Einst war sie Musikerin. Khatoon Khider sang die alten Lieder ihres Volkes, spielte die Tanbur, eine orientalische Laute. Die Lieder erzählen von der Trauer der Jesiden, ihrer Verfolgung über Jahrhunderte hinweg.
Doch 2014 hörte Khatoon auf zu singen und griff zur Waffe. Als die Terrororganisation IS das Sindscharar überfiel – in der Absicht, die Jesiden als religiöse Minderheit auszulöschen, diesmal für immer.
"Ich habe gesehen", sagt sie, "dass die Peschmerga für uns Frauen und die Kinder kämpften, da fragte ich mich, was unterscheidet mich eigentlich von einem Mann? Ich wollte sein wie sie, unser Land verteidigen und die Ehre von uns Frauen."
Vor dem IS ins Gebirge geflüchtet
Die Stadt Sinone im Sindschar heute. Die Region ist mittlerweile vom IS befreit, eine wenig Normalität ist wieder eingekehrt, dennoch wirken die Stützpunkte der Peschmerga, der Soldaten von Irakisch-Kurdistan, wie Bastionen. Eine der Basen untersteht Khatoon Khider, heute 36 Jahre alt.
Aufrecht, das braune Haar zurückgekämmt, sitzt sie am Schreibtisch, hinter sich die Fahne Kurdistans: Rot-Weiß-Grün, mit einer großen Sonne in der Mitte. Doch dann steht sie auf, grüßt, mit kräftigem Händedruck, spricht ihren Dank aus für die Mühe der Anreise, ist bereit für ein Gespräch. Sie habe viel erreicht, meint sie, doch es sei nicht einfach gewesen.
Als der IS das Sindschar überrannte, musste auch sie ins Gebirge flüchten, hatte mitansehen müssen, wie viele Jesiden verdursteten, wie Mütter ihre Kinder in die Tiefe warfen, um ihnen ein langes Sterben zu ersparen. Khatoon Khider konnte entkommen, rettete sich in ein Lager, entschied dort, eine Peschmerga zu werden, eine Soldatin Masoud Barzanis, des Präsidenten der autonomen Region Irakisch-Kurdistan.
Erste Jesidin bei den Peschmerga
Und das als Jesidin – als Mitglied einer patriarchalen traditionellen Gemeinschaft, die Frauen eine solche Rolle eigentlich verweigert. Doch der Terror des IS hatte auch die Welt der Jesiden auf den Kopf gestellt. - Khatoons Vater stimmte zu, dann Masoud Barzani.
Der aber, sagt sie, habe eine Bedingung gestellt. "Ich musste auch Baba Sheich aufsuchen, das religiöse Oberhaupt unseres Volkes, um seine Erlaubnis zu erbitten. Baba Sheich stimmte zu."
Khatoon Khider ist stolz darauf, die erste Soldatin ihres Volkes zu sein. Sehr schnell hatte sie weitere Frauen für den bewaffneten Kampf gewinnen können. Viele schlossen sich an, weil der IS Angehörige ermordet hatte; weil sie selbst vergewaltigt worden waren. Heute kommandiert Khatoon die jesidische Fraueneinheit der Peschmerga, mehr als 130 Frauen, militärisch gedrillt, ausgebildet für den Kampf – weitere 2.000 Frauen haben sich registrieren lassen.
"Die Situation meines Volkes macht es nötig"
Khatoon zeigt Fotos von ihrer Einheit und sich selbst, beim Kampf um ein Zementwerk, bei Gefechten im Sindschar. Das ist heute befreit.
Wie wird es weitergehen? Wird sie, die Kommandantin, die Waffe zur Seite legen, wieder Musikerin werden?
Khatoon schüttelt den Kopf, erklärt, dass sie eine Peshmerga bleiben werde. "Ich bin nicht grundsätzlich für Waffen", sagt sie. "Jeder weiß, dass sich eine Waffe erst einmal gegen einen selbst richtet. Doch die Situation meines Volkes macht es nötig."
Und dann erklärt Khatoon, warum die Jesiden erneut in Gefahr seien – bedroht aus vielen politischen und ideologischen Richtungen. Sie nennt die Araber, die Verrat geübt hätten, als sie sich dem IS anschlossen – dass sie aber noch immer im Umkreis lebten. Sie nennt die Hashd ash-Shaabi, arabisch-schiitische Milizen, die ihre Order aus Teheran bekämen. Sie, die einstigen Mitstreiter gegen den IS, hielten heute jesidische Dörfer und umliegendes Land besetzt, erlaubten den Jesiden weder zurückzukehren noch die dort befindlichen Massengräber aufzusuchen. Und dann nennt sie noch die "Brüder", die PKK und die mit ihnen verbündeten syrisch-kurdischen Milizen. Auch sie hätten sich im Sindschar festgesetzt, blockierten Straßen, verhinderten das Durchqueren des Sinjar-Gebirges. "Was also", fragt sie, "sollen wir tun?"
Schlecht auf Bagdad zu sprechen
Auf Bagdad, die Regierung vom Zentralirak, ist Khatoon schlecht zu sprechen. Bagdad habe bis heute nicht anerkannt, dass der IS an den Jesiden einen Genozid verübt habe. Und Bagdad spreche auch ihnen, den Peschmerga-Frauen, keinen Dank aus.
"Masoud Barzani dagegen hat gesagt: Jede Frau, die sich den Peschmerga anschließt, ist wie mein Sohn. Ich mache keinen Unterschied, auch eine Frau verteidigt ihr Land. Er hat uns nach Europa geschickt, nach Frankreich, nach Belgien, zur militärischen Ausbildung. Das ist der Unterschied zwischen Kurden und Arabern."
Khatoon Khider ist für die Unabhängigkeit von Irakisch-Kurdistan. "Wir gehören zusammen", sagt sie, "es gibt keine Unterschiede zwischen den Kurden, gleich welcher Religion. Wir brauchen einen eigenen Staat." Khatoon wünscht sich auch, dass Masoud Barzani, der Sunnit, der sich - anders als andere - deutlich zu den Jesiden bekennt, an der Spitze bleibt, Präsident auch eines zukünftigen Kurdenstaates sein wird. Sonst, so fürchtet sie, würden die Türkei, Iran und die Führung in Bagdad der religiösen und ethnischen Vielfalt der Region ein Ende bereiten. Für Khatoon ist einzig Barzani Garant für Frieden und Stabilität - Garant dafür, dass Jesiden, Christen, Shabbak und Turkmenen Schutz bekommen und in Kurdistan bleiben können.
"Wenn Kurdistan unabhängig ist", sagt sie mit einem Lächeln, "werde ich wieder singen. Als Peschmerga. In Uniform."
Ist der Zeitpunkt für das Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden im Irak am 25. September falsch gewählt? Hören Sie hierzu im Rahmen unseres Audio-on-demand-Angebotes eine Einschätzung unseres Korrespondenten Björn Blaschke (Audio).