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Warum die Amerikaner Auschwitz nicht bombardiert haben

Anlässlich des Gedenktages im Bundestag für die Opfer des Nationalsozialismus hat der USA-Experte Christof Mauch die Militärstrategie der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg verteidigt. Statt die Konzentrationslager oder die Zuwege dahin zu bombardieren, hätten militärische Ziele im Vordergrund gestanden. Auch sei eine präzise Bombardierung in den Vierzigerjahren noch gar nicht möglich gewesen.

Moderation: Christoph Heinemann |
    Heinemann: Der Deutsche Bundestag wird heute der Opfer des Nationalsozialismus gedenken - zwei Tage vor dem offiziellen Erinnerungstag am Sonntag. Zu diesem Anlass wird auch Bundespräsident Horst Köhler im Reichstag erwartet. Sein US-amerikanischer Amtskollege hat kürzlich in der Gedenkstätte Yad Vashem gesagt, "wir hätten Auschwitz bombardieren sollen". So US-Präsident Bush zum Leiter der Gedenkstätte. Dies ist seit 30 Jahren ein Thema der historischen Forschung. Christof Mauch ist Professor für nordamerikanische Kultur, Sozial- und Politikgeschichte an der Universität München, vormals Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington. Eine seiner Veröffentlichungen trägt den Untertitel "Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste". Guten Morgen Professor Mauch!

    Mauch: Guten Morgen Herr Heinemann.

    Heinemann: Ab wann wussten die Alliierten, was in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vor sich ging?

    Mauch: Die ersten Informationen erreichten die Amerikaner und die Briten im Jahr 1942, als ein deutscher Industrieller namens Eduard Schulte über Genf, über den World Jewish Council berichtet hat, dass Millionen von Juden in den von den Nazis im Osten besetzten Gebieten vernichtet würden, dass entsprechende Apparate aufgebaut würden. Diese Nachrichten kamen von Genf nach Washington, nach London. Sie wurden nicht von der gesamten Bürokratie gelesen, aber es gab Hunderte von Personen, die im Jahr 1942 eigentlich hätten wissen können, dass ein riesiges Vernichtungsprogramm der Nazis geplant war. Zunächst gab es aber ein großes Misstrauen gegenüber diesen Informationen. Man konnte sich kaum vorstellen, dass es tatsächlich der Fall sei. Im Jahre 1943 verdichteten sich die Informationen dann so, dass eigentlich kein Zweifel mehr daran bestand, dass solche Aktionen in Gang waren.

    Heinemann: Und warum haben die USA die Lager oder die Zufahrtswege nicht bombardiert?

    Mauch: Die Militärs hatten andere Ziele damals. Die hatten andere Vorgaben. Es ging darum, durchaus auch nichtmilitärische Ziele zu verfolgen, wenn sie im Rahmen von Routineoperationen durchgeführt werden konnten, aber im Prinzip gab es ein einziges übergreifendes Kriegsziel, nämlich den Krieg so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen. Die Konzentrationslager waren eigentlich gar nicht auf dem Radarschirm der meisten Amerikaner. Dieses Schicksal, diese moralischen Fragen sind Fragen, die eigentlich erst Ende der 70er Jahre in eine große Debatte eingemündet sind.

    Heinemann: Wie ist das zu erklären? 1978 hat der Historiker David Wyman in einem Aufsatz mit dem Titel "Warum Auschwitz nie bombardiert wurde" darauf hingewiesen, dass amerikanische Flugzeuge das Gebiet um Auschwitz wiederholt angegriffen haben. Im Juli 1944 wurde eine nahe gelegene Ölraffinerie der IG Farben bombardiert. Wie ist zu erklären, dass man dann nicht eben gesagt hat, wenn wir schon da sind, dann bombardieren wir auch das Lager oder die Zufahrtswege?

    Mauch: Das ist zunächst einmal eine technische Frage. Wir denken heute, dass Präzisionsbombardierungen möglich sind. Aus 15.000 oder 25.000 Fuß 1944 lassen sich mit den damals existierenden Bombern keine exakten Bombardierungen vornehmen. Ich habe vor Jahren auch etliche Gespräche geführt mit ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern, die sich immer wieder gefragt haben, welche Ziele sollen bombardiert werden. Ich habe die gefragt. Das waren wichtige Leute später auch in der Kennedy-Administration. Die haben sich aber im Zweiten Weltkrieg gefragt, welche Ziele sollen bombardiert werden, und die haben exakt berechnet was passiert, wenn man zum Beispiel eine Eisenbahnlinie bombardiert, wenn man einen Bahnhof bombardiert, wenn man die Brücken über die Seine bombardiert oder die Ölfelder von Baku. Sie sind darauf gekommen, dass wer eine Eisenbahnlinie bombardiert relativ geringen Schaden anrichtet, dass es relativ gefährlich ist, dass die Bombe an einem anderen Ort landet. Auch ein Bahnhof lässt sich ganz schnell wieder aufbauen. Wir denken heute ja, das war möglich. Ich kann auch ganz klar sagen: ab Mai 1944 gab es überhaupt keinen Zweifel, dass es möglich gewesen wäre. Man hatte Informationen über die Existenz von Auschwitz. Man hatte Augenzeugen.

    Heinemann: Es gab immer auch den Vorwurf gegenüber den Alliierten, sie hätten sich für das Schicksal der europäischen Juden ganz einfach nicht interessiert.

    Mauch: Ich glaube dieser Vorwurf ist nicht wirklich zutreffend. Wir haben wirklich erst nach dem Krieg bemerkt, etwa als KZ-Häftlinge wie Eli Wiesel oder Primo Levi in ihren Memoiren darüber geschrieben haben, die selber als Augenzeugen mit angesehen haben, dass Bomben in unmittelbarer Nähe neben Auschwitz von den Alliierten in Fabriken einschlugen. Wir haben erst danach realisiert, welche große Bedeutung es hatte für Juden in den Konzentrationslagern, dass die Alliierten sich gegen diese Konstruktionen gerichtet haben. Das war aber Zufall. Sie wollten ja die Industrie bombardieren und gar nicht die Konzentrationslager. Diese Frage war damals nicht wichtig und sie war nicht nur für die Alliierten nicht wichtig. Das dürfen wir nicht vergessen. Sie war auch nicht wichtig etwa für die jüdische Führung in der Welt. In Jerusalem gab es im Juni 1944 eine Konferenz, einen Kongress, auf dem die Information über die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz diskutiert wurde, wo nun hundert Tausende von ungarischen Juden, die zwischen Mai und Juli 1944 nach Auschwitz deportiert wurden auf dieser neu eingerichteten Bahnlinie nach Auschwitz-Birkenau. Aber selbst in Jerusalem konnte sich der Kongress der Juden nicht darauf einigen, eine Bombardierung von den Alliierten zu verlangen. Wir vergessen, dass das damals auch von jüdischer Seite zunächst jedenfalls im Mai/Juni 1944 so war. Im Juli waren schon 430.000 oder 440.000 Juden aus Ungarn vernichtet worden. Da hat sich die Situation auch in manchen jüdischen Gruppierungen geändert. Man konnte es kaum glauben. Man wusste auch nicht, wie gefährlich so eine Bombardierung für die Insassen der Konzentrationslager sein würde. Man hat sich nicht durchgerungen: Weder auf alliierter Seite, wo die moralische Frage weniger eine Rolle gespielt hat, noch eben auf Seiten der jüdischen Interessenverbände.

    Heinemann: Herr Professor Mauch, George Bush, der amerikanische Präsident, hat jetzt in Yad Vashem gesagt, wir hätten bombardieren sollen. Wie wird in den Vereinigten Staaten heute über dieses Thema diskutiert?

    Mauch: Das erste Mal, dass ich mit dieser Frage konfrontiert wurde, war 1993 bei der Eröffnung des US-Holocaust Memorial Museum auf der Mall in Washington. Und Sie müssen sich vorstellen: die Mall in Washington, das ist dieser riesige Rasen, der umringt ist natürlich auf der Nordseite mit dem Weißen Haus, auf der Ostseite mit dem Kongressgebäude und auf beiden Seiten dieses langen Rasens sind die großen Museen zur amerikanischen Kultur, zur amerikanischen Kunst, zur amerikanischen Geschichte. Zwischendrin sitzt das Holocaust-Museum und in diesem Museum, das 1993 eröffnet wurde, wurden zwei Fragen angesprochen, die für die Amerikaner heute noch eine große Relevanz haben, nämlich die Frage "warum hat Roosevelt, der Präsident im Zweiten Weltkrieg, nicht dafür gesorgt, dass mehr Juden in die USA einwandern können". Man hat im Zuge dieser Diskussion natürlich auch erkannt, dass die USA in den 30er und 40er Jahren einen starken Antisemitismus auch in der Gesellschaft hatten, was man heute vergisst. Und man hat die andere Frage seither auch diskutiert und in diese Ausstellung eingebracht, nämlich die Bombardierung von Auschwitz. Das ist keine tägliche Diskussion, aber durch so einen Bush-Besuch wird sie natürlich wieder angekurbelt.

    Heinemann: Dieses enge Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Israel - die USA sind der beste Verbündete -, hat dies auch mit einem schlechten Gewissen in Amerika zu tun?

    Mauch: Ich würde es nicht schlechtes Gewissen nennen. Ich würde es nicht psychologisieren. Ich würde viel eher mir einfach vor Augen halten, dass die größte Gruppe von Juden außerhalb von Israel in den USA lebt, dass man eine gewisse Verpflichtung hat gegenüber der jüdischen Einwanderung in die USA. Wenn von schlechtem Gewissen die Rede sein sollte, dann vielleicht insofern, als man versucht, auch einem Trend ein Stück weit entgegenzuwirken, der jahrelang, jahrzehntelang und zum Teil auch heute noch latent die amerikanische Kulturgeschichte durchdringt. Es gibt ja eben auch diesen Antisemitismus, so dass dann eine proisraelische Haltung durchaus auch angesichts der negativen Attitüde der Gesellschaft gegenüber Juden, die lange Zeit vorherrschend war, forciert wird. Das würde ich schon sagen ist historisch zu erklären.

    Heinemann: Gegen den Vorwurf des Antisemitismus haben sich jetzt zwei Politikwissenschaftler zur Wehr gesetzt: John Mearsheimer von der Universität Chicago und Stephen Walt von Harvard. Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Die Israel-Lobby", ein durchaus umstrittenes Buch. Gibt es diese Israel-Lobby in den Vereinigten Staaten?

    Mauch: Ehrlich gesagt ich würde diesen Begriff in den USA nicht verwenden, weil es in den USA ein provokativer Begriff ist. In Israel kann man diesen Begriff durchaus verwenden. In Deutschland wäre ich auch mehr als vorsichtig. Was Mearsheimer und Walt damit meinen ist glaube ich ganz eindeutig und was sie damit meinen gibt es im Prinzip. Das ist eine starke Gruppe, die nicht aus Juden allein besteht, sondern die besteht aus einer Reihe von verschiedenen politisch und religiös motivierten Kreisen, etwa Neokonservativen, die im Nahen Osten bestimmte Vorstellungen haben, die Demokratiebildung ins Zentrum setzen. Sie besteht aus einer Gruppe von wenn man so will zionistischen Christen, von konservativen Christen, die allesamt eines wollen, nämlich dass das Bild von Israel in den USA positiver ist als es in der Vergangenheit war. Dass dies ein einflussreicher Verband ist, steht sicher auch ganz außer Zweifel.

    Heinemann: Wie wurde dieses Buch in den USA aufgenommen?

    Mauch: Das Buch hat eingeschlagen, hat man könnte sagen einen Tsunami ausgelöst. Es hat eine Welle der Entrüstung ausgelöst. Es gab die Vorwürfe mangelnder Wissenschaftlichkeit, den Vorwurf, dass die Autoren zu moralisierend seien. Es gab aber auch enthusiastische Gegenwellen, also eine Welle der Entrüstung und eine des Enthusiasmus. Wenige Bücher haben im Jahr 2007 - ich glaube das Buch kam schon im August zum ersten Mal als Hardcover heraus, wurde dann sofort auf die Bestseller-Liste der New York Times katapultiert - ähnlich stark gewirkt.

    Heinemann: Die beiden Autoren schlagen unter anderem vor, die USA sollten in der Golf-Region und in Afghanistan ihre strategischen Interessen verfolgen: Das heißt Energiesicherheit, Eindämmung des Terrorismus, Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die Existenz Israels gehöre aber nicht zu diesen strategischen Interessen der USA, wohl zu moralischen Interessen. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass eine künftige US-Regierung diesen Empfehlungen folgen wird?

    Mauch: Die Amerikaner, egal ob sie sich die Demokraten oder die Republikaner ansehen, sind mehrheitlich sehr positiv gegenüber Israel eingestellt. Das hat sich eher noch gewandelt in diese Richtung seit dem 11. September. Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass egal wer Präsident oder Präsidentin wird und welche Regierung in Zukunft an die Macht kommt in den nächsten Jahren oder auf absehbare Zeit die Interessen von Israel in den USA eine ganz große Rolle spielen werden. Sie werden nicht unbedingt als Interessen von Israel präsentiert sein, sondern natürlich auch als gemeinsame Interessen oder als amerikanische Interessen, denn die Bedrohungen für die USA und Israel können durchaus als gemeinsame Bedrohungen gesehen oder konstruiert werden, je nachdem wie man das ausdrücken möchte. Die USA bleiben der engste Verbündete.

    Heinemann: Professor Christof Mauch von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, vormals Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!