"Soweit man die Geschichte der Menschheit überblickt, kann man sagen, dass Religionen im weitesten Sinn, also auch Ahnen- und Geisterglaube, überall stark ausgeprägt sind. Und diese Universalität wird oft dafür ins Feld gezogen dafür, dass Religion nicht nur ein Kulturprodukt ist, sondern ein Merkmal des Menschen schlechthin sein könnte. Der Mensch als Homo Religiosus."
Rüdiger Vaas, Wissenschaftsjournalist in Stuttgart, schrieb zusammen mit dem Religionswissenschaftler Michael Blume in diesem Jahr das Buch "Gott, Gene und Gehirn". Darin stellen sie fest, dass Religion ein zentraler Bestandteil aller menschlichen Kulturen ist. Es gibt nahezu keine religionslose Gesellschaft auf der Welt. Der Soziobiologe Edward O. Wilson hielt die "Anlage für religiösen Glauben" deshalb auch für einen wahrscheinlich "unauslöschliche[n] Teil der menschlichen Natur".
Doch diese Tatsache beschäftigt nicht länger nur Theologen, Philosophen oder Soziologen. Religion - oder genauer gesagt, Religiosität als Fähigkeit des Menschen, eine Religion zu haben - ist mittlerweile auch zu einem Forschungsfeld für Biologen, Neurologen und Psychologen geworden. Nüchtern fragen sie, was bei religiösen Menschen im Gehirn vorgeht. Fragen danach, welchen irdischen Nutzen Religion haben kann, obwohl sie doch mit all ihren Opfern, Kulten und Ritualen auf den ersten Blick als ein geradezu luxuriöses Unterfangen erscheint.
"Das große Problem ist, dass die meisten Menschen in allen Gesellschaften, die wir kennen, sehr viel Zeit und Geld in ihre religiösen Tätigkeiten investieren. Wenn das ein Luxus ist, dann ist die Frage, ist das ein überflüssiger Luxus und könnte man dieses Geld nicht effektiver woanders hin stecken, nämlich direkt in den Nachwuchs? Und insofern ist es erst mal eine berechtigte naturwissenschaftliche Frage, die Antworten sind noch ziemlich spekulativ."
Aber gerade weil Religion in allen Gesellschaften mit großem Aufwand zelebriert wird, muss sie, so sagen Evolutionsforscher, von großem biologischen Nutzen sein. Denn, wie es der britische Zoologe Richard Dawkins formulierte, "universelle Merkmale einer biologischen Art erfordern eine Darwinsche Erklärung"; und das heißt, sie bieten einen "Selektionsvorteil". Hat sich Religion im Verlauf der Evolution also ausgebildet, weil der Homo sapiens damit besser sein Überleben sichern konnte? Der Kölner Zoologe Professor Wolfgang Walkowiak erläutert, worin dieser Überlebensvorteil von Religion liegen könnte:
"Es werden zwei Aspekte oft genannt, der eine ist ein sehr persönlicher Aspekt: Dadurch, dass der Homo sapiens die Fähigkeit gewonnen hat, sehr weit in die Zukunft zu planen, erkennt er, dass sein Leben endlich ist, und das macht fürchterliche Ängste. Und wenn ich eine Möglichkeit finde, die Natur, die Physik zu überwinden durch Metaphysik, kann das sehr hilfreich sein, die eigene Lebensperspektive sehr viel positiver zu sehen. Der zweite Punkt dabei ist der gesellschaftliche Aspekt. Religion basierend auf diesen spirituellen Erfahrungen, hat etwas Bindendes. Es hat für die soziale Gemeinschaft große Vorteile durch Riten, durch das Glauben an ein und dasselbe höhere Wesen, den Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu fördern."
Die "Entzauberung der Welt", das große aufklärerische Projekt Europas, macht auch vor den letzten Fragen der Metaphysik nicht Halt. Der Glaube an ein übernatürliches Wesen wird buchstäblich "naturalisiert". In ihrem dieses Jahr erschienenen Buch "Der Darwincode" versuchen etwa die beiden Biologen Sabine Paul und Thomas Junker, den evolutionären Nutzen von Religion zu ergründen. Sie stellen einen Zusammenhang zwischen Kunst und Religion her, da beide sich durch ihren geradezu "verschwenderischen Charakter" auszeichneten. Anders gesagt: Sowohl Kunst als auch Religion erfordern einen großen zeitlichen wie finanziellen Aufwand, um für ihre Ernsthaftigkeit, ihre Ideen und Ziele zu werben. Und sowohl Religion als auch Kunst wirken gemeinschaftsbildend, indem sie kollektive Fantasien, Gefühle und Wünsche bündeln. Professor Thomas Junker, Evolutionsbiologe an der Universität Tübingen:
"Meine persönliche Theorie geht dahin zu sagen, dass Religion eine Art Kunst ist, was Ähnliches wie die Kunst, die aber erst in dem Augenblick entsteht, in dem wir Staatenbildung haben. Und sie erreicht etwas Ähnliches, die Kunst erreicht so eine Art Gemeinschaftsbildung. Wenn man mal in einer Gruppe ein Popkonzert oder auch eine Oper erlebt, weiß man, wie stark gemeinschaftsbildend Kunst ist, Ausdruck ihrer kollektiven Gefühle - und dass Religion dasselbe tun allerdings in sehr stark hierarchisierten Gruppen."
Thomas Junker lässt keine Zweifel daran, dass er der Kunst den Vorzug vor der Religion gibt. Religiöse Systeme, in deren Zentrum der Glaube an ein höheres Wesen steht, seien, so Junker, vor höchstens 10000 Jahren entstanden, während die ersten Formen der Kunst, zum Beispiel Höhlenmalereien, bereits seit 36000 Jahren vorzufinden sind. Für ihn ein Zeichen, dass Religion erst mit der Entstehung von sesshaften Großverbänden, von Städten und Staaten zum Einsatz kam, um darin mit mehr oder weniger autoritären Mitteln eine Gemeinschaftsbildung zu erzielen. Dagegen sei, so Junker, die Kunst die frühere - und freundlichere - Strategie gewesen, sozialen Zusammenhalt zu stiften. Denn die kleineren Gruppen von Jägern und Sammlern der frühen Steinzeit hätten weniger durch Zwang als durch ästhetische Aufwertung das eigene Sozialgefüge zu stabilisieren versucht.
"Kunst ist freiwilliger, Religion ist zwanghafter. Und es entsteht einfach in dem Augenblick, in dem man einen stark hierarchischen Staat hat. Die Unterschiede zwischen den Herrschenden und den Beherrschten werden so groß, dass es schwer ist, diese kollektiven Wünsche und Gefühle nur auf Freiwilligkeit zu basieren. Und deswegen wird das mit Zwang unterlegt."
Freilich, so naturwissenschaftlich sich solche Theorien auch geben, so liegt doch viel Spekulation darin. Über, so Junker, "vergleichsweise egalitäre" Jäger- und Sammlerhorden mit Sinn fürs Ästhetische lässt sich trefflich fabulieren ebenso wie über Religion als nachsteinzeitliches Mittel der "Unterwerfung unter die Interessen der Herrschenden". Archäologische Funde geben keine klaren Auskünfte zu diesen Themen, sodass solche Schlussfolgerungen doch mehr auf Mutmaßungen als auf harten Fakten basieren.
Ein klareres Bild freilich über die naturwissenschaftliche Verankerung von Gottesvorstellungen könnte entstehen, wenn sich nachweisen ließe, dass Religiosität - oder zumindest Spiritualität - sozusagen biochemisch in den Körper eingeschrieben wäre. Denn wenn der Glaube an ein höheres Wesen einen Selektionsvorteil für den Homo sapiens darstellt, müsste diese Fähigkeit zum Glauben ja biologisch verankert sein. Anderenfalls könnte sie nicht vererbt werden. Und so machte vor einigen Jahren ein Buch des amerikanischen Molekularbiologen Dean Hamer Schlagzeilen. Darin behauptete er, eine Art Gottes-Gen gefunden zu haben, eine Genvariation, deren Träger besonders gläubig sind. Doch war dies allzu plakativ - und Hamer räumte letztlich selbst ein, dass komplexe menschliche Eigenschaften wie der Gottesglaube von ganzen Gengruppen gesteuert werde. Gar nicht zu reden von Umwelteinflüssen, die in das komplizierte biochemische Geschehen eingreifen. Rüdiger Vaas, Koautor des Buchs "Gott, Gene und Gehirn":
"Es scheint Gene für Spiritualität zu geben, das ist eine Art Teilmenge von Religiosität. Das ist etwa zu 50 Prozent erblich: Und es gibt sogar zwei Kandidatengene, die im Hirnstoffwechsel eine Bedeutung haben. Religiosität selbst jedoch scheint nicht erblich verankert zu sein, sondern ein Nebenprodukt von etwas anderem, nämlich Autoritätsgläubigkeit. Und Autoritätsgläubigkeit, das besagen Zwillingsstudien, hat eine Erblichkeit von 50 Prozent, das hat damit zu tun, wie Menschen Ordnung machen und haben wollen."
Während man also einerseits auf der Suche nach einer - wie auch immer gearteten - Erbsubstanz für religiöse Gefühle ist, arbeitet eine andere Gruppe von Naturwissenschaftlern an der Frage, ob und wo sich solche Gefühle im Gehirn niederschlagen; zum Beispiel, wenn Menschen göttliche Offenbarungen zu vernehmen glauben, oder auch bei den sogenannten Nahtodeserfahrungen: Erfahrungen eines Übertritts zum Beispiel vom Dunkel ins Licht, von denen Menschen berichteten, die am Rand des Todes standen und dann wiederbelebt wurden.
"Bei den außerordentlichen Erlebnissen kann man sagen, dass die auf Fehlfunktionen der Hirnvorgänge basieren. Nahtodeserfahrungen entstehen als Halluzinationen unter Sauerstoffmangel, das kann man auch durch Drogen oder elektrische Stimulationen erzeugen. Oder Offenbarungserlebnisse, die haben oft sehr viel mit Wahnvorstellungen zu tun, wie es bei der Schizophrenie der Fall ist. Menschen hören Stimmen, weil das Gehirn seine eigenen Gedanken nicht mehr als einen Gedanken wahrnimmt, sondern als göttliche Befehle. Und dann gibt es die Schläfenlappenepilepsie, die mit Hyperreligiosität einhergeht, sodass diese Menschen ihr ganzes Leben unter die Religion stellen und unendlich viel schreiben und missionieren."
Die Untersuchung von sogenannten Schläfenlappen-Persönlichkeiten veranlasste den kalifornischen Neuropsychologen Vilayanur Ramachandran sogar zu dem Schluss, dass es im Gehirn ein Gottes-Modul gebe; ein Religionszentrum also, das bei religiösen Erfahrungen aktiv und bei einigen Epileptikern sogar hyperaktiv werde. Diese These ist jedoch umstritten, ebenso wie die des kanadischen Neurologen Michael Persinger, dass selbst Atheisten bei experimenteller Stimulation dieser Hirnregion tiefreligiöse Erfahrungen gemacht hätten. Und doch ziehen Mediziner in Betracht, dass epileptische Störungen ein Auslöser für religiöse Offenbarungserlebnisse gewesen sein könnten; so beispielsweise bei Mohammed - über den früh schon das Gerücht kursierte, dass er an der Fallsucht litt - und zu dem Allah über einen Engel sprach; oder bei der französischen Nationalheldin Johanna von Orleans, der eine göttliche Stimme befahl, Frankreich von den Engländern zu befreien. Und zur Frage steht auch, ob auch beim Apostel Paulus ein epileptischer Anfall auf dem Weg nach Damaskus die Ursache für seine Bekehrung zum Christentum war.
"Das geht zurück auf viele Beobachtungen, dass man vielen Personen, die man dem Kreis der Epilepsiepatienten zurechnet, in bestimmten Formen erhöhte Religiosität zurechnen kann. Die haben tatsächlich Wahrnehmungen von übernatürlichen Wesen, kurz bevor ein epileptischer Anfall erfolgt, oder kurz danach oder anschließend an solche Episoden. Und das scheint eben bevorzugt aufzutreten, wenn der Fokus der Epilepsie im Temporallappen gelegen ist - und zwar im rechten."
Doch auch gewöhnliche religiöse Zustände und Erfahrungen, wie sie buddhistische Mönche in der Meditation und christliche Nonnen beim Beten machen, sind bereits neuropsychologisch untersucht worden. Wolfgang Walkowiak, Zoologe an der Universität Köln, weist allerdings darauf hin, dass auch diese Untersuchungen keineswegs zu eindeutigen Schlüssen Anlass geben.
"Es gibt nicht eine Stelle im Gehirn, deren Aktivität verändert wird. Bei den Mönchen wurde im sogenannten Scheitellappen festgestellt, dass Aktivität heruntergefahren wird. Während die Meditation der Franziskanerinnen zu ganz anderen Ergebnissen geführt hat: Dort wurde Aktivität im Stirnlappen an einer bestimmten Stelle erhöht gefunden. Also man sieht, dass je nachdem von welcher Seite sozusagen man da herangeht, man ganz unterschiedliche Aspekte findet."
Vieles ist also nach wie vor unklar. Doch natürlich gehen die Forschungen weiter. Denn gerade die Erkundung des menschlichen Gehirns boomt; vermag man doch mittels neuer bildgebender Technologien eine immer differenziertere "Landkarte des Gehirns" zu erstellen. Im Rahmen dieses Booms wird auch die Zahl der Studien, die sich mit dem Sitz religiöser Empfindungen befassen, ständig größer. Rüdiger Vaas, der gerade eine Titelgeschichte zur Neurotheologie in "Bild der Wissenschaft" verfasste, berichtet über zwei neue amerikanische Studien zum Thema:
"Es gibt ganz aktuell einige Hirnscanexperimente, und die haben gezeigt, die Gehirne normaler religiöser Menschen arbeiten nicht wesentlich anders, als die Gehirne nicht religiöser Menschen. Aber es hat sich gezeigt, dass bei religiösen Aussagen im Gegensatz zu anderen Aussagen Hirnregionen aktiviert werden, die mit Emotionen zu tun haben, und zwar egal, ob diese Aussagen geglaubt werden oder ob sie zurückgewiesen werden. Eine andere Studie hat gezeigt, dass im religiösen Kontext genau jene neuronalen Verarbeitungswege aktiv sind, die im normalen zwischenmenschlichen Bereich bei der emotionalen Verarbeitung und bei dem abstrakten Denken und Vorstellungsvermögen sowie bei der Kommunikation wirken. Das heißt, gewöhnliche Absichten und Emotionen werden einfach auf übernatürliche Wesen projiziert."
Doch was soll man aus alledem schließen? Wenn alle Erfahrung im Gehirn verarbeitet wird, überrascht es nicht, dass dort auch religiöse Erfahrung repräsentiert ist. Und dann stellt sich die Frage: Ist Gott deshalb nur ein Hirngespinst? Oder hat das Gehirn am Ende eine Antenne ins Übersinnliche?
Es wird keine Antwort auf diese Frage geben. Denn, wie der Theologe und Biologe Ulrich Lüke einmal bemerkte, seien Experimente der Hirnforschung auf der Suche nach Gott ungefähr so sinnvoll wie das Zerlegen eines Fernsehgerätes auf der Suche nach Ulrich Wickert.
"Die entscheidende Frage ist letztlich: Ist Gott ein Hirngespinst oder gibt es eine Hotline zum Himmel? Und das ist eine Frage, die die Hirnforschung oder die Biologie im Allgemeinen nicht abschließend beantworten kann. Sie kann Gott weder beweisen noch widerlegen, sondern das ist eine philosophische Frage."
Rüdiger Vaas, Wissenschaftsjournalist in Stuttgart, schrieb zusammen mit dem Religionswissenschaftler Michael Blume in diesem Jahr das Buch "Gott, Gene und Gehirn". Darin stellen sie fest, dass Religion ein zentraler Bestandteil aller menschlichen Kulturen ist. Es gibt nahezu keine religionslose Gesellschaft auf der Welt. Der Soziobiologe Edward O. Wilson hielt die "Anlage für religiösen Glauben" deshalb auch für einen wahrscheinlich "unauslöschliche[n] Teil der menschlichen Natur".
Doch diese Tatsache beschäftigt nicht länger nur Theologen, Philosophen oder Soziologen. Religion - oder genauer gesagt, Religiosität als Fähigkeit des Menschen, eine Religion zu haben - ist mittlerweile auch zu einem Forschungsfeld für Biologen, Neurologen und Psychologen geworden. Nüchtern fragen sie, was bei religiösen Menschen im Gehirn vorgeht. Fragen danach, welchen irdischen Nutzen Religion haben kann, obwohl sie doch mit all ihren Opfern, Kulten und Ritualen auf den ersten Blick als ein geradezu luxuriöses Unterfangen erscheint.
"Das große Problem ist, dass die meisten Menschen in allen Gesellschaften, die wir kennen, sehr viel Zeit und Geld in ihre religiösen Tätigkeiten investieren. Wenn das ein Luxus ist, dann ist die Frage, ist das ein überflüssiger Luxus und könnte man dieses Geld nicht effektiver woanders hin stecken, nämlich direkt in den Nachwuchs? Und insofern ist es erst mal eine berechtigte naturwissenschaftliche Frage, die Antworten sind noch ziemlich spekulativ."
Aber gerade weil Religion in allen Gesellschaften mit großem Aufwand zelebriert wird, muss sie, so sagen Evolutionsforscher, von großem biologischen Nutzen sein. Denn, wie es der britische Zoologe Richard Dawkins formulierte, "universelle Merkmale einer biologischen Art erfordern eine Darwinsche Erklärung"; und das heißt, sie bieten einen "Selektionsvorteil". Hat sich Religion im Verlauf der Evolution also ausgebildet, weil der Homo sapiens damit besser sein Überleben sichern konnte? Der Kölner Zoologe Professor Wolfgang Walkowiak erläutert, worin dieser Überlebensvorteil von Religion liegen könnte:
"Es werden zwei Aspekte oft genannt, der eine ist ein sehr persönlicher Aspekt: Dadurch, dass der Homo sapiens die Fähigkeit gewonnen hat, sehr weit in die Zukunft zu planen, erkennt er, dass sein Leben endlich ist, und das macht fürchterliche Ängste. Und wenn ich eine Möglichkeit finde, die Natur, die Physik zu überwinden durch Metaphysik, kann das sehr hilfreich sein, die eigene Lebensperspektive sehr viel positiver zu sehen. Der zweite Punkt dabei ist der gesellschaftliche Aspekt. Religion basierend auf diesen spirituellen Erfahrungen, hat etwas Bindendes. Es hat für die soziale Gemeinschaft große Vorteile durch Riten, durch das Glauben an ein und dasselbe höhere Wesen, den Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu fördern."
Die "Entzauberung der Welt", das große aufklärerische Projekt Europas, macht auch vor den letzten Fragen der Metaphysik nicht Halt. Der Glaube an ein übernatürliches Wesen wird buchstäblich "naturalisiert". In ihrem dieses Jahr erschienenen Buch "Der Darwincode" versuchen etwa die beiden Biologen Sabine Paul und Thomas Junker, den evolutionären Nutzen von Religion zu ergründen. Sie stellen einen Zusammenhang zwischen Kunst und Religion her, da beide sich durch ihren geradezu "verschwenderischen Charakter" auszeichneten. Anders gesagt: Sowohl Kunst als auch Religion erfordern einen großen zeitlichen wie finanziellen Aufwand, um für ihre Ernsthaftigkeit, ihre Ideen und Ziele zu werben. Und sowohl Religion als auch Kunst wirken gemeinschaftsbildend, indem sie kollektive Fantasien, Gefühle und Wünsche bündeln. Professor Thomas Junker, Evolutionsbiologe an der Universität Tübingen:
"Meine persönliche Theorie geht dahin zu sagen, dass Religion eine Art Kunst ist, was Ähnliches wie die Kunst, die aber erst in dem Augenblick entsteht, in dem wir Staatenbildung haben. Und sie erreicht etwas Ähnliches, die Kunst erreicht so eine Art Gemeinschaftsbildung. Wenn man mal in einer Gruppe ein Popkonzert oder auch eine Oper erlebt, weiß man, wie stark gemeinschaftsbildend Kunst ist, Ausdruck ihrer kollektiven Gefühle - und dass Religion dasselbe tun allerdings in sehr stark hierarchisierten Gruppen."
Thomas Junker lässt keine Zweifel daran, dass er der Kunst den Vorzug vor der Religion gibt. Religiöse Systeme, in deren Zentrum der Glaube an ein höheres Wesen steht, seien, so Junker, vor höchstens 10000 Jahren entstanden, während die ersten Formen der Kunst, zum Beispiel Höhlenmalereien, bereits seit 36000 Jahren vorzufinden sind. Für ihn ein Zeichen, dass Religion erst mit der Entstehung von sesshaften Großverbänden, von Städten und Staaten zum Einsatz kam, um darin mit mehr oder weniger autoritären Mitteln eine Gemeinschaftsbildung zu erzielen. Dagegen sei, so Junker, die Kunst die frühere - und freundlichere - Strategie gewesen, sozialen Zusammenhalt zu stiften. Denn die kleineren Gruppen von Jägern und Sammlern der frühen Steinzeit hätten weniger durch Zwang als durch ästhetische Aufwertung das eigene Sozialgefüge zu stabilisieren versucht.
"Kunst ist freiwilliger, Religion ist zwanghafter. Und es entsteht einfach in dem Augenblick, in dem man einen stark hierarchischen Staat hat. Die Unterschiede zwischen den Herrschenden und den Beherrschten werden so groß, dass es schwer ist, diese kollektiven Wünsche und Gefühle nur auf Freiwilligkeit zu basieren. Und deswegen wird das mit Zwang unterlegt."
Freilich, so naturwissenschaftlich sich solche Theorien auch geben, so liegt doch viel Spekulation darin. Über, so Junker, "vergleichsweise egalitäre" Jäger- und Sammlerhorden mit Sinn fürs Ästhetische lässt sich trefflich fabulieren ebenso wie über Religion als nachsteinzeitliches Mittel der "Unterwerfung unter die Interessen der Herrschenden". Archäologische Funde geben keine klaren Auskünfte zu diesen Themen, sodass solche Schlussfolgerungen doch mehr auf Mutmaßungen als auf harten Fakten basieren.
Ein klareres Bild freilich über die naturwissenschaftliche Verankerung von Gottesvorstellungen könnte entstehen, wenn sich nachweisen ließe, dass Religiosität - oder zumindest Spiritualität - sozusagen biochemisch in den Körper eingeschrieben wäre. Denn wenn der Glaube an ein höheres Wesen einen Selektionsvorteil für den Homo sapiens darstellt, müsste diese Fähigkeit zum Glauben ja biologisch verankert sein. Anderenfalls könnte sie nicht vererbt werden. Und so machte vor einigen Jahren ein Buch des amerikanischen Molekularbiologen Dean Hamer Schlagzeilen. Darin behauptete er, eine Art Gottes-Gen gefunden zu haben, eine Genvariation, deren Träger besonders gläubig sind. Doch war dies allzu plakativ - und Hamer räumte letztlich selbst ein, dass komplexe menschliche Eigenschaften wie der Gottesglaube von ganzen Gengruppen gesteuert werde. Gar nicht zu reden von Umwelteinflüssen, die in das komplizierte biochemische Geschehen eingreifen. Rüdiger Vaas, Koautor des Buchs "Gott, Gene und Gehirn":
"Es scheint Gene für Spiritualität zu geben, das ist eine Art Teilmenge von Religiosität. Das ist etwa zu 50 Prozent erblich: Und es gibt sogar zwei Kandidatengene, die im Hirnstoffwechsel eine Bedeutung haben. Religiosität selbst jedoch scheint nicht erblich verankert zu sein, sondern ein Nebenprodukt von etwas anderem, nämlich Autoritätsgläubigkeit. Und Autoritätsgläubigkeit, das besagen Zwillingsstudien, hat eine Erblichkeit von 50 Prozent, das hat damit zu tun, wie Menschen Ordnung machen und haben wollen."
Während man also einerseits auf der Suche nach einer - wie auch immer gearteten - Erbsubstanz für religiöse Gefühle ist, arbeitet eine andere Gruppe von Naturwissenschaftlern an der Frage, ob und wo sich solche Gefühle im Gehirn niederschlagen; zum Beispiel, wenn Menschen göttliche Offenbarungen zu vernehmen glauben, oder auch bei den sogenannten Nahtodeserfahrungen: Erfahrungen eines Übertritts zum Beispiel vom Dunkel ins Licht, von denen Menschen berichteten, die am Rand des Todes standen und dann wiederbelebt wurden.
"Bei den außerordentlichen Erlebnissen kann man sagen, dass die auf Fehlfunktionen der Hirnvorgänge basieren. Nahtodeserfahrungen entstehen als Halluzinationen unter Sauerstoffmangel, das kann man auch durch Drogen oder elektrische Stimulationen erzeugen. Oder Offenbarungserlebnisse, die haben oft sehr viel mit Wahnvorstellungen zu tun, wie es bei der Schizophrenie der Fall ist. Menschen hören Stimmen, weil das Gehirn seine eigenen Gedanken nicht mehr als einen Gedanken wahrnimmt, sondern als göttliche Befehle. Und dann gibt es die Schläfenlappenepilepsie, die mit Hyperreligiosität einhergeht, sodass diese Menschen ihr ganzes Leben unter die Religion stellen und unendlich viel schreiben und missionieren."
Die Untersuchung von sogenannten Schläfenlappen-Persönlichkeiten veranlasste den kalifornischen Neuropsychologen Vilayanur Ramachandran sogar zu dem Schluss, dass es im Gehirn ein Gottes-Modul gebe; ein Religionszentrum also, das bei religiösen Erfahrungen aktiv und bei einigen Epileptikern sogar hyperaktiv werde. Diese These ist jedoch umstritten, ebenso wie die des kanadischen Neurologen Michael Persinger, dass selbst Atheisten bei experimenteller Stimulation dieser Hirnregion tiefreligiöse Erfahrungen gemacht hätten. Und doch ziehen Mediziner in Betracht, dass epileptische Störungen ein Auslöser für religiöse Offenbarungserlebnisse gewesen sein könnten; so beispielsweise bei Mohammed - über den früh schon das Gerücht kursierte, dass er an der Fallsucht litt - und zu dem Allah über einen Engel sprach; oder bei der französischen Nationalheldin Johanna von Orleans, der eine göttliche Stimme befahl, Frankreich von den Engländern zu befreien. Und zur Frage steht auch, ob auch beim Apostel Paulus ein epileptischer Anfall auf dem Weg nach Damaskus die Ursache für seine Bekehrung zum Christentum war.
"Das geht zurück auf viele Beobachtungen, dass man vielen Personen, die man dem Kreis der Epilepsiepatienten zurechnet, in bestimmten Formen erhöhte Religiosität zurechnen kann. Die haben tatsächlich Wahrnehmungen von übernatürlichen Wesen, kurz bevor ein epileptischer Anfall erfolgt, oder kurz danach oder anschließend an solche Episoden. Und das scheint eben bevorzugt aufzutreten, wenn der Fokus der Epilepsie im Temporallappen gelegen ist - und zwar im rechten."
Doch auch gewöhnliche religiöse Zustände und Erfahrungen, wie sie buddhistische Mönche in der Meditation und christliche Nonnen beim Beten machen, sind bereits neuropsychologisch untersucht worden. Wolfgang Walkowiak, Zoologe an der Universität Köln, weist allerdings darauf hin, dass auch diese Untersuchungen keineswegs zu eindeutigen Schlüssen Anlass geben.
"Es gibt nicht eine Stelle im Gehirn, deren Aktivität verändert wird. Bei den Mönchen wurde im sogenannten Scheitellappen festgestellt, dass Aktivität heruntergefahren wird. Während die Meditation der Franziskanerinnen zu ganz anderen Ergebnissen geführt hat: Dort wurde Aktivität im Stirnlappen an einer bestimmten Stelle erhöht gefunden. Also man sieht, dass je nachdem von welcher Seite sozusagen man da herangeht, man ganz unterschiedliche Aspekte findet."
Vieles ist also nach wie vor unklar. Doch natürlich gehen die Forschungen weiter. Denn gerade die Erkundung des menschlichen Gehirns boomt; vermag man doch mittels neuer bildgebender Technologien eine immer differenziertere "Landkarte des Gehirns" zu erstellen. Im Rahmen dieses Booms wird auch die Zahl der Studien, die sich mit dem Sitz religiöser Empfindungen befassen, ständig größer. Rüdiger Vaas, der gerade eine Titelgeschichte zur Neurotheologie in "Bild der Wissenschaft" verfasste, berichtet über zwei neue amerikanische Studien zum Thema:
"Es gibt ganz aktuell einige Hirnscanexperimente, und die haben gezeigt, die Gehirne normaler religiöser Menschen arbeiten nicht wesentlich anders, als die Gehirne nicht religiöser Menschen. Aber es hat sich gezeigt, dass bei religiösen Aussagen im Gegensatz zu anderen Aussagen Hirnregionen aktiviert werden, die mit Emotionen zu tun haben, und zwar egal, ob diese Aussagen geglaubt werden oder ob sie zurückgewiesen werden. Eine andere Studie hat gezeigt, dass im religiösen Kontext genau jene neuronalen Verarbeitungswege aktiv sind, die im normalen zwischenmenschlichen Bereich bei der emotionalen Verarbeitung und bei dem abstrakten Denken und Vorstellungsvermögen sowie bei der Kommunikation wirken. Das heißt, gewöhnliche Absichten und Emotionen werden einfach auf übernatürliche Wesen projiziert."
Doch was soll man aus alledem schließen? Wenn alle Erfahrung im Gehirn verarbeitet wird, überrascht es nicht, dass dort auch religiöse Erfahrung repräsentiert ist. Und dann stellt sich die Frage: Ist Gott deshalb nur ein Hirngespinst? Oder hat das Gehirn am Ende eine Antenne ins Übersinnliche?
Es wird keine Antwort auf diese Frage geben. Denn, wie der Theologe und Biologe Ulrich Lüke einmal bemerkte, seien Experimente der Hirnforschung auf der Suche nach Gott ungefähr so sinnvoll wie das Zerlegen eines Fernsehgerätes auf der Suche nach Ulrich Wickert.
"Die entscheidende Frage ist letztlich: Ist Gott ein Hirngespinst oder gibt es eine Hotline zum Himmel? Und das ist eine Frage, die die Hirnforschung oder die Biologie im Allgemeinen nicht abschließend beantworten kann. Sie kann Gott weder beweisen noch widerlegen, sondern das ist eine philosophische Frage."