So weit die Versuchsanordnung von Højholts Roman oder Roman-Essay. Seiner Idee haftet etwas Humoristisches an und zugleich etwas Enzklopädisches, auch etwas vom "Spleen" der großen englischen Autoren des 18. Jahrhunderts, von Sterne und Swift; doch auch der Geist von Flauberts Bouvard und Pécuchet ist nicht weit, und ebensowenig der von Carrolls Alice im Wunderland . Nicht das Erzählen einer Handlung ist folglich Højholts Maxime, sondern der fabulierende und spielerisch theoretisierende Ausbau seiner Grundidee. "Die Stille 1915" heißt sein erstes Kapitel, worin er von den seltsamen Wanderungen der stets in Scharen auftretenden Ohren kreuz und quer durch Europa und die USA berichtet. "Museum des Zufalls" ist das zweite Kapitel betitelt, in dem die beiden Haupt-Leidenschaften der Ohren zur Sprache gebracht werden. Neben einem überbordenden Sexualtrieb ist es vor allem die Liebe zur Kunst und zur Literatur, die die Ohren umtreibt und sie Bekanntschaft mit Männern wie Kafka, Satie, Joyce und anderen schließen läßt. Die folgenschwerste Liaison gehen die Ohren freilich mit Marcel Duchamp ein, dem Protagonisten des dritten Kapitels.
Ein Künstlerleben lang, von seinem berühmten Urinoir bis zu der schweigsamen Aleatorik der späten New Yorker Tableaus werden die Ohren Duchamp begleiten. Die Ohren und die Avantgarde, so ließe sich der Grundgedanke dieses Romans pointiert zusammenfassen, bilden seit ihrer gemeinsamen Geburt um 1915 eine Symbiose. Man darf annehmen, daß Højholt, der selbst ein entschiedener Sachwalter der klassischen Moderne ist, in seinem Roman eben ihr, der Moderne und ihren, seinen Heroen, Joyce, Kafka, Satie und Duchamp ein Denkmal setzen will. Manchmal liest sich sein Roman tatsächlich so, als seien die Ohren nichts weiter als die Statthalter seines eigenen literarischen Programms und Willens, treue Soldaten des Modernismus wie er selbst. Man kann das für eine Schwäche dieses Romans halten: wandernde Ohren mit einem Faible für Kopulation und Typographie, zugleich aber unfähig zur Begattung und zur Kommunikation (und damit auch zum Hören!) taugen als Romanfiguren nur bedingt. Da sie nicht sprechen können, gibt es in diesem Roman nur einen, der spricht und nicht aufhören kann zu sprechen: den Erzähler, den Verwalter all des kuriosen und fiktiven Wissens, das dieser Roman mit nimmermüdem Elan ausbreitet.
Trotzdem: Højholts Kopplung von literarischer Moderne und Ohrenzeugenschaft, seine gleichsam akustische Theorie der Avantgarde, hat etwas Bestechendes. War das akustische Signal am Beginn der Avantgarde der große Knall, so ist das Signal an ihrem Ende das ‚Fading’ und schließlich die Stille. Die Nicht-Musik von John Cage oder Marcel Duchamps Langzeitarbeit am bedeutungsleeren Stilleben können das bezeugen. Wovon also handelt Per Højholts knifflig-komischer Roman-Traktat? Von der Aussaat der Stille in der modernistischen Kunst, bezeugt von niemandem als von lüsternen Ohren, die nicht einmal hören können. Aber wozu auch?
Per Højholt
Auricula. Roman
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Eichborn, 412 S., EUR 27, 50