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Warnung vor Steuersenkungen
"Das Wachstum in Deutschland ist sehr einseitig"

Damit der Wohlstand in Deutschland auch für zukünftige Generationen gesichert werden könne, sei es notwendig, stärker in Bildung, Infrastruktur und bessere öffentliche Einrichtungen zu investieren, sagte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im DLF. Wahlgeschenke in Form von Steuersenkungen lehnte er hingegen ab.

    Porträtbild des Ökonomen Marcel Fratzscher.
    Die Überschüsse durch Steuereinnahmen reichen für alle aus - auch für die Flüchtlinge, so Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), im DLF. (picture alliance / dpa / DIW)
    Oliver Ramme: Ein deutliches Plus bei den Steuereinnahmen, auf der anderen Seite betrübte Stimmung in der deutschen Wirtschaft. Vor der Sendung sprach ich mit Professor Marcel Fratzscher. Er ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung mit Sitz in Berlin. Von Herrn Fratzscher wollte ich zunächst wissen, ob denn bei den trüben Wirtschaftsaussichten überhaupt Steuergeschenke ausgepackt werden sollten.
    Steuersenkungen seien Entscheidungen für die nächsten 20 Jahre
    Marcel Fratzscher: Wir leben in Zeiten, die extrem unsicher sind. Wir haben gerade den Brexit erlebt, einige nehmen das, glaube ich, ein bisschen auf die leichte Schulter und sagen, das werden wir schon irgendwie verkraften, weil wir die wirklichen Auswirkungen noch nicht gesehen haben. Wir haben die italienische Bankenkrise, wir haben viele geopolitische Konflikte in unserer Nachbarschaft. Es gibt so viele Faktoren, die Unsicherheit schaffen. Deshalb sollte man sehr vorsichtig sein, jetzt Entscheidungen zu treffen für die nächsten 20 Jahre, denn das sind die meisten Steuersenkungen. Wenn man sagt, wir senken die Steuern, dann will man ja nicht in zwei Jahren sagen, so, jetzt erhöhen wir sie wieder, weil wir das eigentlich uns gar nicht leisten können. So ein bisschen Weitblick in die Zukunft ist angemessen und das fehlt mir heute in der Debatte in Deutschland.
    Ramme: Schauen wir noch mal auf das Ifo Institut beziehungsweise den Geschäftsklimaindex. Da heißt es ja, dass viele Unternehmen von schrumpfenden Auftragseingängen sprechen, außer der Bauwirtschaft. Wie schlecht ist es denn tatsächlich bestellt um die deutsche Wirtschaft, oder ist das jetzt Jammern auf einem hohen Niveau?
    "Das Wachstum in Deutschland ist sehr einseitig"
    Fratzscher: Der deutschen Wirtschaft geht es gut im Augenblick. Wir haben einen ganz hervorragenden Arbeitsmarkt, eine niedrige Arbeitslosenquote. Die Aufträge sind ordentlich. Aber das Wachstum in Deutschland ist sehr einseitig. Es ist letztlich alleine der Arbeitsmarkt. Die Löhne sind sehr gut, die Arbeitslosenquote ist niedrig, das kurbelt den einheimischen Konsum an. Aber wenn man sich die Investitionen anschaut, dann sind die vom Niveau her sehr gering. Das ist Deutschlands größte Achillesferse, dass die Unternehmen wenig investieren. Das heißt, sie vertrauen wenig in die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, und die Exporte laufen mäßig. Im Augenblick ist das Wachstum sehr, sehr einseitig und das mag nicht ewig anhalten.
    Ramme: Warum diese Zurückhaltung bei den Investitionen?
    Fratzscher: Die Investitionen in Deutschland gehören zu den niedrigsten unter allen Industrieländern: Zum einen, weil der Staat wenig investiert. Die Infrastruktur in Deutschland verfällt. Wir sehen das bei den Brücken, bei den Straßen, bei den Wasserwegen, wir sehen es aber auch bei Einrichtungen, bei Bildungseinrichtungen. Und die Unternehmen sagen auch, uns fehlen zum Teil die Fachkräfte, wir haben regulatorische Unsicherheit, wir wissen gar nicht, wie wir uns auf welche Gesetze einstellen müssen, die Bürokratiebelastung ist hoch.
    Ohne Investitionen keine Produktivität
    Deutsche Unternehmen ziehen es immer mehr vor, im Ausland zu investieren und immer weniger in Deutschland, und letztlich ist das ein großes Problem, denn wenn keine Investitionen kommen, wenn die Unternehmen nicht investieren, dann schaffen sie auch keine Produktivität. Das bedeutet: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden auch in Zukunft keine höheren Löhne erhalten können, wenn die Produktivität nicht wächst. Deutschland als Wirtschaftsstandort wird langfristig an Attraktivität verlieren, wenn es nicht gelingt, diese Investitionsschwäche zu beheben.
    Ramme: Jetzt nehmen wir mal dieses pessimistische Bild, was Sie malen, und schauen uns diese Steuerdebatte an, die wir zurzeit haben. Da werden jetzt Rufe wach, wir sollten aufgrund dieser sprudelnden Einnahmen die Steuern senken. Ist das überhaupt der richtige Schritt aufgrund des Szenarios, das Sie gerade gezeichnet haben?
    Fratzscher: Man kann sicherlich über Steuersenkungen für bestimmte Gruppen, bestimmte Personen nachdenken. Einkommen auf Arbeit in Deutschland wird ungewöhnlich stark besteuert, Einkommen auf Vermögen extrem gering besteuert im internationalen Vergleich. Kaum ein Land besteuert Vermögen weniger als Deutschland. Hier kann man sehr wohl das Argument machen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gerade die mit geringen Einkommen, werden im internationalen Vergleich sehr stark besteuert, die können entlastet werden. Aber wir sollten nicht systematisch über eine Steuersenkung reden, denn das ist letztlich ein Geschenk an Unternehmen, aber auch an Menschen, die sich Deutschland in der jetzigen Lage nicht wirklich leisten kann.
    Denn die schwachen Investitionen bedeuten, dass die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft langfristig gering ist, dass zukünftige Generationen mit weniger guten Jobs auskommen müssen, und deshalb ist es sehr viel sinnvoller, die Gelder, die jetzt zur Verfügung stehen, nicht durch Wahlgeschenke wieder zu verteilen, sondern wirklich in die Zukunft investieren, in Bildung investieren, in eine gute, bessere Infrastruktur, in eine bessere digitale Infrastruktur, bessere öffentliche Einrichtungen. Denn das würde wirklich langfristig Wohlstand sichern, auch für zukünftige Generationen, und deshalb die Prioritäten für mich liegen ganz klar: bessere öffentliche Investitionen in Bildung und Infrastruktur, keine Wahlgeschenke.
    Ramme: Diese 18,5 Milliarden, die das Statistische Bundesamt da errechnet hat, wenn man die investieren würde, das wäre aber dann doch auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Müsste da eine Generalstrategie entwickelt werden?
    "Niemand in Deutschland muss den Gürtel enger schnallen"
    Fratzscher: Mit 18,5 Milliarden Euro - und das ist ja nur das erste Halbjahr - könnten Bund, Länder und Kommunen extrem viel bewerkstelligen. Bei der Verkehrsinfrastruktur fehlen in Deutschland knapp sieben bis acht Milliarden Euro pro Jahr. Das Problem könnte man damit durchaus lösen. In der Bildung fehlen viele Milliarden Euro; auch hier könnte man eine Menge mit 18 Milliarden bewerkstelligen.
    Die Überschüsse sind da und die reichen völlig aus, um diese Herausforderungen und die Kosten zu decken, genauso wie für die Flüchtlinge. Auch da ist genug Geld dafür da, da muss niemand in Deutschland den Gürtel enger schnallen, und das sollte die Politik kommunizieren. Wir müssen hier keinen Verteilungskampf eingehen. Nur was vermieden werden sollte, sind Steuersenkungen oder irgendwelche anderen Wahlgeschenke, die dann die Politik in zwei, drei Jahren zurücknehmen muss, weil sie realisiert, sie kann sich das gar nicht leisten.
    Ramme: Woher kommen denn diese sprudelnden Steuereinnahmen? Der FDP-Chef Lindner sagte heute, die seien lediglich der brummenden Wirtschaft und niedrigen Zinsen geschuldet. Hat er denn recht?
    Fratzscher: Die gute Lage für den Staat, für den Finanzminister Schäuble ist sicherlich weniger das Resultat einer guten Politik, sondern vielmehr das Resultat von sehr viel Glück. Der deutsche Staat spart jedes Jahr 45 Milliarden Euro an Zinsausgaben, wenn man das Zinsniveau von vor der Finanzkrise berechnen würde. Sagen wir mal, 45 Milliarden Euro müsste der Staat aufbringen; dann würde man sehr schnell sehen: Dann hätten wir keinen Überschuss in Deutschland von 18 oder 20 Milliarden Euro im Jahr, sondern deutliche Defizite.
    Und das zeigt: Die Zinsen werden langfristig werden wieder steigen. Das dauert natürlich eine Zeit, aber langfristig kann sich der Staat es gar nicht leisten, jetzt Ausgaben zu tätigen, oder großartige Steuersenkungen zu machen, sondern sollte sich sehr wohl überlegen, wie kann er wirklich die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessern, wie kann er gerade auch kleine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten, damit die auch einen stärkeren Beitrag zur Wirtschaft überhaupt leisten können und nicht so stark besteuert werden. Da sollten die Prioritäten liegen, nicht jetzt weitere Steuergeschenke oder Wahlgeschenke zu verteilen.
    Ramme: Sie plädieren ganz klar für Investitionen. Nun würden Sie aber auch dafür plädieren, obwohl das gar nicht en vogue ist, mal endlich unseren gigantischen Schuldenberg abzubauen mit über 2.000 Milliarden. Oder ist das gar nicht spruchreif zurzeit, weil wie Sie schon sagten die Zinsen so niedrig sind?
    Fratzscher: Der deutsche Staat muss ja keine neuen Schulden aufnehmen. Die schwarze Null kann ja stehen.
    Ramme: Aber er könnte ja mal die alten Schulden zurückzahlen.
    "Wohlstand in Deutschland für zukünftige Generationen sichern"
    Fratzscher: Ja. Die Frage ist ja immer, was steht denn diesen Schulden gegenüber, und im Augenblick ist das viel zu enge Denken, wir müssen Schulden zurückzahlen, und vergessen, dass die Vermögenswerte, die öffentlichen Vermögenswerte verfallen. Bereits heute lebt der deutsche Staat über seine Verhältnisse, weil wir immer nur auf die Schulden schauen, also das, was der Staat an Verpflichtungen hat.
    Wir vergessen die Vermögenswerte: der Wert der öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, wie andere Verwaltungsgebäude, wie Straßen und Brücken. Die verfallen nämlich deutlich stärker als das, was wir an Schulden zurückzahlen. Auch heute lebt der Staat eigentlich über seine Verhältnisse und anstelle jetzt zu sagen, okay, jetzt wollen wir entweder Schulden senken, das ist sicherlich notwendig langfristig, aber es besteht kein Widerspruch darin zu sagen, wir wollen Schulden abbauen und gleichzeitig öffentliche Investitionen in Bildung und Infrastruktur erhöhen.
    Ramme: Wie können Sie unser Gespräch zusammenfassen in wenigen Sätzen, in wenigen Sekunden?
    Fratzscher: Die Politik sollte die sprudelnden Steuereinnahmen als Chance verstehen, die Chance, endlich das was in den vergangenen 10, 15 Jahren vergessen wurde aufzuholen, öffentliche Investitionen in Bildung und Infrastruktur stärken. Sie sollte den Blick nicht nur auf die nächsten vier Jahre und auf den nächsten Wahlzyklus stellen, sondern sie sollte langfristig denken, wo der Wohlstand in Deutschland auch für zukünftige Generationen gesichert werden kann, und auch das erfordert kluge Investitionen in Bildung und Infrastruktur, keine Wahlgeschenke. Leider ist die Versuchung für die Politik im Augenblick sehr groß, sich Stimmen zu erkaufen, und ich hoffe, dass die Bürger und Bürgerinnen da durchblicken und wirklich den Wert auf diese langfristige Perspektive legen.
    Ramme: Professor Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung war das.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.