Vertreter von Politik und Gewerkschaften haben sich erneut gegen einen sofortigen Verzicht auf russische Energieimporte ausgesprochen. Im ARD-Fernsehen sagte Bundeskanzler Scholz, das würde zu einem großen Ausfall in mehreren Industriezweigen Deutschlands führen. Dann drohte eine erhebliche Wirtschaftskrise und eine Gefährdung vieler Arbeitsplätze.
Der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, Vassiliadis, sagte im Deutschlandfunk, die Energieversorgung in Deutschland sei mitten in der Transformation. Dies brauche seine Zeit. Selbst bis 2025 vollständig auf russische Gaslieferungen zu verzichten, sei ein ambitioniertes Ziel der Politik, erklärte Vassiliadis. Ein sofortiger Lieferstopp sei zudem nicht zu verantworten. Selbst bei einer 50-prozentigen Reduzierung müsse beispielsweise der weltweit größte Chemiestandort, die BASF in Ludwigshafen, komplett heruntergefahren werden, weil er nicht mehr sicher betrieben werden könne. Hunderttausende Arbeitsplätze seien in Gefahr, so Vassiliadis.
Gasstopp aus Russland würde hunderttausende Jobs gefährden
Forscher: 0,5 bis 3 Prozent BIP-Rückgang zu erwarten
Der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Bundestag, Hofreiter, indes forderte am Wochenende ein sofortiges Energie-Embargo gegen Russland. Man überweise Tag für Tag hunderte Millionen Euro nach Moskau, mit denen der russische Staat und dessen Militärapparat am Laufen gehalten würden, sagte der Grünen-Politiker dem Nachrichtenportal "The Pioneer". Technisch sei ein Embargo möglich und wirtschaftlich verkraftbar. Es würde lediglich zu einer mittleren Rezession führen. Zwei bis drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts würde man verlieren, ähnlich wie zu Beginn der Corona-Pandemie, meinte Hofreiter. Auch EU-Länder wie Finnland, Polen und Lettland fordern ein Embargo.
Forschende der Universitäten Bonn und Köln kamen jüngst zu der Einschätzung, kurzfristig würde ein Stopp der russischen Energieimporte zu einem BIP-Rückgang zwischen 0,5 und 3 Prozent führen, während der BIP-Rückgang im Jahr 2020 auf Grund der Pandemie 4,5 Prozent betragen habe.
Solche Modellrechnungen sind nach Ansicht des Direktors des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Sebastian Dullien, nicht ungefährlich. Vergessen werden ihm zufolge etwa steigende Kosten für Privathaushalte und dass die Menschen "ihre Ausgaben für andere Dinge einschränken, was wiederum die Binnennachfrage schwächt und den wirtschaftlichen Abschwung beschleunigt". Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit würden die Konsumzurückhaltung noch verstärken. Dullien zufolge droht ein wirtschaftlicher Abschwung verbunden mit einer hohen Inflationsrate von mehr als fünf Prozent.
Skepsis bezüglich der Wirkung
Der Politikwissenschaftler von der Freien Universität Berlin, Alexander Libmann, der schwerpunktmäßig zu Osteuropa und Russland forscht, äußerte sich Mitte März in der Deutschlandfunk-Sendung "Zur Diskussion" skeptisch zur Wirkung eines kurzfristigen Energier-Lieferstopps. Er glaube nicht, dass der Begriff der "Kriegskasse", der jetzt auch sehr oft in den Medien verwendet werde, so einfach verstanden werden könne. "Die Armee, die jetzt in der Ukraine operiert, die wird ja nicht von den laufenden Einnahmen aus Erdöl und Erdgas finanziert. Die kann zumindest kurzfristig den Krieg auch ohne diese Einnahmen sicherstellen. Es geht hier eher um mittelfristige Effekte und um die Fähigkeit des russischen Staates, dauerhaft eine Streitkraft aufzubauen. Aber im Fall der Ukraine ist alles schon zu spät."
Wie können Sanktionen gegen Russland wirksamer gestaltet werden?
Schäuble für raschen Stopp
Der frühere Bundestagspräsident Schäuble drängte dagegen auf einen Stopp russischer Erdgas- und Erdöllieferungen an Deutschland. Der CDU-Politiker sagte der "Welt am Sonntag", auch wenn es bitter werde, müsse man schnellstmöglich darauf verzichten. Deutschland dürfe nicht immer der Bremser im westlichen Bündnis sein. Gestützt wird Schäubles Plädoyer von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Sie kommt in einer Stellungnahme zu dem Schluss, "dass auch ein kurzfristiger Lieferstopp von russischem Gas für die deutsche Volkswirtschaft handhabbar wäre".
Anders sieht es das Institut der Deutschen Wirtschaft, das glaubt: "Kurzfristig könnte Europa einen Importstopp nur unzureichend kompensieren." Bundeswirtschaftsminister Habeck warnte am Wochenende gar vor Hamsterkäufen im Fall eines abrupten Lieferstopps für russisches Erdöl und Erdgas. Die Menschen würden dann wahrscheinlich nicht einfach weniger Auto fahren, sondern es gäbe einen Ansturm auf die Tankstellen ähnlich wie zu Beginn der Corona-Pandemie auf Klopapier, sagte der Grünen-Politiker im ARD-Fernsehen.
Auch der energiepolitische Sprecher der FDP, Kruse, sprach sich - ebenso wie sein Parteikollege und Bundesverkehrsminister Wissing - gegen einen Importstopp aus. Im Deutschlandfunk sagte Kruse, man könne derzeit nicht genügend Erdgas anderweitig einführen, um die heimische Nachfrage zu decken. Er gehe aber davon aus, dass man bis Ende des Jahres auf russisches Erdöl und russische Kohle verzichten könne.
Sind Entlastungspaket und Importstopp sinnvoll? - Interview Michael Kruse, FDP
Effektivste Gegenmaßnahme: Weniger Verbrauch
Der Brüsseler Think Tank Bruegel hält einen kompletten Ausstieg für möglich. Europa werde zwar zunächst unter höheren Preisen für Öl und Gas aus anderen Quellen leiden, könne sich das aber leisten. Dennoch werde es auf die Schnelle nicht möglich sein, zum Beispiel russisches Öl sofort gänzlich zu ersetzen. Deshalb sei das effektivste Mittel die Reduktion des Verbrauchs. Dadurch, so die Wissenschaftler, würden sich die Märkte wieder beruhigen und die Preise fallen. Das größte Sparpotenzial sieht der Think Tank im Verkehrsbereich. Zu seinen Empfehlungen gehören freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr am Wochenende, Fahrverbote und Tempolimits.
Ganz grundsätzlich fordert die Energieökonomin Claudia Kemfert im Interview der Woche des Deutschlandfunks, der Klimaschutz müsse und sollte jetzt nicht zurückstehen. Als Konsequenz fordert die Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin einen raschen Ausbau der Erneuerbaren Energie, die sie als "Friedensenergie" bezeichnete. Die Auseinandersetzungen mit Russland aufgrund des Ukraine-Kriegs seien nicht die ersten und einzigen dieser Art. Die Energiewende sei "das beste Friedensprojekt", das man weltweit habe.
Interview Kemfert, Prof. Claudia, Energie-Ökonomin, DIW