Fassadenblind durch die Stadt
Warum es uns so schwerfällt, die gebaute Alltagsumgebung wahrzunehmen

Wir befinden uns fast immer im gebauten Raum, in Architektur. Selbst wenn wir uns in die Natur begeben, ist diese meist gestaltet. Dennoch ist die alltägliche Umgebung oft ein blinder Fleck für uns. Was sind die Gründe und wie lässt sich das ändern?

Von Turit Fröbe |
Stromkasten in Bielefeld, umgeben von mehreren unterschiedlich hohen Stelen, im Hintergrund die Straße
Der Anblick dieses Bielefelder Stromkastens löste bei Turit Fröbe eine Kette von Aha-Erlebnissen aus, durch die sie begann, ihren Blick auf die Alltagsarchitektur, die sie täglich umgibt, zu richten und ihren Architekturbegriff zu erweitern (Turit Fröbe)
Wir sind „baukulturelle Wesen“ – und doch sind wir erstaunlich blind für das, was uns täglich umgibt. Ein Blick in die Architekturpsychologie und Wahrnehmungstheorie verdeutlicht, warum es für uns Menschen so schwierig ist, die gebaute Umwelt wahrzunehmen. Auch wenn alle Sinne involviert sind und sich die Stadt ständig verändert, nehmen wir sie nur unzureichend wahr. In ihr sind wir keine distanzierten Beobachter oder Betrachterinnen, sondern immer schon mittendrin.
Um unsere Umgebung und damit auch das gute Leben in ihr zu verstehen, wäre es gut, das Wahrnehmen von Architektur zu lernen – das ist etwas, was wir nicht von allein können. Es lohnt sich für jeden einzelnen, eine bewusste Beziehung zur gebauten Umwelt einzugehen, weil wir allein durch die Aufmerksamkeit und Betrachtung unsere eigene Umgebung aufwerten können. Aber auch als Gesellschaft müssen wir lernen, der gebauten Umwelt Aufmerksamkeit entgegenzubringen, weil sie uns auf Schritt und Tritt begleitet und sich massiv auf unser Wohlbefinden auswirkt. 
Turit Fröbe ist promovierte Architekturhistorikerin, Urbanistin und passionierte Baukulturvermittlerin. Mit ihrer STADTDENKEREI bietet sie Kommunen unkonventionelle Aktivierungs- und Beteiligungsstrategien an, entwickelt Vermittlungskonzepte für Kinder und Jugendliche und forscht zur Baukulturellen Bildung. Ihre Abrisskalender (2022/2023) und Bausündenpublikationen Die Kunst der Bausünde (2020) oder Eigenwillige Eigenheime (2021) genießen seit Jahren Kultstatus.

Wenn wir an unsere Alltagsumgebung denken, durch die wir uns täglich – seit Jahren oder vielleicht schon seit Jahrzehnten – zu Fuß hindurch bewegen, haben wir in der Regel das Gefühl, dass sie uns durch und durch vertraut ist. Wir haben das Gefühl, dass wir uns „wie in unserer Westentasche auskennen“, oder dass wir „jeden Stein kennen“. Auch wenn wir Jahre später an einen Ort zurückkehren, an dem wir uns lange aufgehalten haben, ist uns – vorausgesetzt, dass in der Zwischenzeit nicht zu viele Veränderungen vorgenommen wurden –, alles sofort wieder vertraut. Fast paradox mag es da anmuten, dass es trotz der tiefen Vertrautheit kaum einen Ort gibt, an dem wir so blind sind für das, was uns tatsächlich umgibt, wie in unserer Alltagsumgebung. Sie glauben mir nicht? Natürlich kann es sein, dass Sie zu den Menschen gehören, die das nicht oder weniger betrifft – die sogenannte Alltagsblindheit ist natürlich individuell unterschiedlich ausgeprägt.
Wahrscheinlicher aber ist Ihnen – meiner Erfahrung nach – nur nicht bewusst, dass auch Sie betroffen sind. Und das ist tatsächlich ganz normal! Probieren Sie doch mal aus, ob Sie aus dem Gedächtnis die Fassade des Hauses gegenüber beschreiben könnten. Oder versuchen Sie mal, wenn Sie das nächste Mal aus der Haustür treten, fünf Dinge in Ihrer Straße zu finden, die Ihnen vorher noch nicht aufgefallen sind. Ich bin mir sicher, dass Sie schnell fündig werden. Wiederholen Sie das Spiel beim nächsten, übernächsten, überübernächsten Mal, und so weiter – Sie werden überrascht sein, wie lange sich das Spiel fortsetzen lässt!
Wie alltagsblind wir tatsächlich sind, wurde mir zum ersten Mal in voller Konsequenz bewusst durch die Begegnung mit meiner „Ur-Bausünde“ – dem Objekt, das vor mehr als 20 Jahren den Grundstein für meine anhaltende Faszination für Bausünden legen sollte. Während eines Besuchs im Februar 2001 in Bielefeld war ich beim Spazierengehen buchstäblich darüber gestolpert: An einer Straßenecke am Rande der Bielefelder Innenstadt fand ich mich plötzlich vor einem Stromkasten, der mithilfe von Kunst-am-Bau verschönert worden war. Er war Teil eines Stelenfeldes, bestehend aus kleineren und größeren verwitterten, im Kreis angeordneten Betonprismen, die sich über einem flachen Plateau erhoben. Im Angesicht dieses modernen Mini-Stonehenges befand ich mich von einer Sekunde auf die nächste in einem neuronalen Feuerwerk.
Während ich mich noch fragte, ob ich weinen oder lachen sollte, kam mir der Geistesblitz, einen Abrisskalender mit 365 architektonischen Katastrophen und Bausünden zu gestalten – einen Abreißkalender mit abrisswürdigen Objekten, jeden Tag kommt eins weg! Wird abgerissen!
Ich habe fortan das Haus nie wieder ohne Kamera verlassen und kann im Rückblick, sagen, dass es eine folgenschwere Begegnung war, die mein Berufsleben geprägt und meine Wahrnehmung unumstößlich verändert hat. Ich habe originelle Bausünden zu schätzen und viel über die hässlichen Entlein unserer Städte gelernt.
Insbesondere in der Anfangszeit war die Lernkurve steil. Zu den ersten und überraschendsten Lektionen gehörte die Erkenntnis, dass Bausünden ein merkwürdiges Schattendasein im Bewusstsein der meisten Menschen führen. Fast jeder, so stellte ich in unzähligen Gesprächen fest, hat das Gefühl, von Bausünden umgeben zu sein, aber auf Nachfrage hin ist kaum jemand in der Lage, konkrete Beispiele zu benennen. Zum anderen stellte ich fest, dass es möglich war, Bausünden zu übersehen, selbst wenn sie so prominent mitten auf dem Bürgersteig platziert waren, wie mein Bielefelder Stromkastenfundstück: Ich hatte damals in meiner Begeisterung verschiedenen Bielefelder Freunden und Bekannten, von denen ich wusste, dass sie regelmäßig an dem Stromkasten vorbeiliefen, meine Fotos gezeigt und musste zu meiner großen Überraschung feststellen, dass sie ihn nicht kannten – nie bemerkt hatten! Wie konnte das sein? Das Objekt steht mehr oder weniger mitten auf dem Gehweg – es erschien mir nahezu unmöglich, das Kunstwerk zu übersehen.
Ein gutes Jahr später musste ich feststellen, dass sie keineswegs die einzigen waren, die meine Ur-Bausünde übersehen hatten. Mir wurde ein Artikel aus der Bielefelder Lokalpresse zugespielt, in dem es um das rätselhafte Stromkastenkunstwerk ging. Es war mittlerweile schneeweiß gestrichen worden und hatte durch die neue Strahlkraft, mit der es sich plötzlich aus der Umgebung abhob, die Aufmerksamkeit eines Journalisten auf sich gezogen. Nachdem er realisierte, dass er vermutlich seit Jahren, möglicherweise sogar schon seit Jahrzehnten an dem merkwürdigen Objekt vorbeigelaufen war, ohne je darauf aufmerksam geworden zu sein, hatte er zu recherchieren begonnen. Da niemand ihm sagen konnte, wer es geplant, gebaut und renoviert hat, setzte er schließlich den Artikel mit der Bitte um Informationen in das Lokalblatt. Ich konnte ihm damals immerhin das Abrissdatum – von meinem Kalenderblock – nennen und bekam meinen ersten Artikel – aber das ist eine andere Geschichte.
Heute weiß ich, dass wir Menschen nicht nur an Bausünden in unserer Alltagsumgebung achtlos vorbeilaufen, sondern dass wir mehr oder weniger blind für die gesamte Alltagsumgebung sind. Die Architekturpsychologin Alexandra Abel geht davon aus, dass wir zu 99,9 Prozent der Zeit unsere gebaute Umwelt nur unbewusst wahrnehmen. Und sie sagt, dass das prinzipiell auch gut so sei, weil es uns das Überleben sichere. Aufmerksam werden wir, laut Abel, nur, wenn Gefahr herrscht. Ansonsten bewegen wir uns (sozusagen) per Autopilot durch die gebaute Umwelt.
Antworten auf die Frage, warum es so kompliziert und schwierig für uns Menschen ist, unsere Alltagsumgebung bewusst wahrzunehmen, und wo unsere speziellen Handicaps liegen, finden sich in der Architekturpsychologie, in der Kunst- und Wahrnehmungstheorie. Eine der anschaulichsten Erklärungen habe ich in Das Bild der Stadt gefunden, ein Buch, das der amerikanische Architekturtheoretiker Kevin Lynch 1960 publiziert hat. Kompliziert wird unsere Wahrnehmung von Stadträumen laut Lynch schon dadurch, dass dabei sämtliche Sinne involviert sind, und wir nicht einfach Beobachter, sondern immer auch Teil des Ganzen sind. Wir spielen selbst mit und bewegen uns immer gemeinsam mit den anderen „Spielern“ direkt auf der Bühne, die wir zugleich in den Blick bekommen möchten.
Uns fehlt also, anders als im Museum oder im Theater, die Distanz zu unserem Betrachtungsgegenstand. Komplex wird diese Wahrnehmung Lynch zufolge auch dadurch, dass die beweglichen Elemente einer Stadt – insbesondere die Menschen und ihre Tätigkeiten – genauso von Bedeutung sind wie die unbeweglichen Elemente, also die Architektur. Hinzu kommt, wie Lynch beschreibt, dass sich Stadt und Stadtraum permanent verändern. Die Stadt bleibt in ihren Hauptzügen im großen Ganzen für einige Zeit stabil, ändert sich dabei aber ständig in ihren Einzelheiten. „Es gibt kein Endresultat“, schreibt er, „nur eine dauernde Aufeinanderfolge von Phasen.“
Erschwert wird die Wahrnehmung der gebauten Umwelt auch dadurch, dass viele Menschen einen eingeschränkten Begriff von Architektur haben, wie der Architekturpsychologe Riklef Rambow glaubt. Architektur wird demnach vor allem mit optisch auffallenden, ungewöhnlichen Gebäuden assoziiert – mit Landmark‑Architektur, besonderen Monumenten oder Denkmalen. Die Alltagsarchitektur, die uns täglich umgibt, in der wir wohnen und uns regelmäßig aufhalten, wird in der Regel gar nicht dazu gerechnet.
Zu dem eingeschränkten Architekturbegriff gesellt sich, wie Alexandra Abel weiß, eine eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit, die dazu führt, dass wir Menschen dazu neigen, nur auf Eyecatcher zu fokussieren. Wir reagieren gewissermaßen auf alles, was aus der Reihe tanzt – also wieder auf das Herausragende und Besondere – alles andere bemerken wir in der Regel nicht. Diese Fokussierung auf Eyecatcher entsteht laut Abel dadurch, dass wir nicht alles wahrnehmen können, sondern permanent auswählen müssen. Wie in vielen anderen Bereichen bilden wir auch hier eine Ökonomie der Aufmerksamkeit aus. Dabei fokussieren wir auf Dinge, die aus dem Gleichmaß ausbrechen. Zu oft Gesehenes wird, wie Abel beschreibt, kaum noch wahrgenommen und wird zum Hintergrundrauschen, während Unbekanntes unsere Aufmerksamkeit stimuliert. So kommt es, dass wir in der Gewohnheit des Alltags keine guten Wahrnehmenden sind. Sehr intensiv nehmen wir dagegen auf Reisen wahr, wenn uns nur Neues umgibt – das ist etwas, was wir wahrscheinlich alle kennen. Wenn wir eine Städtereise unternehmen, sind wir aufmerksam, neugierig und wohlwollend. Wir haben einen Blick für das große Ganze, aber auch für kleine Details. Wir klettern auf jeden Turm und schauen uns Dinge an, die wir uns zu Hause nie ansehen würden. Abends in der Taverne im Gespräch mit Einheimischen stellen wir dann erstaunt fest, dass sie sich dieses oder jenes nie angesehen haben und sich noch nie die Mühe gemacht haben, auf den einen oder anderen Aussichtsturm zu klettern.
Auf diese Weise lässt sich wahrscheinlich auch meine starke Reaktion auf das Stromkastenkunstwerk damals in Bielefeld erklären. Für mich als neugierige, offene Besucherin war es fast unmöglich, daran vorbeizulaufen, ohne es zu bemerken, während es für meine Freunde und Bekannten ebenso wie für den Journalisten zum selbstverständlichen Inventar der Straße gehörte und als Solches nicht weiter betrachtenswert war. Erst durch den neuen, schneeweißen Anstrich, mit dem sich das Objekt mit einem Mal von der Umgebung abhob, wurde es für den Journalisten zum Eyecatcher, der ihn aufmerksam werden ließ.
Da auch Bausünden zuweilen echte Eyecatcher sein können, erklärt das möglicherweise auch, warum viele Menschen ihre Umwelt als hässlich und schlecht gestaltet empfinden. Sie werden auf die Objekte, die qua Form, Kubatur, Farbe und Gestaltung aus der Reihe tanzen, aufmerksam, während sie an gut proportionierten, ansprechend gestalteten Alltagsarchitekturen vermutlich achtlos vorüberlaufen.
Befragt man die Architekturpsychologie oder Wahrnehmungstheorie danach, warum es uns Menschen so schwerfällt, die Alltagsumgebung bewusst wahrzunehmen, wird schnell deutlich, dass uns eine ganze Reihe von Handicaps dabei im Weg stehen. Es beginnt damit, dass die urbane Architektur viel zu groß ist für uns. Da wir Fluchtwesen sind, suchen wir immer den Ausweg und nehmen die Architektur unter normalen Umständen bestenfalls als Umriss wahr.
Hinzu kommt, dass die urbane Architektur durch die Aneinanderreihung von Gebäuden ihre Dreidimensionalität verliert, wie der Kunst- und Architekturtheoretiker Rudolf Arnheim in den 1970er Jahren erkannt hat. Wenn wir uns in den Straßen bewegen, sehen wir nur noch Fassaden, die sich zu zweidimensionalen Mauern zusammenschließen und als „Steilwände städtischer Schluchten“ empfunden werden. Das führt laut Arnheim dazu, dass die Selbstständigkeit der einzelnen Gebäude zurückgedrängt wird. Der Straßenbenutzer orientiert sich nicht an Gebäuden, sondern an der Straße, die als geschlossene Figur wahrgenommen wird.
Am besten kommen wir Menschen, wie der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl untersucht hat, mit der Dimensionierung der mittelalterlichen Stadt zurecht. Sie interagiert perfekt mit dem menschlichen Maß und der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. In der mittelalterlichen Stadt ist die Bauweise im Wesentlichen auf eine Schrittgeschwindigkeit von fünf Stundenkilometern abgestimmt und bietet eine Vielzahl sensorischer Wahrnehmungen. Die Gebäude sind niedrig und es gibt in der Regel keine geschlossenen Straßenschluchten, sondern der Blick ist immer begrenzt durch gekrümmte und geschwungene Straßen- und Gassenführungen, die regelmäßig in Plätzen unterschiedlicher Dimension münden. Die einzelnen Gebäude sind eher noch als dreidimensionale Gebilde, denn als Fassaden erlebbar und haben in der Regel reiche Detaillierungen, die den Blick nicht ermüden.
Auf unsere moderne Großstadtarchitektur sind wir Menschen dagegen laut Gehl schon qua Körperbau und Wahrnehmungsapparat überhaupt nicht ausgerichtet. Er beschreibt den Homo sapiens als ein linear, frontal und horizontal orientiertes, aufrechtstehendes und gehendes Lebewesen. Unsere Arme zeigen nach vorn, sodass wir Dinge greifen oder Zweige auf unserem Weg beiseiteschieben können und alle unsere Sinnesorgane, unsere Augen, Ohren und Nasen, sind nach vorn ausgerichtet, sodass wir Gefahren oder Möglichkeiten auf dem vor uns liegenden Weg erfassen können. Daraus folgt laut Gehl, dass unsere Sicht nach vorn linear fokussiert am klarsten funktioniert, während die periphere Sicht nach oben, unten, links und rechts nur verschwommen ist.
Wenn wir uns durch den Stadtraum bewegen, sind daher die Erdgeschossbereiche – die Ladenzonen – für uns am deutlichsten erkennbar – alles andere erfassen wir kaum. Aber selbst die Erdgeschosszonen nehmen wir, wenn wir uns durch den Stadtraum bewegen, aufgrund unserer Körperhaltung meistens nur aus den Augenwinkeln und als Umriss wahr. Wir bewegen uns nämlich mit einem um etwa 10 Grad gen Boden geneigten Kopf durch den gebauten Raum, um in drei bis vier  Meter Entfernung scharf sehen und den Boden auf Stolperfallen oder andere Gefahren scannen zu können. Das führt dazu, dass wir in der Großstadt immer nur Ausschnitte von der Architektur sehen – meistens aus den Augenwinkeln.
Gehandicapt sind wir aber nicht nur durch unseren Körperbau und unsere Körperhaltung, sondern auch durch unseren Wahrnehmungsapparat, der, wie der Architekturtheoretiker Ulf Jonak darstellt, überhaupt nicht auf die Wahrnehmung von Architektur ausgerichtet ist. „Wir schauen fern“, schreibt er, „wir schauen nah. Fatalerweise nie gleichzeitig, bestenfalls nacheinander. Unsere Augen, beziehungsweise die Adaption der Augenlinsen, die ihre Zeit brauchen, sich anzupassen, wollen da nicht mitspielen. Da wir uns drehen und wenden, mal in die Landschaft spähen, mal in die Zeitung blicken, da wir seitwärts oder vorwärts schreiten, entgeht uns manches. Die Nahsicht schließt den Fernblick aus, der Fernblick die Nahsicht.“
Und zu unserem ohnehin schon unsystematischen Blick kommt zu all den Handicaps auch noch die Tatsache, dass die Architektur im öffentlichen Raum mit unzähligen Informationen und Reizen um die Aufmerksamkeit der Betrachterinnen und Betrachter konkurriert. Der Architekturtheoretiker Jörg Kurt Grütter spricht von „multiplen Nachrichten“, die auf die Betrachtenden einströmen, bildhaft am Beispiel einer Pariser Straßenkreuzung. „Wir nehmen eine Unmenge von Nachrichten auf“, so notiert er, „die teilweise besonnte graue Fassade des Gebäudes auf der anderen Straßenseite, die Bäume, deren Blätter sich im Winde bewegen, die Ampel, deren Farbe eben auf Rot gewechselt hat, das Quietschen eines bremsenden Autos, es riecht nach Frühling und die wartenden Leute neben uns sprechen eine für uns fremde Sprache. Die Wahrnehmung dieser Nachrichten geschieht gleichzeitig über mehrere Kanäle, über verschiedene Sinnesorgane, wir nennen sie deshalb multiple Nachrichten.“
Macht man sich also bewusst, dass alles in der Stadt in Bewegung ist und die unterschiedlichsten Geräusche und Gerüche auf die Betrachtenden einströmen und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, erscheint es kaum verwunderlich, dass die Architektur leicht ins Hintertreffen gerät und – wenn überhaupt – als Letztes bemerkt wird. Unbewusst wissen wir, dass wir sie uns später noch anschauen können, weil sie, anders als fast alles andere, im Stadtraum nicht flüchtig ist.
Damit aber noch nicht genug: Wir haben sogar noch ein weiteres Handicap, das uns beim Wahrnehmen von Architektur oder dem gebauten Raum im Weg steht. Unsere eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit weist uns noch auf einer weiteren Ebene in die Schranken. Es fehlt uns nämlich auch so etwas wie ein Gedächtnis für Architektur. Wir können stundenlang vor einem Gebäude gesessen haben, um uns die Gestalt einzuprägen. Wir drehen uns um und sofort verblasst der Eindruck und wird innerhalb kürzester Zeit unkenntlich. Als Grund dafür nennt Ulf Jonak unsere unkonzentrierte und unsystematische Betrachtungsweise, die uns von Eindruck zu Eindruck springen lässt.
Sobald es uns gelingt, bewusst von der passiven in die aktive Wahrnehmung zu schalten, ist es jedoch sehr wohl möglich, Fassaden auch für lange Zeit im Gedächtnis zu behalten, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Am besten funktioniert das, wenn man eine Fassade zeichnet. Probieren Sie es doch einfach mal aus! Es muss überhaupt nicht schön werden – setzen Sie sich nicht unnötig unter Druck! Es geht nur darum, die Fassade systematisch zu erfassen. Beim Zeichnen werden Sie nämlich nicht vom Portal zur Gaube und von dort zur Fensterverdachung im Seitenrisalit springen, sondern Sie bauen das Bild systematisch auf. Sie beginnen damit, den Umriss festzulegen, bestimmen, wie viele Stockwerke und Fensterachsen das Gebäude hat, und differenzieren dann schrittweise immer weiter aus. Vermutlich werden Sie sich ganz intuitiv von unten nach oben, von der Mitte nach außen und von der Großform zu den Details vorarbeiten. Wenn Sie fertig sind, können Sie davon ausgehen, dass Sie die Fassade im Gedächtnis gespeichert haben und auch später noch abrufen können. So gesehen ist die Zeichnung eine wunderbare Sehschule.
Alternativ können Sie, wenn Sie nicht zeichnen möchten, auch versuchen, die Fassade zu beschreiben – das ist das, was wir Architekturhistorikerinnen und ‑historiker von der Pike auf lernen. Wichtig ist dabei, mit Worten genauso systematisch vorzugehen wie beim Zeichnen mit dem Stift. Man geht vom Großen zum Kleinen, von unten nach oben und von der Mitte nach außen. Wenn Sie eine Fassade systematisch beschreiben, ist es so gesehen eine Art Zeichnen mit Worten, und ebenfalls eine gute Möglichkeit, das Fassadenbild im Gedächtnis zu speichern. Die Beschreibung ist möglicherweise nicht ganz so präzise wie eine Zeichnung, aber das macht nichts! Auch hier gilt, dass es nicht um die perfekte Beschreibung geht, sondern darum, von der passiven in die aktive Wahrnehmung zu schalten – etwas, was wir im alltäglichen Leben, wenn wir uns durch den Stadtraum bewegen, normalerweise nie tun.
Schon ein einziges, gut platziertes Aha-Erlebnis kann dazu führen, dass sich die Wahrnehmung nachhaltig verändert. Denken Sie nur an mein Erlebnis mit dem Bielefelder Stromkasten! Ich war damals zwar schon Architekturhistorikerin, aber mich hat nur das Herausragende und Besondere interessiert – alles andere war mir egal, und Bausünden habe ich als Zumutung empfunden. Erst durch die Kette von Aha-Erlebnissen, die der Bielefelder Stromkasten ausgelöst hat, habe ich begonnen, meinen Blick auf die Alltagsarchitektur, die mich täglich umgibt, zu richten und meinen Architekturbegriff zu erweitern.
Möglicherweise stellen Sie sich nun gerade die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, bewusst so viel von der gebauten Umwelt wahrzunehmen. Ist es nicht angesichts der häufig zweifelhaften und lieblosen Qualität der Alltagsarchitektur in unseren Städten und Dörfern vielleicht sogar ganz gut, dass wir zu 99,9 Prozent unserer Zeit die gebaute Umwelt nicht bewusst wahrnehmen? Reicht es da nicht vollkommen aus, sich das Architekturbetrachten für die Ferienzeit aufzuheben, wenn wir uns in schönere Gefilde begeben und ganz automatisch zu guten Wahrnehmenden werden? Diese Gedanken liegen sicherlich nahe, doch ich bin fest davon überzeugt, dass es sich für jeden Einzelnen von uns lohnt, eine bewusste Beziehung zur gebauten Umwelt einzugehen. Es kann eine Bindung an den Ort, an dem man lebt, entstehen, die Teil eines guten, gelingenden Lebens ist. Das Schlimmste, was man sich und der gebauten Umwelt antun kann, ist, alles nur aus den Augenwinkeln im Vorbeigehen wahrzunehmen. Dann nämlich erscheint alles hässlich. Wenn Sie dann noch über die berühmten Bausünden-Eyecatcher stolpern, die Sie aufmerksam werden lassen, ist alles verloren und es bleibt Ihnen kaum noch etwas anderes übrig, als die obligatorische Städtereise anzutreten, um sich anderswo von Ihrer Alltagsarchitektur zu erholen und sich eine Verschnaufpause zu verschaffen. Vergessen Sie dabei aber nicht, dass sie anderswo mit einem Mal Dinge betrachten, die sie zu Hause niemals ansehen würden! Warum also nicht gleich in der Alltagsumgebung umschauen? Ich versichere Ihnen, dass das Hinsehen beziehungsweise die Betrachtung – sie ist aktiver als das Hinsehen – hilft!
Sie werden auf verborgene Qualitäten stoßen, die sich erst beim zweiten, dritten, vielleicht auch erst vierten oder fünften Hinsehen erschließen. Sie werden sehen, dass sich in der wohlwollenden Betrachtung vermeintlich Hässliches vor Ihren Augen mit einem Mal verwandelt und nicht selten eine ganz eigenwillige Schönheit und ein ureigener Charme entsteht. Sie werden unweigerlich feststellen, dass Sie selbst ganz wesentlich dazu beitragen können, Ihre Alltagsumgebung aufzuwerten, indem sie ihr ein bisschen mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen.
Aber nicht nur für jeden Einzelnen ist es sinnvoll, eine bewusste Beziehung zur gebauten Umwelt zu entwickeln. Wir müssen auch als Gesellschaft lernen, ihr mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Wir befinden uns mehr oder weniger rund um die Uhr in Architektur oder im gebauten Raum. Und selbst wenn wir uns in die Natur flüchten, haben wir es in Mitteleuropa immer mit einer gestalteten Umgebung zu tun. Wir haben kaum Möglichkeiten, uns der gestalteten Umwelt zu entziehen – wir sind, wie Roland Reichenbach es treffend formuliert hat, „baukulturelle Wesen“. Die gebaute Umwelt begleitet uns auf Schritt und Tritt und wirkt sich auch massiv auf unser Wohlbefinden aus. Das allein sollte Grund genug sein, dass wir uns als Gesellschaft intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Wir müssen zu einer baukulturellen Allgemeinbildung kommen, da es sich langfristig um den zentralen Schlüssel auf dem Weg zu einer qualitativ hochwertigeren Baukultur handelt.
Die Baukulturelle Bildung sollte deshalb nach Möglichkeit systematisch ins Schulsystem integriert werden, um die Gesellschaft langfristig in ihrer gesamten Breite zu erreichen. Sie sollte auf eine Grundsensibilisierung abzielen, die dazu führt, dass jeder Mensch – jeder Erwachsene, jedes Kind – eine bewusste Beziehung zur gebauten Umwelt eingehen kann. Die Baukulturelle Bildung sollte erlebbar machen, dass alles, was im gebauten Raum zu finden ist, von irgendjemandem geplant wurde, aber auch planbar und damit veränderbar ist. Sie sollte darauf abzielen, eine Sprachfähigkeit herzustellen, die jedem von uns – ob Kind oder Erwachsenem – ermöglicht, sich in Planungsprozessen, die das eigene Lebensumfeld betreffen, zu beteiligen. Um das zu erreichen, ist es wichtig, Lehrkräften und anderen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus der Pädagogik und der außerschulischen Kunst- und Kulturvermittlung zu zeigen, dass es einfach ist, Baukultur zu vermitteln, dass es Spaß macht, mit Kindern und Jugendlichen im urbanen Raum zu arbeiten und dass überall und jederzeit damit begonnen werden kann.
Die Baukulturelle Bildung kann außerdem dazu beitragen, den Menschen Hilfestellungen zu geben, besser mit dem fertig zu werden, was bereits gebaut ist – mit den unliebsamen Strukturen und Hinterlassenschaften vergangener Jahrzehnte. Das ist heute wichtiger denn je, da wir wissen, dass wir uns aufgrund der schlechten Klimabilanz der Baubranche eigentlich keinen einzigen Neubau und entsprechend auch keinen Abriss mehr leisten sollten. Wir müssen lernen, mit dem zurechtzukommen, was bereits da ist, ob es uns gefällt oder nicht. Die Baukulturelle Bildung kann dazu beitragen, Verständnis für das zu entwickeln, was aus der Mode gefallen ist und heute aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr zeitgemäß erscheint. Sie kann dazu beitragen, dass ein liebevoller Blick auf Bestehendes entstehen kann und Aha-Erlebnisse stimuliert werden, die sich nachhaltig auswirken. Um dafür zu sorgen, dass die Baukulturelle Bildung dort ansetzen kann, wo sie am wirkmächtigsten ist – in der Alltagsumgebung der Menschen –, wäre es sinnvoll, in jeder Stadt eine eigenständige Vermittlungsabteilung einzurichten. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass inzwischen jedes Museum, jedes Theater und jedes Konzerthaus in Deutschland eine eigene Vermittlungsabteilung hat, erscheint der Gedanke möglicherweise nicht mehr ganz so abwegig.
Falls Sie nicht so lange warten wollen, bis Politik und Behörden endlich ins Handeln kommen und sich mit Verve dem Thema „Baukulturelle Bildung“ annehmen, können Sie ganz einfach schon mal selbst aktiv werden und lernen, einen liebevollen Blick auf die Alltagsumgebung zu richten. Sollte Ihnen das allein schwerfallen, dann laden Sie doch mal wieder Freunde oder Verwandte aus einer anderen Stadt ein! Ihr frischer Blick kann Wunder bewirken! Inspiration finden Sie auch bei den großen Flaneuren. Charles Dickens beispielsweise liebte es, London Tag und Nacht zu durchstreifen. Da er unter Schlaflosigkeit litt, legte er nachts 10 bis 15, manchmal sogar 30 Meilen zurück. Er hatte eine Art mechanische Technik entwickelt, um im Gehen zu schlafen. Tagsüber liebte er es, für ein bis zwei Stunden seine Nachbarschaft zu inspizieren, wobei er Tag für Tag so tat, als würde es sich um eine fremde Gegend handeln, die er nie zuvor gesehen hat.
Ans Herz legen kann ich Ihnen auch meinen Lieblingsflaneur, Franz Hessel. In seinem Text „Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“ von 1932 rät er seinen Leserinnen und Lesern „Minutenferien des Alltags“ zu machen. Er empfiehlt, nicht ganz ziellos zu spazieren, sondern „in angenehmer Weise vom Weg abzukommen“ und vielleicht mal eine Station früher auszusteigen und eine Teilstrecke zu Fuß zurückzulegen, anstatt zu früh am Ziel anzukommen und eine „eine öde, leere Wartezeit in Büros oder Vorzimmern“ verbringen zu müssen. Er ermunterte sie, nicht zu schnell alles schön oder hässlich zu finden, sondern sich auch ein wenig täuschen und verführen zu lassen von Beleuchtung, Tageszeit und dem Rhythmus der eigenen Schritte und wies darauf hin, dass „vom freundlichen Anschauen auch das Garstige eine Art Schönheit abbekommt.“ „Wenn du unterwegs etwas näher ansehen willst“, riet er, „geh nicht zu gierig darauf los. Sonst entzieht es sich Dir. Laß ihm Zeit auch Dich anzusehen. Es gibt ein Aug in Aug auch mit den Dingen. Es genügt nicht, daß Du die Straßen, die Stadt wohlwollend anschaust. Sie müssen auch mit Dir gut Freund werden.“