterrasse ein Lied:
"Den Limoncello machen wir nur für uns, für die Familie, für unsere Gäste unserer Betriebe. Wir stellen nur kleine Mengen her, vielleicht zehn oder zwölf Flaschen. Für ihre Familien machen hier fast alle ihren eigenen Limoncello, denn fast alle haben ein paar Zitronenbäume im Garten stehen. Wir trinken den Likör im Winter, zu den Festtagen, zu Weihnachten. Oder auch zu Ostern."