"Treffpunkt Dialog" in einem kleinen Raum im Souterrain eines Kiewer Wohnblocks. Um den runden Tisch sitzen sechs Frauen. Sie sprechen über ihre Zeit als Zwangsarbeiterinnen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Die Frauen treffen sich regelmäßig, gehen ins Theater, machen Ausflüge oder sitzen einfach bei einer Tasse Tee zusammen, so wie heute.
Das aus Deutschland geförderte Programm "Treffpunkt Dialog" soll Opfer des Nationalsozialismus dabei unterstützen, stärker am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, den Austausch untereinander und den Dialog mit anderen Generationen anregen. Deshalb sind auch immer wieder Studenten und Schüler dabei, die etwas über das Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen erfahren wollen.
Fast drei Millionen Zivilisten aus der Sowjetunion mussten während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit für die Deutschen leisten. Die meisten waren Frauen und stammten aus der heutigen Ukraine.
Wiktorija Gesterjowa wurde mit 15 Jahren aus Kiew von der Straße weg nach Deutschland verschleppt. Der heute 85-jährigen zierlichen Frau mit den kurzen rötlichen Haaren fällt es noch immer schwer, darüber zu sprechen.
"Sie haben mich zu einem Bauern gebracht, nach Mildenberg, nicht weit von Berlin. Dort arbeitete ich vor allem auf dem Feld. Hungrig waren wir nicht, aber die Arbeit war schwer, sehr, sehr schwer."
Nach Kriegsende kehrte sie nach Kiew zurück. Dort musste sie wieder und wieder zum Verhör. Denn die Sowjetunion unter Stalin warf den Zwangsarbeitern kollektiv Kollaboration mit dem Feind vor, sie galten als Volksfeinde. Wiktorija Gesterjowa konnte trotzdem die Schule beenden, ein Ingenieurstudium absolvieren, und dann als Übungsleiterin an der Universität arbeiten. Die Tatsache, dass sie als Zwangsarbeiterin in Deutschland war, galt es aber streng geheim zu halten, vor allem bei Bewerbungen.
"Da gab es eine Spalte "Waren Sie im Ausland?", ich schrieb: nein, war ich nicht. Denn sonst wäre es das Ende gewesen. Sie hätten mich nicht bei einer Arbeit angenommen, nicht bei einer einzigen, von Studium hätte keine Rede sein können."
Selbst ihr Mann erfuhr erst nach fünf Ehejahren, dass sie Zwangsarbeiterin in Deutschland war – und das nur, weil es ihr aus Versehen herausgerutscht ist. Obwohl es seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr gefährlich ist, spricht Wiktorija Gesterjowa bis heute nur im vertrauten Kreis über diesen Teil ihres Lebens.
Jurij Fuks ist einer der wenigen ukrainischen Juden, die den Holocaust überlebten. Fünf Jahre war er alt, als die Deutschen im September 1941 Kiew besetzten und wenige Tage danach mehr als 33.000 Juden in der Schlucht Babij Jar ermordeten. Als die Gestapo 1943 seine Mutter und seine Schwester abholte, war Jurij Fuks zufällig bei der Nachbarin, einer nicht-jüdischen Ukrainerin. Sie versteckte den Jungen in einem Häuschen am Stadtrand. Wirklich sicher war er aber dort auch nicht:
"Wenn da etwas Verdächtiges gewesen wäre, einen Keller zum Verstecken hätte es dort nicht gegeben, alles war ganz einfach."
Nach dem Ende des Krieges kam Jurij Fuks ins Kinderheim, später zu einer Tante, der einzigen nahen Verwandten, die noch am Leben war.
Fast die Hälfte der 1,5 Millionen ukrainischen Juden war dem Holocaust zum Opfer gefallen.
Die Ukraine war einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkrieges. Im Krieg gegen die Sowjetunion, durch den Hitler neuen Lebensraum im Osten erobern wollte, erreichte die rassistische Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Regimes eine neue Dimension: Die slawischen Bewohner galten den Nationalsozialisten als "minderwertiges Menschenmaterial". Ihr Lebensrecht reduzierten sie auf die Verwertbarkeit als Arbeitskraft; Millionen Menschen sollten verhungern. Zudem töteten Mordkommandos Juden und Roma sowie Bewohner von Heimen für psychisch Kranke und Behinderte.
Der Zahl von sechs bis sieben Millionen deutschen Kriegstoten steht die von 27 Millionen getöteten Sowjetbürgern gegenüber, davon neun Millionen Gefallene.
Viele, die überlebt hatten, mussten sich nach dem Krieg dafür rechtfertigen, so auch Juden, wie Boris Zabarko, Vorsitzender der Ukrainischen Vereinigung jüdischer ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge.
"In der Propaganda hieß es, alle Juden seien vernichtet worden. Aber es zeigte sich, dass ein ganz kleines Häufchen überlebt hatte. Sowohl der Staat als auch ihre Umgebung sahen sie schief an: Warum hast du überlebt, während die anderen Juden vernichtet worden sind? Man begann, sie der Spionage zu beschuldigen, der Kollaboration mit den Deutschen."
Deshalb sprachen die Überlebenden des Holocaust in der Sowjetunion kaum über ihr Schicksal. Zumal 1948 eine starke Welle des Antisemitismus einsetzte: Zahlreiche der verbliebenen jüdischen Kultureinrichtungen wurden geschlossen, jüdische Intellektuelle ermordet. Prominente, in der Mehrzahl jüdischstämmige Ärzte wurden eines Mordkomplotts gegen die Sowjetführung um Josef Stalin bezichtigt.
Der Tod Stalins setzte diesem Prozess 1953 ein Ende. Doch galten für Juden weiterhin Beschränkungen beim Zugang zu Hochschulen und bestimmten Arbeitsplätzen.
Aber auch ehemalige Zwangsarbeiter durften beispielsweise nicht in der Rüstungsproduktion arbeiten.
Da viele Opfer des Nationalsozialismus nicht genügend Beitragsjahre nachweisen können oder ein geringes Einkommen hatten, erhalten sie heute selbst für ukrainische Verhältnisse kleine Renten.
Obwohl Wiktorija Gesterjowas Rente nur knapp unter dem ukrainischen Durchschnitt liegt, reicht sie dennoch nicht für das Notwendigste:
"Ich bin auf dem linken Auge blind, grauer Star. Aber ich kann das nicht operieren lassen, das kostet 7000 Hrywnja, die habe ich nicht."
Das wären umgerechnet etwa 700 Euro, für Wiktorija Gesterjowa rund sieben Monatsrenten. Bereits heute muss sie wegen verschiedener Krankheiten einen großen Teil ihrer rund 100 Euro Rente für Medikamente ausgeben, denn eine Krankenversicherung gibt es nicht. Die 900 Euro, die sie vor einigen Jahren von der deutschen Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" als Entschädigung für die von ihr geleistete Zwangsarbeit erhielt, investierte sie in die Ausbildung ihrer Enkel.
Jurij Fuks, der als kleiner Junge den Holocaust überlebte, ist froh, dass er heute gesundheitlich in einer recht guten Verfassung ist. Doch seine Frau hat schweres Asthma und bekommt von der jüdischen Hilfsorganisation Hesed regelmäßig Inhaliergeräte.
"Denn das weitet ihre Bronchien, ohne könnte sie nicht lange leben. Inhalatoren sind teuer, das ist für uns eine große Hilfe."
Obwohl Jurij Fuks monatlich 240 Euro Entschädigung aus Deutschland erhält und er und seine Frau zusammen umgerechnet rund 170 Euro Rente beziehen, sind sie sehr froh über die Hilfe der Hesed. Denn in manchen Monaten summieren sich die Kosten für Medikamente auf ein Viertel ihres Budgets.
Viele der heute etwa 4000 Holocaust-Überlebenden in der Ukraine befinden sich finanziell in weitaus schwierigerer Lage. Rund ein Viertel von ihnen hat keinen Anspruch auf eine monatliche Entschädigungszahlung aus Deutschland, da sie zu kurz in dem von den Deutschen besetzten Gebiet oder in einem Konzentrationslager waren. Boris Zabarko, der Vorsitzende der Ukrainischen Vereinigung der Holocaust-Überlebenden, kritisiert das nachdrücklich:
"Wir halten das für ungerecht. Denn es reichte, als Jude einen, zwei oder drei Tage in dem besetzten Gebiet zu sein, um sein Leben zu verlieren."
Bei ehemaligen KZ-Häftlingen können inzwischen Ausnahmen gemacht werden, doch Zabarko möchte das für alle Holocaust-Überlebenden erreichen. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Opfer der Schoah in Mittel- und Osteuropa wegen des Kalten Krieges ohnehin erst mehr als 40 Jahre nach Kriegsende Entschädigungszahlungen aus Deutschland bekommen konnten.
Neben finanziellen Sorgen leiden viele NS-Opfer heute unter großer Einsamkeit, da sie nach dem Krieg das zerrissene soziale Netz nicht mehr neu knüpfen und keine Familie gründen konnten.
Hinzu kommt, dass sie von der ukrainischen Gesellschaft wenig Anerkennung bekommen, wie Andrij Portnow betont. Er ist Historiker und Chefredakteur der Zeitschrift "Ukraina Moderna" und beschäftigt sich intensiv mit der ukrainischen Geschichtspolitik – auch in Bezug auf die Opfer des Nationalsozialismus. Er verweist darauf, dass deren Status in der Ukraine sehr niedrig sei und zurückstehe hinter dem der Veteranen, die an der Front gekämpft haben.
"Diese Leute bekamen sowohl Anerkennung als auch Entschädigung vor allem aus dem Ausland, aus Deutschland, Österreich, den USA und Israel."
Rechtlich sind die Opfer des Nationalsozialismus in der Ukraine den Kriegsveteranen mittlerweile gleichgestellt. Wie diese erhalten sie Rentenzuschläge und Vergünstigungen, wie etwa Ermäßigungen bei Miete, Strom und Gas oder die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.
Doch obwohl die ehemalige Zwangsarbeiterin Wiktorija Gesterjowa laut Gesetz nun schon fast 20 Jahre den gleichen Status wie ein Kriegsveteran hat, bekommt sie die alten Vorbehalte gegen Opfer des Nationalsozialismus noch oft zu spüren, zum Beispiel bei Behördengängen.
"Wenn ich sage, ich bin doch Kriegsteilnehmerin, heißt es "Sie sind den Kriegsteilnehmern gleichgestellt, Sie sind ein Opfer des Faschismus", nach dem Motto "Was haben Sie denn für uns getan?" Manchmal kränkt mich das."
Iwan Tereschtschenko kann sich weder auf das ukrainische NS-Opfer-Gesetz berufen, noch hat er Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus Deutschland. Denn Iwan Tereschtschenko war als sowjetischer Soldat in deutscher Kriegsgefangenschaft.
Dort musste der heute 89-Jährige auch Zwangsarbeit verrichten. Der hochgewachsene Mann mit den durchdringend blauen Augen erinnert sich an viele Details:
"Vor allem waren das Erdarbeiten, in der Erde waren schwere Steine, eine schwere Arbeit. 100 Gramm Brot gab's und Kaffee und Suppe."
Nur knapp entging er dem Erfrierungstod.
Für die sowjetischen Soldaten galt die Genfer Konvention nicht, die Deutschen sahen sie als "Untermenschen" an, ließen einen großen Teil von ihnen verhungern. Über die Hälfte der fast sechs Millionen sowjetischen Soldaten in deutscher Gefangenschaft starb. Bei den westalliierten Kriegsgefangenen waren es 3,5 Prozent.
In der Ukraine werden die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, auch auf eine Entschädigung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" hatten sie keinen Anspruch. Aus der Sicht des Historikers Andrij Portnow ist das eine der größten Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg.
"Wenn es um die Gesellschaft geht, um das Bild des Krieges, ist es sehr wichtig, dass die Gruppe der Kriegsgefangenen darin auftaucht, denn es handelt sich um einen sehr wichtigen Teil der gesamten Kriegsgeschichte, um die Geschichte von Millionen Menschen."
Anders als viele seiner Kameraden kam Iwan Tereschtschenko nach der Befreiung durch die Rote Armee nicht in sowjetische Lagerhaft, doch musste er später in seinem Beruf als Straßenbauingenieur Nachteile aufgrund seiner Kriegsgefangenschaft hinnehmen.
"Beim Aufstieg auf der Karriereleiter. Sie vertrauten mir nicht, weil ich in Gefangenschaft war, ja so war's!"
Heute benötigt Iwan Tereschtschenko Medikamente gegen Schwindel, Herzrhythmusstörungen, Gelenkschmerzen und für die Augen. Seine Rente und der Zuschlag, den er als Kriegsveteran erhält, reichen dafür jedoch nicht aus.
Deshalb unterstützt ihn der deutsche Verein Kontakte-Kontakty, der Spenden sammelt für NS-Opfer, die keinen Anspruch auf offizielle deutsche Entschädigungszahlungen haben.
Neben der materiellen Hilfe schätzt Tereschtschenko vor allem, dass er durch Kontakte-Kontakty Anerkennung für das Erlebte erfahren hat.
"Von Kontakty habe ich sehr viel Angenehmes bekommen, interessante Informationen und einen persönlichen Briefwechsel. Dieser Austausch ist eine große moralische Unterstützung."
Einen Hauptgrund für die mangelnde Anerkennung von Opfern wie den ehemaligen Kriegsgefangenen sieht der Historiker Andrij Portnow in der ukrainischen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg. Während in Westeuropa vor allem die entsetzliche Gewalt im Vordergrund stehe, die im Holocaust gipfelte, sei das Bild in der Ukraine noch immer vom Sieg der Roten Armee geprägt – trotz Versuchen, dies zu verändern.
"Man hat sich in der Ukraine bemüht, wegzugehen von diesem Breschnewschen Bild des Krieges, in dem der Sieg betont wurde. Der Sieg und nicht das Leid, stand an erster Stelle. In der Ukraine hat man versucht, an die erste Stelle die Erfahrung der einfachen Leute zu setzen, darunter auch das Leid."
Doch laut Portnow ist dieses Bild noch immer sehr widersprüchlich, stehen oftmals unvereinbare Elemente des sowjetischen und des postsowjetischen Bildes nebeneinander.
Diese Sicht auf den Krieg wirkt sich auch im Umgang mit dem Thema Holocaust aus. So kritisiert Boris Zabarko, der Vorsitzende der Ukrainischen Vereinigung der Holocaust-Überlebenden, dass es bis heute in der Ukraine keine Politik nationalen Gedenkens gebe.
"Leider gibt es in der Ukraine bis heute kein Holocaust-Museum. Leider gib es an zahlreichen Orten, wo Massenerschießungen stattfanden, bis heute weder Inschriften noch Mahnmale."
Zabarko kritisiert außerdem, dass der Holocaust in den Schulen nur sehr unzureichend thematisiert werde.
Dieser Umstand erscheine umso gravierender, da auch ein Großteil der Erinnerungen von Überlebenden verloren gegangen sei. Denn die gesamte Sowjetzeit hindurch hätten sie Angst gehabt, über das Erlebte zu sprechen. Als Zabarko Mitte der 90er-Jahre begann, die Erinnerungen Überlebender zu sammeln, waren viele bereits verstorben. Dennoch hat er inzwischen vier Bücher mit fast 400 Schicksalen veröffentlicht, das fünfte ist in Arbeit.
"Denn wir wollen die Erinnerung an jedes Schtetl erhalten. Aber an vielen Orten gibt es schon keinen einzigen Juden mehr. In diesem Sinne ist die Endlösung der Judenfrage in vielen Schtetls leider vollzogen."
Zabarko bedauert sehr, dass deshalb in der Ukraine bis heute sehr wenig über Einzelheiten des Holocausts bekannt sei, etwa wo sich Gettos und Konzentrationslager befanden und wie viele Menschen dort umkamen.
Mangelhaft ist die Erinnerungspolitik nach Meinung des Historikers Andrij Portnow aber auch in Bezug auf andere Gruppen von NS-Opfern, wie etwa ehemalige Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene. Damit sich die gesellschaftliche Wahrnehmung in Bezug auf alle NS-Opfer verändere, bedürfe es laut Portnow eines anderen Bildes des Krieges.
"Der Idealfall wäre, wenn in der Ukraine Schulbücher und Museen geschaffen würden, die ein ganz anderes Bild des Krieges zeigen."
Ein Bild, bei dem die Opfer im Zentrum stehen. Und zwar alle Opfergruppen gleichermaßen. Portnow betont, dass die Zeit dränge – sind doch die letzten Zeitzeugen bereits betagt.
Das aus Deutschland geförderte Programm "Treffpunkt Dialog" soll Opfer des Nationalsozialismus dabei unterstützen, stärker am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, den Austausch untereinander und den Dialog mit anderen Generationen anregen. Deshalb sind auch immer wieder Studenten und Schüler dabei, die etwas über das Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen erfahren wollen.
Fast drei Millionen Zivilisten aus der Sowjetunion mussten während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit für die Deutschen leisten. Die meisten waren Frauen und stammten aus der heutigen Ukraine.
Wiktorija Gesterjowa wurde mit 15 Jahren aus Kiew von der Straße weg nach Deutschland verschleppt. Der heute 85-jährigen zierlichen Frau mit den kurzen rötlichen Haaren fällt es noch immer schwer, darüber zu sprechen.
"Sie haben mich zu einem Bauern gebracht, nach Mildenberg, nicht weit von Berlin. Dort arbeitete ich vor allem auf dem Feld. Hungrig waren wir nicht, aber die Arbeit war schwer, sehr, sehr schwer."
Nach Kriegsende kehrte sie nach Kiew zurück. Dort musste sie wieder und wieder zum Verhör. Denn die Sowjetunion unter Stalin warf den Zwangsarbeitern kollektiv Kollaboration mit dem Feind vor, sie galten als Volksfeinde. Wiktorija Gesterjowa konnte trotzdem die Schule beenden, ein Ingenieurstudium absolvieren, und dann als Übungsleiterin an der Universität arbeiten. Die Tatsache, dass sie als Zwangsarbeiterin in Deutschland war, galt es aber streng geheim zu halten, vor allem bei Bewerbungen.
"Da gab es eine Spalte "Waren Sie im Ausland?", ich schrieb: nein, war ich nicht. Denn sonst wäre es das Ende gewesen. Sie hätten mich nicht bei einer Arbeit angenommen, nicht bei einer einzigen, von Studium hätte keine Rede sein können."
Selbst ihr Mann erfuhr erst nach fünf Ehejahren, dass sie Zwangsarbeiterin in Deutschland war – und das nur, weil es ihr aus Versehen herausgerutscht ist. Obwohl es seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr gefährlich ist, spricht Wiktorija Gesterjowa bis heute nur im vertrauten Kreis über diesen Teil ihres Lebens.
Jurij Fuks ist einer der wenigen ukrainischen Juden, die den Holocaust überlebten. Fünf Jahre war er alt, als die Deutschen im September 1941 Kiew besetzten und wenige Tage danach mehr als 33.000 Juden in der Schlucht Babij Jar ermordeten. Als die Gestapo 1943 seine Mutter und seine Schwester abholte, war Jurij Fuks zufällig bei der Nachbarin, einer nicht-jüdischen Ukrainerin. Sie versteckte den Jungen in einem Häuschen am Stadtrand. Wirklich sicher war er aber dort auch nicht:
"Wenn da etwas Verdächtiges gewesen wäre, einen Keller zum Verstecken hätte es dort nicht gegeben, alles war ganz einfach."
Nach dem Ende des Krieges kam Jurij Fuks ins Kinderheim, später zu einer Tante, der einzigen nahen Verwandten, die noch am Leben war.
Fast die Hälfte der 1,5 Millionen ukrainischen Juden war dem Holocaust zum Opfer gefallen.
Die Ukraine war einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkrieges. Im Krieg gegen die Sowjetunion, durch den Hitler neuen Lebensraum im Osten erobern wollte, erreichte die rassistische Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Regimes eine neue Dimension: Die slawischen Bewohner galten den Nationalsozialisten als "minderwertiges Menschenmaterial". Ihr Lebensrecht reduzierten sie auf die Verwertbarkeit als Arbeitskraft; Millionen Menschen sollten verhungern. Zudem töteten Mordkommandos Juden und Roma sowie Bewohner von Heimen für psychisch Kranke und Behinderte.
Der Zahl von sechs bis sieben Millionen deutschen Kriegstoten steht die von 27 Millionen getöteten Sowjetbürgern gegenüber, davon neun Millionen Gefallene.
Viele, die überlebt hatten, mussten sich nach dem Krieg dafür rechtfertigen, so auch Juden, wie Boris Zabarko, Vorsitzender der Ukrainischen Vereinigung jüdischer ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge.
"In der Propaganda hieß es, alle Juden seien vernichtet worden. Aber es zeigte sich, dass ein ganz kleines Häufchen überlebt hatte. Sowohl der Staat als auch ihre Umgebung sahen sie schief an: Warum hast du überlebt, während die anderen Juden vernichtet worden sind? Man begann, sie der Spionage zu beschuldigen, der Kollaboration mit den Deutschen."
Deshalb sprachen die Überlebenden des Holocaust in der Sowjetunion kaum über ihr Schicksal. Zumal 1948 eine starke Welle des Antisemitismus einsetzte: Zahlreiche der verbliebenen jüdischen Kultureinrichtungen wurden geschlossen, jüdische Intellektuelle ermordet. Prominente, in der Mehrzahl jüdischstämmige Ärzte wurden eines Mordkomplotts gegen die Sowjetführung um Josef Stalin bezichtigt.
Der Tod Stalins setzte diesem Prozess 1953 ein Ende. Doch galten für Juden weiterhin Beschränkungen beim Zugang zu Hochschulen und bestimmten Arbeitsplätzen.
Aber auch ehemalige Zwangsarbeiter durften beispielsweise nicht in der Rüstungsproduktion arbeiten.
Da viele Opfer des Nationalsozialismus nicht genügend Beitragsjahre nachweisen können oder ein geringes Einkommen hatten, erhalten sie heute selbst für ukrainische Verhältnisse kleine Renten.
Obwohl Wiktorija Gesterjowas Rente nur knapp unter dem ukrainischen Durchschnitt liegt, reicht sie dennoch nicht für das Notwendigste:
"Ich bin auf dem linken Auge blind, grauer Star. Aber ich kann das nicht operieren lassen, das kostet 7000 Hrywnja, die habe ich nicht."
Das wären umgerechnet etwa 700 Euro, für Wiktorija Gesterjowa rund sieben Monatsrenten. Bereits heute muss sie wegen verschiedener Krankheiten einen großen Teil ihrer rund 100 Euro Rente für Medikamente ausgeben, denn eine Krankenversicherung gibt es nicht. Die 900 Euro, die sie vor einigen Jahren von der deutschen Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" als Entschädigung für die von ihr geleistete Zwangsarbeit erhielt, investierte sie in die Ausbildung ihrer Enkel.
Jurij Fuks, der als kleiner Junge den Holocaust überlebte, ist froh, dass er heute gesundheitlich in einer recht guten Verfassung ist. Doch seine Frau hat schweres Asthma und bekommt von der jüdischen Hilfsorganisation Hesed regelmäßig Inhaliergeräte.
"Denn das weitet ihre Bronchien, ohne könnte sie nicht lange leben. Inhalatoren sind teuer, das ist für uns eine große Hilfe."
Obwohl Jurij Fuks monatlich 240 Euro Entschädigung aus Deutschland erhält und er und seine Frau zusammen umgerechnet rund 170 Euro Rente beziehen, sind sie sehr froh über die Hilfe der Hesed. Denn in manchen Monaten summieren sich die Kosten für Medikamente auf ein Viertel ihres Budgets.
Viele der heute etwa 4000 Holocaust-Überlebenden in der Ukraine befinden sich finanziell in weitaus schwierigerer Lage. Rund ein Viertel von ihnen hat keinen Anspruch auf eine monatliche Entschädigungszahlung aus Deutschland, da sie zu kurz in dem von den Deutschen besetzten Gebiet oder in einem Konzentrationslager waren. Boris Zabarko, der Vorsitzende der Ukrainischen Vereinigung der Holocaust-Überlebenden, kritisiert das nachdrücklich:
"Wir halten das für ungerecht. Denn es reichte, als Jude einen, zwei oder drei Tage in dem besetzten Gebiet zu sein, um sein Leben zu verlieren."
Bei ehemaligen KZ-Häftlingen können inzwischen Ausnahmen gemacht werden, doch Zabarko möchte das für alle Holocaust-Überlebenden erreichen. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Opfer der Schoah in Mittel- und Osteuropa wegen des Kalten Krieges ohnehin erst mehr als 40 Jahre nach Kriegsende Entschädigungszahlungen aus Deutschland bekommen konnten.
Neben finanziellen Sorgen leiden viele NS-Opfer heute unter großer Einsamkeit, da sie nach dem Krieg das zerrissene soziale Netz nicht mehr neu knüpfen und keine Familie gründen konnten.
Hinzu kommt, dass sie von der ukrainischen Gesellschaft wenig Anerkennung bekommen, wie Andrij Portnow betont. Er ist Historiker und Chefredakteur der Zeitschrift "Ukraina Moderna" und beschäftigt sich intensiv mit der ukrainischen Geschichtspolitik – auch in Bezug auf die Opfer des Nationalsozialismus. Er verweist darauf, dass deren Status in der Ukraine sehr niedrig sei und zurückstehe hinter dem der Veteranen, die an der Front gekämpft haben.
"Diese Leute bekamen sowohl Anerkennung als auch Entschädigung vor allem aus dem Ausland, aus Deutschland, Österreich, den USA und Israel."
Rechtlich sind die Opfer des Nationalsozialismus in der Ukraine den Kriegsveteranen mittlerweile gleichgestellt. Wie diese erhalten sie Rentenzuschläge und Vergünstigungen, wie etwa Ermäßigungen bei Miete, Strom und Gas oder die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.
Doch obwohl die ehemalige Zwangsarbeiterin Wiktorija Gesterjowa laut Gesetz nun schon fast 20 Jahre den gleichen Status wie ein Kriegsveteran hat, bekommt sie die alten Vorbehalte gegen Opfer des Nationalsozialismus noch oft zu spüren, zum Beispiel bei Behördengängen.
"Wenn ich sage, ich bin doch Kriegsteilnehmerin, heißt es "Sie sind den Kriegsteilnehmern gleichgestellt, Sie sind ein Opfer des Faschismus", nach dem Motto "Was haben Sie denn für uns getan?" Manchmal kränkt mich das."
Iwan Tereschtschenko kann sich weder auf das ukrainische NS-Opfer-Gesetz berufen, noch hat er Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus Deutschland. Denn Iwan Tereschtschenko war als sowjetischer Soldat in deutscher Kriegsgefangenschaft.
Dort musste der heute 89-Jährige auch Zwangsarbeit verrichten. Der hochgewachsene Mann mit den durchdringend blauen Augen erinnert sich an viele Details:
"Vor allem waren das Erdarbeiten, in der Erde waren schwere Steine, eine schwere Arbeit. 100 Gramm Brot gab's und Kaffee und Suppe."
Nur knapp entging er dem Erfrierungstod.
Für die sowjetischen Soldaten galt die Genfer Konvention nicht, die Deutschen sahen sie als "Untermenschen" an, ließen einen großen Teil von ihnen verhungern. Über die Hälfte der fast sechs Millionen sowjetischen Soldaten in deutscher Gefangenschaft starb. Bei den westalliierten Kriegsgefangenen waren es 3,5 Prozent.
In der Ukraine werden die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, auch auf eine Entschädigung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" hatten sie keinen Anspruch. Aus der Sicht des Historikers Andrij Portnow ist das eine der größten Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg.
"Wenn es um die Gesellschaft geht, um das Bild des Krieges, ist es sehr wichtig, dass die Gruppe der Kriegsgefangenen darin auftaucht, denn es handelt sich um einen sehr wichtigen Teil der gesamten Kriegsgeschichte, um die Geschichte von Millionen Menschen."
Anders als viele seiner Kameraden kam Iwan Tereschtschenko nach der Befreiung durch die Rote Armee nicht in sowjetische Lagerhaft, doch musste er später in seinem Beruf als Straßenbauingenieur Nachteile aufgrund seiner Kriegsgefangenschaft hinnehmen.
"Beim Aufstieg auf der Karriereleiter. Sie vertrauten mir nicht, weil ich in Gefangenschaft war, ja so war's!"
Heute benötigt Iwan Tereschtschenko Medikamente gegen Schwindel, Herzrhythmusstörungen, Gelenkschmerzen und für die Augen. Seine Rente und der Zuschlag, den er als Kriegsveteran erhält, reichen dafür jedoch nicht aus.
Deshalb unterstützt ihn der deutsche Verein Kontakte-Kontakty, der Spenden sammelt für NS-Opfer, die keinen Anspruch auf offizielle deutsche Entschädigungszahlungen haben.
Neben der materiellen Hilfe schätzt Tereschtschenko vor allem, dass er durch Kontakte-Kontakty Anerkennung für das Erlebte erfahren hat.
"Von Kontakty habe ich sehr viel Angenehmes bekommen, interessante Informationen und einen persönlichen Briefwechsel. Dieser Austausch ist eine große moralische Unterstützung."
Einen Hauptgrund für die mangelnde Anerkennung von Opfern wie den ehemaligen Kriegsgefangenen sieht der Historiker Andrij Portnow in der ukrainischen Sicht auf den Zweiten Weltkrieg. Während in Westeuropa vor allem die entsetzliche Gewalt im Vordergrund stehe, die im Holocaust gipfelte, sei das Bild in der Ukraine noch immer vom Sieg der Roten Armee geprägt – trotz Versuchen, dies zu verändern.
"Man hat sich in der Ukraine bemüht, wegzugehen von diesem Breschnewschen Bild des Krieges, in dem der Sieg betont wurde. Der Sieg und nicht das Leid, stand an erster Stelle. In der Ukraine hat man versucht, an die erste Stelle die Erfahrung der einfachen Leute zu setzen, darunter auch das Leid."
Doch laut Portnow ist dieses Bild noch immer sehr widersprüchlich, stehen oftmals unvereinbare Elemente des sowjetischen und des postsowjetischen Bildes nebeneinander.
Diese Sicht auf den Krieg wirkt sich auch im Umgang mit dem Thema Holocaust aus. So kritisiert Boris Zabarko, der Vorsitzende der Ukrainischen Vereinigung der Holocaust-Überlebenden, dass es bis heute in der Ukraine keine Politik nationalen Gedenkens gebe.
"Leider gibt es in der Ukraine bis heute kein Holocaust-Museum. Leider gib es an zahlreichen Orten, wo Massenerschießungen stattfanden, bis heute weder Inschriften noch Mahnmale."
Zabarko kritisiert außerdem, dass der Holocaust in den Schulen nur sehr unzureichend thematisiert werde.
Dieser Umstand erscheine umso gravierender, da auch ein Großteil der Erinnerungen von Überlebenden verloren gegangen sei. Denn die gesamte Sowjetzeit hindurch hätten sie Angst gehabt, über das Erlebte zu sprechen. Als Zabarko Mitte der 90er-Jahre begann, die Erinnerungen Überlebender zu sammeln, waren viele bereits verstorben. Dennoch hat er inzwischen vier Bücher mit fast 400 Schicksalen veröffentlicht, das fünfte ist in Arbeit.
"Denn wir wollen die Erinnerung an jedes Schtetl erhalten. Aber an vielen Orten gibt es schon keinen einzigen Juden mehr. In diesem Sinne ist die Endlösung der Judenfrage in vielen Schtetls leider vollzogen."
Zabarko bedauert sehr, dass deshalb in der Ukraine bis heute sehr wenig über Einzelheiten des Holocausts bekannt sei, etwa wo sich Gettos und Konzentrationslager befanden und wie viele Menschen dort umkamen.
Mangelhaft ist die Erinnerungspolitik nach Meinung des Historikers Andrij Portnow aber auch in Bezug auf andere Gruppen von NS-Opfern, wie etwa ehemalige Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene. Damit sich die gesellschaftliche Wahrnehmung in Bezug auf alle NS-Opfer verändere, bedürfe es laut Portnow eines anderen Bildes des Krieges.
"Der Idealfall wäre, wenn in der Ukraine Schulbücher und Museen geschaffen würden, die ein ganz anderes Bild des Krieges zeigen."
Ein Bild, bei dem die Opfer im Zentrum stehen. Und zwar alle Opfergruppen gleichermaßen. Portnow betont, dass die Zeit dränge – sind doch die letzten Zeitzeugen bereits betagt.