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Was das Menschsein ausmacht

Von den Ursprüngen des abendländischen Denkens bei Platon und Aristoteles bis zu den gegenwärtigen Problemen der Bioethik hat sich der italienische Philosoph Giorgio Agamben immer wieder die Frage vorgenommen, warum mit jedem vermeintlichen Fortschritt der Menschheit auch die Katastrophen zunehmen. In seinem Buch "Die Sprache und der Tod" sucht er nach einer Definition des Menschen.

Von Leander Scholz | 18.11.2008
    Angesichts der aktuellen Lebensmittelkrise, der zunehmenden Umweltzerstörung und damit einhergehend der Lebensgrundlagen lohnt es sich, unsere traditionellen Denkgewohnheiten fundamental in Frage zu stellen. Konnte man noch vor zehn Jahren den trügerischen Eindruck haben, dass die weltweite Verbreitung westlicher Werte in absehbarer Zukunft zu globalem Wohlstand führen würde, sind die Prediger eines möglichst unreglementierten Freihandels inzwischen etwas leiser geworden. Denn jede Fehlentwicklung kann im globalen Maßstab unmittelbar die Gestalt einer Katastrophe annehmen. Die Geschwindigkeit, mit der sich ein Problem vom einen Ende der Welt zum anderen ausbreitet, ist inzwischen genauso hoch wie der Herzschlag der weltweiten Netze, die den Planeten wie eine zweite Haut überziehen. Dass alles mit allem verbunden ist, kann sich daher mitunter auch als das genaue Gegenteil einer Utopie herausstellen. Denn gegenwärtig erscheint die Menschheit nicht so sehr in einer weltweiten Rechtsgemeinschaft vereint zu sein, wie sich das die Denker der Aufklärung einmal vorgestellt haben, sondern vielmehr in einer weltweiten Katastrophe, der sich keiner entziehen kann.

    Kein Denker hat sich in den letzten Jahren derart intensiv an den Fundamenten dieser scheinbar unausweichlichen Katastrophe abgearbeitet wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Von den Ursprüngen des abendländischen Denkens bei Platon und Aristoteles bis zu den gegenwärtigen Problemen der Bioethik hat sich Agamben immer wieder die Frage vorgenommen, warum mit jedem vermeintlichen Fortschritt der Menschheit auch die Katastrophen zugenommen haben. Während unermüdliche Optimisten immer noch glauben, der nächste Fortschritt werde die Fehler des letzten beseitigen, hat Agamben eine Verfallsgeschichte bilanziert, bei der sich die Probleme, die sich schon am Anfang der abendländischen Metaphysik stellten, stets nur verschärft haben.

    Im Zentrum seines 2002 in deutscher Übersetzung erschienenen Buches mit dem Titel "Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben" standen dabei vor allem die Französische Revolution und die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Denn zwischen diesen beiden historischen Ereignissen etablierte sich das, was Agamben das moderne Paradigma des Lagers nennt, das bis heute das Schema der politischen Machtentfaltung darstellt. Demnach wird politische Macht nicht durch die Anwendung der Gesetze ausgeübt, sondern durch die Erzeugung von Zonen der Rechtlosigkeit. Das Lager beschreibt einen Raum, in dem das Gesetz, als dessen Vertreter sich die staatliche Macht legitimiert, gerade nicht angewendet wird. Der eigentliche Ort der Machtentfaltung ist daher weder der Gerichtssaal, noch die Polizei, sondern der Ausnahmezustand, der in den rechtsfreien Zonen herrscht. Nicht nur das jüngste Beispiel Guantanamo macht deutlich, wie zutreffend Agambens These ist, dass die politische Macht im entscheidenden Augenblick genau das Recht, das sie ansonsten zu vertreten vorgibt, wieder suspendieren kann. Auch die vielen Flüchtlingsströme, die überall auf der Welt von unzähligen Lagern aufgefangen werden, lassen keinen Zweifel daran, dass das Lager keineswegs verschwunden ist, sondern zu den entscheidenden Relais der modernen Macht gehört.

    Während Giorgio Agamben mit diesen und anderen durchaus spektakulären Thesen inzwischen zu der auserwählten Schar internationaler Konferenzgäste zählt, ist bislang ein zentraler Aspekt seiner analytischen Arbeit weniger zur Kenntnis genommen worden. Denn im Hintergrund dieser Funktionsweise politischer Macht steht für Agamben der Konflikt zwischen dem Humanen und dem Animalischen, der die Menschheitsgeschichte seit der Antike heimsucht. In seinem 1982 zum ersten Mal erschienenen Buch "Die Sprache und der Tod", das nun auch auf Deutsch vorliegt und das den Untertitel "Ein Seminar über den Ort der Negativität" trägt, wird dieser Aspekt besonders deutlich. In diesem Buch geht Agamben der berühmten Definition bei Aristoteles nach, die den Menschen als einen Zweibeiner beschreibt, der sprechen kann. Nach Aristoteles unterscheidet sich der Mensch durch die Sprache von allen anderen Lebewesen und wird aufgrund dieses Unterschieds zu einem politischen Tier, das heißt zu einem Tier, das mehr ist als ein Tier. In der Sprache erkennt sich der Mensch als Nicht-Tier und sondert sein eigenes Tiersein von sich selbst ab. Für Agamben ist die Sprache daher der entscheidende Ort, an dem der Mensch sich selbst als Tier negiert. Dass der politische Feind seit der Antike und bis heute immer auch als derjenige angesehen wird, der nicht richtig sprechen kann und der daher Barbar heißt, der nicht mehr als ein Tier ist und deshalb straffrei getötet werden darf, hat für Agamben in dieser Definition des Menschen seinen Ursprung.

    Denn bei jedem politischen Konflikt und bei jeder sozialen Katastrophe steht stets auch die Frage auf dem Spiel, was das Menschsein ausmacht und wer als Mensch gelten darf oder nicht. Dass die Beantwortung dieser Frage unzählige Tote produziert hat, hängt für Agamben nicht zuletzt mit der Sprache als dem Ort der Negativität zusammen. Denn durch die Sprache erschließen wir uns die Welt, in der wir leben, auf eine ganz bestimmte Weise, indem wir alles, was existiert, auf seine Nichtexistenz beziehen. In dieser Logik erscheint jeder Akt der Bezeichnung auch als ein Akt der Zerstörung. Die Frage, der Agamben in seinem Buch "Die Sprache und der Tod" nachgeht, lautet daher, ob es eine Definition des Menschen gibt, die diesen nicht mehr anhand der Sprache von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Selbstverständlich kann die Antwort auf diese Frage nicht anders als tastend ausfallen. Trotzdem lohnt es sich, den schmalen Band über die Sprachauffassung bei Aristoteles, Hegel und Heidegger zu lesen, gibt er doch der ökologischen Katastrophe, auf die gegenwärtig die Menschheit unausweichlich zuzusteuern scheint, eine philosophische Tiefe, die man bei den eilfertigen Versuchen, das menschliche Gemeinwesen zu reformieren und zu reparieren, stets vermisst.