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Corona
Warum Polen so schlecht durch die Pandemie kam

Während der Pandemie sank die Lebenserwartung in Deutschland um knapp ein halbes Jahr. In Polen stürzte sie um über zwei Jahre ab, eine schnelle Besserung ist nicht zu erwarten. Die Gründe, warum das Land so hart getroffen wurde, liegen nicht nur in der konkreten Pandemiepolitik.

Von Piotr Heller |
Ein Passant geht an einer Wyborcza-Anzeige, für einen Antiviren-Leitfaden, vorbei.
Trotz Corona-Maßnahmen, die auf den ersten Blick streng wirkten, sank in Polen die Lebenserwartung in der Pandemie erheblich. (picture alliance / NurPhoto / Dominika Zarzycka)
Um zu verstehen, was der Absturz der Lebenserwartung in Polen wirklich bedeutet, lohnt es sich vielleicht auf den Begriff "Lebenserwartung" an sich zu schauen. Wenn heute in Deutschland ein Junge geboren wird, beträgt seine Lebenserwartung 78,5 Jahre.
Das heißt aber nicht, dass dieses Kind im Schnitt so lange leben wird, sondern nur, dass es im Schnitt so lange leben würde, wenn sich nichts an den aktuellen Lebensverhältnissen ändert. Die Lebenserwartung ist also eine statistische Zahl, die unsere aktuellen Lebensverhältnisse mess- und vergleichbar macht.

Lebenserwartung um mehr als 2 Jahre eingebrochen

In Polen ist sie seit den Sechzigern tendenziell gestiegen – insgesamt um zehn Jahre. Klar ist sie dazwischen in manchen Jahren auch gesunken, sagt Agnieszka Fihel von der Universität Warschau:
"Aber diese Schwankungen misst man normalerweise in Zehnteln von Jahren, in Monaten. Wenn wir ein halbes Jahr oder ein Jahr überschreiten, dann ist das ein erstes Zeichen dafür, dass etwas sehr Schlimmes vor sich geht." Fihel von der Universität Warschau ist mit der Lebenserwartung der Polen bestens vertraut. Die Statistik der Sterbefälle im Postkommunismus ist ihr Spezialgebiet.
Während der Covid-Pandemie ist die Lebenserwartung in Polen um über zwei Jahre eingebrochen. Einmalig seit dem zweiten Weltkrieg. Andere ehemaliger Ostblock-Staat erlebte ähnliche, wenn auch nicht ganz so starke Rückgänge.

Hohe Todeszahlen bei Wellen im Jahr 2021

Der Westen Europas ist hingegen deutlich glimpflicher davongekommen. Deutschland etwa verlor 0,4 Jahre. Was war anders? "Als Covid im April und Mai Italien, dann Spanien, Frankreich, Deutschland und England getroffen hatte, hat man auch in Polen Lockdowns eingeführt. Die Sterblichkeit war relativ klein."
Das änderte sich in den weiteren Wellen Ende 2020 und vor allem im Jahr 2021: "Da starben mehr als 154 000 Menschen überdurchschnittlich. Vor allem Alte, vor allem Männer. Die Krankenhäuser und Bestatter kamen nicht hinterher."

Schwache Testpolitik als möglicher Grund

Oberflächlich betrachtet hatte Polen strenge Corona-Maßnahmen. Der "Stringency Index", mit dem Forscher der Universität Oxford die Maßnahmen bewerten, ähnelte bis auf eine laxe Phase im Sommer 2020 weitgehend dem Deutschen. Ein Unterschied waren aber die Tests, sagt Agnieszka Fihel :
 "Es gab eine schwache Test-Politik. Da hat man den Kopf in den Sand gesteckt, nach dem Motto: Je weniger wir testen, desto weniger Covid-Fälle werden wir haben. Die Tests waren nicht immer verpflichtend und nicht immer gratis. Und der Zugang zu den Tests war zumindest am Anfang schwer." Im europäischen Vergleich gehörte Polen die ganze Pandemie über zu den Ländern mit den wenigsten Tests. Studien zeigen, dass viele Menschen unbemerkt an Corona gestorben sein müssen.

Gründe liegen nicht nur in konkreter Pandemiepolitik

Generell wurde der polnischen Regierung wiederholt vorgeworfen, das Ausmaß der Pandemie kleinzureden. Nicht zuletzt aus diesem Grund traten Januar dieses Jahres 13 von 17 Mitgliedern des dortigen Corona-Expertenrats geschlossen zurück. Agnieszka Fihels Analyse: "Die Sache unter den Teppich zu kehren, sorgte dafür, dass die Menschen die Krankheit weniger ernst nahmen, die Regeln weniger befolgten."
Tatsächlich ignorierten viele Menschen Medienberichten zufolge die Maskenpflicht. Eine Beobachtungsstudie polnischer Forschern zeigt, dass vor allem Männer in der Öffentlichkeit selten Maske trugen. Auch bei den Impfungen liegt Polen weit unter dem EU-Schnitt. Aber die Gründe nur in der konkreten Pandemiepolitik zu suchen, greift zu kurz.
Man muss auch die Strukturen sehen, auf die die Pandemie traf. Polen investiert deutlich weniger seines Brutto-Inlandsprodukts in das Gesundheitssystem als andere EU-Länder im Schnitt. Die OECD kommt zu dem Schluss, dass vor allem Personalmangel dazu geführt habe, dass die zweite Corona-Welle das Gesundheitssystem in die Knie zwang.

Expertin erwartet keine plötzliche Verbesserung der Lebenserwartung

Zudem sank die Lebenserwartung bereits vor der Pandemie leicht. Agnieszka Fihel: "Die Gründe waren vor allem die Luftqualität. Polen hat die schlechteste Luftqualität in Europa und die fehlende Anpassung des Gesundheitssystems an Herz-Kreislauf-Patienten im fortgeschrittenen Alter."
Die Frage ist, wie sich die Lebenserwartung von nun an entwickeln wird. Sie ist ja wie gesagt nur eine Momentaufnahme der Lebensumstände. Während der Pandemie brach sie ein. Da könnte man meinen, dass sie sich jetzt, wo die aktuelle Omikron-Varianten weniger gefährlich sind, schnell erholt. Doch diese Hoffnung teilt die Lebenserwartungs-Expertin von der Universität Warschau, Fihel, nicht:
"Die Probleme mit der Umwelt und dem Gesundheitssystem wurden nicht gelöst. Und es gibt noch einen weiteren Aspekt: Während der Pandemie haben wir die Krebs-Vorsorge vernachlässigt. Wir werden wir es mit Tumoren in einem fortgeschrittenen Stadium zu tun haben, deren Behandlung geringere Erfolgsaussichten hat. Das alles bedeutet, dass es jetzt keine Hinweise auf eine plötzliche Verbesserung der Lebenserwartung gibt."