Jasper Barenberg: 60 sogenannte Jugendwerkhöfe gab es in der DDR. Als schwer erziehbar eingestufte Jugendliche sollten dort umerzogen werden. Schon damals besonders berüchtigt die Einrichtung in Torgau. Berichte über körperliche und seelische Misshandlungen dort füllen bereits einige Bücher. Nun kommt der wohl schlimmste Vorwurf hinzu. Über viele Jahre wurden Jugendliche dort offenbar auch sexuell missbraucht. Manche der früheren Zöglinge finden jetzt den Mut, darüber auch öffentlich zu sprechen. Heidemarie Puls etwa schildert, wie sie von einem Erzieher damals vergewaltigt wurde.
O-Ton Heidemarie Puls: In die Zelle rein und dann wusste man eigentlich, es war dann nach einigen Malen, vielleicht drei-, viermal, da wusste ich dann schon und da hat er mich dann auch darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich nicht mehr so blöd anstellen sollte, und ich müsste langsam auch wissen, was er mag, und so möchte er das haben. Das wurde einfach auch so vordiktiert.
Barenberg: Heidemarie Puls, ein Opfer des Erziehungsheimes in Torgau. Am Telefon begrüße ich jetzt Gabriele Beyler von der sogenannten Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Einen schönen guten Morgen, Frau Beyler.
Gabriele Beyler: Einen schönen guten Morgen.
Barenberg: Sie bemühen sich ja seit Jahren, die Zustände in Torgau zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Im Mittelpunkt standen bisher, jedenfalls so wie ich das recherchieren konnte, die grausamen Erziehungsmethoden dort. Spielte das Thema sexueller Missbrauch bisher keine Rolle?
Beyler: Das Thema, der Aspekt des sexuellen Missbrauchs oder Misshandlungen, spielte bislang öffentlich keine Rolle. Erst jetzt im Zuge der aktuellen Debatte zu sexuellen Misshandlungen und Missbrauch in den Westheimen finden immer mehr Betroffene den Mut, jetzt ihre Geschichte, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Ich denke, eine große Rolle spielt dabei, dass dieser Aspekt des sexuellen Missbrauchs erst jetzt für die DDR-Heime so öffentlich wird, dass das Schuld- und Schamgefühle bei den Opfern sehr groß ist, was diesen Teil ihrer Geschichte anbelangt, und dass man bislang nicht darüber geredet hat. Ich muss sagen, wir arbeiten die Geschichte der DDR-Heimerziehung seit den 90er-Jahren auf und haben sehr viele Kontakte, zahlreichen Kontakt zu Opfern und Betroffenen der DDR-Heime, und haben in den Gesprächen immer wieder schon herausgehört, dass es da auch noch mehr gegeben haben muss, außer psychische und physische Gewalt, die ja in den Heimen auf der Tagesordnung standen, und durch Hinweise in IM-Berichten zu sexuellem Missbrauch hatten wir schon immer den Verdacht, dass es so etwas gegeben hat. Jetzt im Zuge dieser aktuellen Debatte melden sich wie gesagt ganz, ganz viele Betroffene, die dieses jetzt öffentlich machen.
Barenberg: Das gilt ja auch für Heidemarie Puls, von der wir gerade einen kurzen Auszug gesendet haben, wie sie sich erinnert an die Ereignisse von damals. Frau Puls hat ein Buch geschrieben über ihre Erlebnisse, aber hat diesen Aspekt ausgeklammert und erinnert sich jetzt, oder geht jetzt auch in die Öffentlichkeit mit diesen Informationen. Sie selbst haben dazu beigetragen, Sie haben einen Aufruf gestartet an ehemalige Heimzöglinge, sie ermutigt, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Wie fällt die Resonanz bisher insgesamt aus? Wie viel Resonanz bekommen Sie?
Beyler: Wir haben eine ganz große Resonanz, was wir eigentlich nicht erwartet hatten, auf diesen Aufruf. Bislang haben sich schätzungsweise über 40 Betroffene gemeldet, die von sexuellen Misshandlungen und Missbrauch, wenn man sich einen Überblick verschafft, eigentlich nicht nur in Torgau, sondern in allen DDR-Heimen berichten. Den Aufruf haben wir gestartet, weil wie gesagt einige Betroffene sich bei uns bereits gemeldet haben, wir aber noch den anderen, noch mehr Zeitzeugen, nenne ich sie mal, Mut machen wollten, sich zu melden, da gerade dieser Teil der Geschichte nirgendwo verschriftlicht wurde. Wir werden in keinem Archiv der Bundesrepublik Dokumente finden, die das belegen. Umso wichtiger sind die Zeitzeugen und die Betroffenen selbst, die mit ihren Erlebnissen zur Aufarbeitung und Aufklärung beitragen können und sollen.
Barenberg: Zögern die Betroffenen, sich an Sie zu wenden, oder geschieht das in einem Vertrauen darauf, dass es ein wichtiger Schritt ist, auch diesen Aspekt künftig stärker zu beleuchten?
Beyler: Ich denke, die Betroffenen, die sich bei uns melden, oder bislang bei uns gemeldet haben, zögern nicht und sind nun bereit, diesen Teil ihrer persönlichen Leidensgeschichte in der Kindheit öffentlich zu machen.
Barenberg: In der DDR gab es ja insgesamt 474 Kinderheime, darunter auch diese 60 sogenannten Jugendhöfe, von denen Torgau ja noch mal ein Sonderfall ist, weil besonders berüchtigt, weil geschlossen. Haben Sie den Eindruck, dass es sich nur um die Spitze eines Eisberges handelt?
Beyler: Derzeit könnte man meinen, es handelt sich nur um die Spitze des Eisberges. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es auch zahlreiche Opfer gibt, die das nie öffentlich machen werden. Ich selbst habe persönlich erlebt, dass 56-jährige Männer oder Frauen, also in einem relativ hohen Alter, jetzt erstmals über ihre Heimgeschichte und über ihre Erlebnisse dort berichten und vorher nie mit Familie, Kindern und Angehörigen darüber gesprochen haben.
Barenberg: Welche Gründe nennen die Betroffenen dafür, außer der allgemeinen Öffentlichkeit, die jetzt auf dieses Thema gelenkt ist?
Beyler: Na ja, was die DDR-Heime anbelangt und insbesondere die Jugendwerkhöfe, hängt dieser Makel, der einem Insassen zu DDR-Zeiten schon anhing, heute noch nach oder an. Es hieß ja immer, wer im Jugendwerkhof war, der war nicht umsonst da, das hat schon seine Gründe und das war schon richtig. Ich denke, es ist heute ganz wichtig aufzuklären, warum, wieso jemand zu DDR-Zeiten in diese sogenannten Spezialheime der Jugendhilfe gekommen ist, nämlich aus teilweise ganz banalen Gründen. Man sah anders aus, man dachte anders, man redete anders. Es gab wirklich banale Gründe, um in diese Heime eingewiesen zu werden, und was man dort erlebt hat, das muss unbedingt heute noch stärker öffentlich gemacht werden.
Barenberg: Wo sehen Sie denn bei dem, was Sie von den Betroffenen zu hören bekommen, Parallelen, wo Unterschiede zu dem, was in den letzten Wochen vor allem mit Blick auf den Westteil des Landes diskutiert wird und wurde?
Beyler: Parallelen haben wir schon 2006 festgestellt mit der Veröffentlichung des Buches von Peter Wensierski zum Missbrauch oder zu den Vorgängen in den Westheimen der frühen Bundesrepublik. Wenn man sich den Tagesablauf, die Strukturen innerhalb dieser Heime anschaut, dann sind durchaus direkte Vergleiche mit den Strukturen in den DDR-Heimen möglich. Hinzu kommt jetzt aktuell neu dieser Aspekt der sexuellen Misshandlungen, die in beiden, also West- und Ostheimen stattgefunden haben. Ich denke, dieser Aspekt ist in jedem Fall systemunabhängig zu sehen, und deswegen finde ich die Einrichtung des Runden Tisches durch die Bundesregierung als eine einmalige Chance und Möglichkeit, solche Aspekte, die in Heimerziehungen und Heimen, geschlossenen Heimen auftreten können, ganz wichtig, gesamtdeutsch aufzuarbeiten.
Barenberg: Sind Sie denn eingeladen zu diesem Runden Tisch, den die Bundesregierung, den drei Ministerien ja planen?
Beyler: Bislang noch nicht, kann ich Ihnen sagen, aber wir tun natürlich alles dafür, dass die Ostheimkinder mit an den Tisch kommen und nicht unter den Tisch fallen.
Barenberg: Wie wichtig wäre es – es gibt ja auch andere Opfergruppen, die sich jetzt schon beklagen, nicht eingeladen worden zu sein -, wie wichtig ist diese Perspektive für die Arbeit des Runden Tisches?
Beyler: Ich denke, es ist wichtig. Ich denke, diese sexuellen Misshandlungen und der Missbrauch fand in beiden, im Osten und im Westen statt, und um künftig solche Dinge in Heimen – und es wird immer Heime geben – zu verhindern, muss das gemeinsam aufgearbeitet und aufgeklärt werden, um Möglichkeiten und Lösungen zu finden, die das zukünftig verhindern.
Barenberg: Gabriele Beyler, Vorsitzende der Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof in Torgau. Vielen Dank, Frau Beyler, für dieses Gespräch.
Beyler: Ich danke Ihnen.
O-Ton Heidemarie Puls: In die Zelle rein und dann wusste man eigentlich, es war dann nach einigen Malen, vielleicht drei-, viermal, da wusste ich dann schon und da hat er mich dann auch darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich nicht mehr so blöd anstellen sollte, und ich müsste langsam auch wissen, was er mag, und so möchte er das haben. Das wurde einfach auch so vordiktiert.
Barenberg: Heidemarie Puls, ein Opfer des Erziehungsheimes in Torgau. Am Telefon begrüße ich jetzt Gabriele Beyler von der sogenannten Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Einen schönen guten Morgen, Frau Beyler.
Gabriele Beyler: Einen schönen guten Morgen.
Barenberg: Sie bemühen sich ja seit Jahren, die Zustände in Torgau zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Im Mittelpunkt standen bisher, jedenfalls so wie ich das recherchieren konnte, die grausamen Erziehungsmethoden dort. Spielte das Thema sexueller Missbrauch bisher keine Rolle?
Beyler: Das Thema, der Aspekt des sexuellen Missbrauchs oder Misshandlungen, spielte bislang öffentlich keine Rolle. Erst jetzt im Zuge der aktuellen Debatte zu sexuellen Misshandlungen und Missbrauch in den Westheimen finden immer mehr Betroffene den Mut, jetzt ihre Geschichte, ihre Erlebnisse öffentlich zu machen. Ich denke, eine große Rolle spielt dabei, dass dieser Aspekt des sexuellen Missbrauchs erst jetzt für die DDR-Heime so öffentlich wird, dass das Schuld- und Schamgefühle bei den Opfern sehr groß ist, was diesen Teil ihrer Geschichte anbelangt, und dass man bislang nicht darüber geredet hat. Ich muss sagen, wir arbeiten die Geschichte der DDR-Heimerziehung seit den 90er-Jahren auf und haben sehr viele Kontakte, zahlreichen Kontakt zu Opfern und Betroffenen der DDR-Heime, und haben in den Gesprächen immer wieder schon herausgehört, dass es da auch noch mehr gegeben haben muss, außer psychische und physische Gewalt, die ja in den Heimen auf der Tagesordnung standen, und durch Hinweise in IM-Berichten zu sexuellem Missbrauch hatten wir schon immer den Verdacht, dass es so etwas gegeben hat. Jetzt im Zuge dieser aktuellen Debatte melden sich wie gesagt ganz, ganz viele Betroffene, die dieses jetzt öffentlich machen.
Barenberg: Das gilt ja auch für Heidemarie Puls, von der wir gerade einen kurzen Auszug gesendet haben, wie sie sich erinnert an die Ereignisse von damals. Frau Puls hat ein Buch geschrieben über ihre Erlebnisse, aber hat diesen Aspekt ausgeklammert und erinnert sich jetzt, oder geht jetzt auch in die Öffentlichkeit mit diesen Informationen. Sie selbst haben dazu beigetragen, Sie haben einen Aufruf gestartet an ehemalige Heimzöglinge, sie ermutigt, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Wie fällt die Resonanz bisher insgesamt aus? Wie viel Resonanz bekommen Sie?
Beyler: Wir haben eine ganz große Resonanz, was wir eigentlich nicht erwartet hatten, auf diesen Aufruf. Bislang haben sich schätzungsweise über 40 Betroffene gemeldet, die von sexuellen Misshandlungen und Missbrauch, wenn man sich einen Überblick verschafft, eigentlich nicht nur in Torgau, sondern in allen DDR-Heimen berichten. Den Aufruf haben wir gestartet, weil wie gesagt einige Betroffene sich bei uns bereits gemeldet haben, wir aber noch den anderen, noch mehr Zeitzeugen, nenne ich sie mal, Mut machen wollten, sich zu melden, da gerade dieser Teil der Geschichte nirgendwo verschriftlicht wurde. Wir werden in keinem Archiv der Bundesrepublik Dokumente finden, die das belegen. Umso wichtiger sind die Zeitzeugen und die Betroffenen selbst, die mit ihren Erlebnissen zur Aufarbeitung und Aufklärung beitragen können und sollen.
Barenberg: Zögern die Betroffenen, sich an Sie zu wenden, oder geschieht das in einem Vertrauen darauf, dass es ein wichtiger Schritt ist, auch diesen Aspekt künftig stärker zu beleuchten?
Beyler: Ich denke, die Betroffenen, die sich bei uns melden, oder bislang bei uns gemeldet haben, zögern nicht und sind nun bereit, diesen Teil ihrer persönlichen Leidensgeschichte in der Kindheit öffentlich zu machen.
Barenberg: In der DDR gab es ja insgesamt 474 Kinderheime, darunter auch diese 60 sogenannten Jugendhöfe, von denen Torgau ja noch mal ein Sonderfall ist, weil besonders berüchtigt, weil geschlossen. Haben Sie den Eindruck, dass es sich nur um die Spitze eines Eisberges handelt?
Beyler: Derzeit könnte man meinen, es handelt sich nur um die Spitze des Eisberges. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es auch zahlreiche Opfer gibt, die das nie öffentlich machen werden. Ich selbst habe persönlich erlebt, dass 56-jährige Männer oder Frauen, also in einem relativ hohen Alter, jetzt erstmals über ihre Heimgeschichte und über ihre Erlebnisse dort berichten und vorher nie mit Familie, Kindern und Angehörigen darüber gesprochen haben.
Barenberg: Welche Gründe nennen die Betroffenen dafür, außer der allgemeinen Öffentlichkeit, die jetzt auf dieses Thema gelenkt ist?
Beyler: Na ja, was die DDR-Heime anbelangt und insbesondere die Jugendwerkhöfe, hängt dieser Makel, der einem Insassen zu DDR-Zeiten schon anhing, heute noch nach oder an. Es hieß ja immer, wer im Jugendwerkhof war, der war nicht umsonst da, das hat schon seine Gründe und das war schon richtig. Ich denke, es ist heute ganz wichtig aufzuklären, warum, wieso jemand zu DDR-Zeiten in diese sogenannten Spezialheime der Jugendhilfe gekommen ist, nämlich aus teilweise ganz banalen Gründen. Man sah anders aus, man dachte anders, man redete anders. Es gab wirklich banale Gründe, um in diese Heime eingewiesen zu werden, und was man dort erlebt hat, das muss unbedingt heute noch stärker öffentlich gemacht werden.
Barenberg: Wo sehen Sie denn bei dem, was Sie von den Betroffenen zu hören bekommen, Parallelen, wo Unterschiede zu dem, was in den letzten Wochen vor allem mit Blick auf den Westteil des Landes diskutiert wird und wurde?
Beyler: Parallelen haben wir schon 2006 festgestellt mit der Veröffentlichung des Buches von Peter Wensierski zum Missbrauch oder zu den Vorgängen in den Westheimen der frühen Bundesrepublik. Wenn man sich den Tagesablauf, die Strukturen innerhalb dieser Heime anschaut, dann sind durchaus direkte Vergleiche mit den Strukturen in den DDR-Heimen möglich. Hinzu kommt jetzt aktuell neu dieser Aspekt der sexuellen Misshandlungen, die in beiden, also West- und Ostheimen stattgefunden haben. Ich denke, dieser Aspekt ist in jedem Fall systemunabhängig zu sehen, und deswegen finde ich die Einrichtung des Runden Tisches durch die Bundesregierung als eine einmalige Chance und Möglichkeit, solche Aspekte, die in Heimerziehungen und Heimen, geschlossenen Heimen auftreten können, ganz wichtig, gesamtdeutsch aufzuarbeiten.
Barenberg: Sind Sie denn eingeladen zu diesem Runden Tisch, den die Bundesregierung, den drei Ministerien ja planen?
Beyler: Bislang noch nicht, kann ich Ihnen sagen, aber wir tun natürlich alles dafür, dass die Ostheimkinder mit an den Tisch kommen und nicht unter den Tisch fallen.
Barenberg: Wie wichtig wäre es – es gibt ja auch andere Opfergruppen, die sich jetzt schon beklagen, nicht eingeladen worden zu sein -, wie wichtig ist diese Perspektive für die Arbeit des Runden Tisches?
Beyler: Ich denke, es ist wichtig. Ich denke, diese sexuellen Misshandlungen und der Missbrauch fand in beiden, im Osten und im Westen statt, und um künftig solche Dinge in Heimen – und es wird immer Heime geben – zu verhindern, muss das gemeinsam aufgearbeitet und aufgeklärt werden, um Möglichkeiten und Lösungen zu finden, die das zukünftig verhindern.
Barenberg: Gabriele Beyler, Vorsitzende der Initiativgruppe geschlossener Jugendwerkhof in Torgau. Vielen Dank, Frau Beyler, für dieses Gespräch.
Beyler: Ich danke Ihnen.