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"Warschauer Politikern fehlt es an Visionen"

Auf Praga stehen viele Produktionshallen aus dem 19. Jahrhundert. Doch die Schornsteine rauchen nicht mehr. In den postindustriellen Anlagen wird jetzt Kultur gemacht. Der Vordenker der Revitalisierung auf Praga ist Wojciech Trzciński mit seiner "Fabryka Trzciny".

Wojciech Trzcinski im Gespräch mit Adalbert Siniawski |
    Adalbert Siniawski: Wojciech Trzciński, wenn Sie sich zurückerinnern: Wie sind Sie auf die verrückte Idee gekommen, ein Kulturzentrum auf der anderen Weichselseite, auf Praga, weit weg von der Innenstadt zu eröffnen?

    Wojciech Trzciński: Ich wollte zu einem alten Vorbild der 60er- und 70er-Jahre im Polen zurückkehren: den studentischen Kulturzentren, die an vielen Hochschulen eröffnet wurden. In diesen Klubs entstand förmlich die polnische Kultur der Nachkriegszeit: ausgezeichnete Studententheater, anspruchsvolle Musik, Kunst-Happenings und so weiter. Ich saß dort oft im Publikum. Später war ich aktives Mitglied und habe Theaterstücke und Liederabende veranstaltet. Nach Jahren des Vergessens wollte ich zu diesen Ursprüngen zurückkehren und etwas Ähnliches auf die Beine stellen.

    Siniawski: Aber warum ausgerechnet auf Praga? Ein Grund war sicherlich der niedrige Preis für das ehemalige Fabrikgelände.

    Trzciński: Nein, nein, denn das war gar nicht so günstig. Vielmehr hat mich als Architekturliebhaber ein Objekt interessiert, das man revitalisieren kann. Mich interessierte ein Altbau, ein postindustrielles Gebäude. So etwas gibt es in Warschau nur im Stadtteil Wola oder eben auf Praga. Es lohnte sich also, den Blick hierhin zu werfen, denn dieses Viertel versprach, sich zu entwickeln. Außerdem entstehen solche Kulturzentren nie in den Innenstädten. Nehmen Sie das Beispiel New York mit den berühmten Lofts von Warhol und Co., in der Gegend gab es alte Schlachthöfe und Fabriken. Ich denke, wenn man dem Publikum ein interessantes Angebot macht, dann ist es nicht wichtig, in welchem Teil der Stadt dies geschieht.

    Siniawski: Dank ihrer Kulturfabrik haben die Künstler, Stars und Anwohner Warschaus ihren Blick auf Praga gerichtet. Wie kann die Kultur die Identität eines Viertels verändern?

    Trzciński: Anfangs, als meine Bekannten mit dem Taxi zu mir kommen wollten, um sich das Vorhaben ihres alten Freundes anzuschauen, haben ihnen die Taxifahrer die Fahrt nach Praga verweigert. Auf diese Seite fahren wir nicht! Manche sagten mir: Okay Wojtek, du baust eine Kulturfabrik auf, renovierst alles, aber: Wer, glaubst du, soll hierher kommen? Dieser Ort hat doch so einen schlechten Ruf! Ich sagte: Hört mal, alles hängt davon ab, was ich hier präsentieren werde. Ich wusste genau: Mein kulturelles Angebot muss besser sein, als das im Zentrum Warschaus. Und als die ersten Konzerte und so weiter stattfanden, hat sich hier ein feines, elegantes und besonderes Publikum versammelt. Das wiederum weckte das Interesse der anliegenden Bewohner. Jeden Abend legten sie sich Kopfkissen in die Fenster und guckten zu, wie diese schillernden Persönlichkeiten vorfahren. Das war für die ein Spektakel! Sie haben sich wertgeschätzt gefühlt. Sie haben gesehen, dass sie nicht an den Rand gedrängt werden, sondern dass Warschau zu ihnen kommt. Und die Besucher wiederum haben sich auf Praga umgeschaut und das Außergewöhnliche dieses Stadtteils wahrgenommen. Dank der kulturellen Aktivitäten der Fabrik ist das Quartier ordentlicher, sauberer und ruhiger geworden. Das sind die positiven Effekte, die die Stadt von den Kulturmachern erhalten hat, die hier ihr Mekka geschaffen haben.

    Siniawski: Allerdings kann sich der durchschnittliche Bewohner ein Ticket zum Beispiel für ein Konzert bei Ihnen von 60 Złoty, also umgerechnet 15 Euro, nicht leisten. Sie können aus dem Fenster gucken, aber die Kultur erreicht sie nicht.

    Trzciński: Wissen Sie, ich bin kein Philanthrop. Ich bin kein ehrenamtlicher Helfer. Ich bin ein Kulturmensch, ein Produzent. Ich habe mit meinem eigenen Geld viel für diesen Winkel Warschaus getan. Warum kostet das Ticket 60 Zloty? In diesem Preis sind das Honorar des Künstlers, der technische Background und die Ausgaben für die Instandhaltung dieser 6000 Quadratmeter enthalten. Außerdem haben wir früher, heute nicht mehr so oft, in einer anliegenden Basilika kostenlose Konzerte veranstaltet; es kamen zwei- bis dreitausend Menschen. Aber erwarten Sie nicht mehr von mir. Es ist die Aufgabe der Regierung, kulturelle Angebote für die Masse zu schaffen.

    Siniawski: Die Zeitung "Gazeta Wyborcza" hat kürzlich in einer Serie die Probleme auf Praga beschrieben. Unter anderem erschien ein Artikel mit der Schlagzeile: "Das künstlerische Praga ist ein Mythos." Man spreche seit Jahren vom Wandel, doch es tue sich wenig. Sehen Sie das auch so?

    Trzciński: Ein wenig schon. Vor zehn Jahren haben Leute wie ich diese kulturelle Entwicklung angeschoben, und wir haben von der Regierung erwartet, dass sie die Probleme anpackt. Doch es ist genau anders gekommen: Die Politiker haben sich gefreut, dass es solche Menschen gibt wie uns, und wir haben für die Regierung die Arbeit gemacht! Sie hat sich nicht mehr verpflichtet gefühlt, in Praga zu investieren – nicht nur in die Kultur, sondern auch in die Infrastruktur, den Nahverkehr, das Erscheinungsbild und so weiter. Stadtplaner sollten Visionäre sein. Den Visionären gehört die Welt. Was die Kultur in Warschau anbelangt, fehlt es mir an Visionen.

    Siniawski: Sie selbst sind nicht nur ein Visionär, sondern auch ein Investor und vermieten ihre Kulturfabrik an Konzerne wie Bertelsmann oder Pirelli, die hier ihre Firmenevents feiern. Kultur allein reicht nicht, um so einen Ort am Leben zu halten?

    Trzciński: Mein Modell ist folgendes: Die kommerziellen Feste finanzieren anspruchsvolle künstlerische Veranstaltungen. Und qualitätsvolle Kulturangebote kosten nun mal. Wenn sie die besten namhaften Künstler aus Europa haben wollen, müssen Sie viel Geld in die Hand nehmen. So verstehe ich meine Mission.

    Siniawski: Zu Beginn Ihres Wirkens haben Sie gesagt, dass Sie sich die Fabrik ohne eine Theaterbühne nicht vorstellen können. Also zog hier das "Teatr Praga" ein. Doch kurze Zeit später musste es wegen der hohen Mietkosten weichen, wie zu lesen war. Sie haben außerdem in der Innenstadt eine Filiale der "Fabryka Trzciny" eröffnet, mitten auf einer Prachtmeile. Ziehen Sie sich langsam aus Praga zurück? Ist das vielleicht doch kein guter Ort für Kultur?

    Trzciński: Das ist nicht wahr. Was Sie da vorgelesen haben, sind die Aussagen eines Beamten, der den Wert eines Schauspielhauses für Praga nicht verstanden hat. Ich habe das Theater nach Gesprächen mit der Stadt hierher geholt; es war eine städtische Bühne. Danach ging sie in die Hände der Regionalverwaltung über, und die wollte keine Steuergelder dafür ausgeben. Ich konnte mich in die Sache nicht einmischen. Ich bedauere das sehr, ich bedauere das als Bürger von Warschau. Denn Praga hat damit eine Kultureinrichtung verloren.
    Kulturfabrik "Fabryka Trzciny" in Warschau
    Die „Fabryka Trzciny“: früher eine Marmeladenfabrik – heute Eventbühne (Adalbert Siniawski)
    Offen für alle? Schillernde Persönlichkeiten in der „Fabryka Trzciny“
    Offen für alle? Schillernde Persönlichkeiten in der „Fabryka Trzciny“ (Adalbert Siniawski)