Muss man tatsächlich eine neue Brücke zwischen Natur und menschlichem Geist bauen und eine neue Anthropologie, also eine neue Lehre vom Menschen etablieren? Oder sollte man stattdessen den Begriff des Menschenbildes selber problematisieren und danach fragen, ob es überhaupt noch allgemeinverbindliche Menschenbilder gibt? Martin Hubert und Bettina Mittelstrass stellen in zwei Beiträgen die Suche deutscher Wissenschaftler nach einem modernen Menschenbild vor.
Die Suche nach dem neuen Menschenbild
Forschungsprojekte aus Marburg und Jena
Forschungsprojekte aus Marburg und Jena
Von Martin Hubert
"He, Hoover, hallo, du da, Hoover!" So ruft da jemand in schwerem amerikanischem Slang. Das ist nicht allzu geistreich. Und auch die Aussprache lässt zu wünschen übrig. Allerdings ist das schnell entschuldigt, sobald man erfährt, wer da spricht.
Ein alter Fischer findet einen verwaisten Seehundwelpen. Der Mann nennt ihn Hoover, pflegt ihn einige Zeit in der Badewanne seines Hauses und spricht ihm rege zu. Als das Tier zu groß wird, vermacht er es dem Bostoner Zoo. Dort verblüfft der Meeresbewohner Besucher und Wärter immer wieder damit, dass er im perfekten Slang des Fischers sein "He, hallo Hoover" vor sich hinbrabbelt. Und nicht nur das: wenn Hoover das Verlangen nach seinem Weibchen packt, kann er noch mehr. Offenbar hat er im Haus des Fischers einiges mitbekommen.
" Eines Tages, er war inzwischen herangewachsen, sozusagen mannbar geworden, glaubten die Wärter ihren Ohren nicht trauen zu können: sie hörten ihn mehrfach etwas rufen, und zwar "come over here", "come over here"! So hatte der Fischermann seine Frau herbeigerufen in entsprechenden Mating-Situationen ! "
Die Geschichte, die der Jenaer Philosoph Wolfgang Welsch da erzählt, hat sich vor etwa zwanzig Jahren tatsächlich zugetragen. Hoovers "Come over here" bringt auf den Punkt, warum Wolfgang Welsch ein Forschungsprojekt initiiert hat, das sich der Frage widmet: "Was ist der Mensch?"
" Was mir sehr zu denken gibt, ist, dass dieser junge Hoover diesen Satz absolut situationsadäquat plötzlich verwendet hat. Das heißt nicht nur, dass er menschliche Sprache nachahmen kann, die Laute nachahmen kann, das ist gar nicht so überraschend, sondern dass er den Satz semantisch korrekt einzusetzen scheint, das ist verblüffend! "
Nicht nur der Mensch verfügt über Sprache, sondern im Ansatz sogar so mancher Seehund. Und bekanntermaßen verfügen auch Papageien oder Schimpansen über elementare sprachliche Fähigkeiten. Wolfgang Welsch folgert daraus: Man muss neu über den Menschen nachdenken, weil die Grenze zwischen Mensch und Tier grundsätzlich unscharf geworden ist.
Gegenseitige Hilfe und Empathie, Werkzeuggebrauch und Werkzeugherstellung, tradierte Kulturtechniken. Für fast alles, womit homo sapiens früher seine Sonderstellung in der Natur begründete, haben Forscher inzwischen Belege im Tierreich gefunden.
" Das Entscheidende scheint mir zu sein, dass die Abgrenzung bei der Rationalität zusammenbricht. Um ein paar Beispiele zu geben: Selbst höhere Säugetiere, selbst die Tauben verfügen schon über erstaunliche Abstraktionsleistungen, sie können symmetrische und asymmetrische Muster voneinander unterscheiden. Probieren sie das mal bei einem Kind, ab wann ein Kind das kann! Andere Rationalitätsleistungen: das Beherrschen kleiner Zahlen, vor allem das Beherrschen der Objektkategorie findet sich bei höheren Säugetieren und Primaten. Also sie können Objekte identifizieren: wenn ein Tier von links kommt, hinter einem Felsblock verschwindet, rechts wieder auftaucht, meinen sie nicht "Hoppla: ein neues Ereignis in der Welt", sondern sie verstehen: da ist genau dieses eine Tier weitergegangen. Sie beherrschen also die Permanenz von Objekten und sie beherrschen die Identifizierbarkeit von Objekten. "
Es sei nun endlich an der Zeit, meint Wolfgang Welsch, aus der Fülle dieser Einzelergebnisse Konsequenzen fürs Menschenbild zu ziehen. Die traditionelle Anthropologie sei überholt, weil sie den Menschen als ein rein geistiges Wesen versteht und dabei den Geist vom Körper trennt.
" Die klassische Anthropologie war eigentlich eine Anthropologie der humanen Schizophrenie: wir haben zwei Komponenten und wir wissen nicht, wie die zusammenkommen, aber wir sind offenbar irgendwie einheitliche Wesen. "
Eine neue Anthropologie müsse daher den Menschen mitten in die natürliche Evolution hineinsetzen und ihn von seinen körperlichen Grundlagen her begreifen. In diesem Sinne schwebt Wolfgang Welsch nichts Geringeres vor als eine Synthese des zeitgenössischen Wissens über den Menschen im Rahmen einer interdisziplinären Anthropologie.
Seine Kooperationspartner sind: Die Göttinger Evolutionsbiologin Julia Fischer, der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer, der Kieler Psychologe Rainer Mausfeld sowie aus Leipzig die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Ricarda Schubotz und der Evolutionäre Anthropologe Hannes Rakoczy. Zunächst will die Forschergruppe zwei Themenfelder bearbeiten: "Das Fortwirken der Evolution im Menschen". Und " Die Spezifik des Humanen".
" Obwohl die Wissenschaftler von der natürlichen Evolution der menschlichen Eigenschaften ausgehen, verschließen sie natürlich nicht den Blick vor den Errungenschaften des Menschen. "
Welsch:
" Es ist überhaupt unbestreitbar natürlich, dass wir beim Menschen Dinge finden, die unglaublich großartig und anders sind. Im Wesentlichen geht es darum: wie ist der Schritt zu erklären von der biologischen Evolution zur kulturellen Evolution? Also sich nicht auf die Biologie zu beschränken, sondern die kulturelle Evolution hinzuzunehmen, aber zu meinen, dass die kulturelle Evolution ansetzte an diesem Startkapital und ohne dieses nicht hätte starten können! "
Wolfgang Welsch möchte der menschlichen Kultur und dem menschlichen Geist sozusagen die Ehre erwiesen, ohne sie aus dem Zusammenhang der natürlichen Evolution zu reißen. Für dieses feinsinnige Vorhaben greift er auf einen alten Begriff zurück und erklärt ihn zum neuen Paradigma der Anthropologie: den Begriff der Emergenz.
Emergenz heißt: eine neue Qualität, etwa der denkende Geist, entsteht als eine neue Organisationsform bereits vorhandener Elemente: Geistlose Zellen verbinden sich zur neuen, netzwerkartigen Organisationsform des Gehirns - und dadurch kommt der Geist in die Welt.
Noch einen zweiten Begriff wirft Wolfgang Welsch ins Rennen für eine neue Anthropologie: Supervenienz.
Supervenienz heißt: Mit dem Geist und dem Denken sind zwar neue Eigenschaften in die Welt gekommen, aber sie bleiben weiterhin daran gebunden, dass das ihnen zugrunde liegende materielle Programm weiterläuft. Ohne die Aktivität von Nervenzellen gibt es kein Denken. Und es gibt keine Veränderungen im Denken, die nicht auf Veränderungen in der Gehirnaktivität beruhen.
Damit glaubt Wolfgang Welsch das Begriffsarsenal zusammen zu haben, mit dem sich der alte Gegensatz zwischen Materie und Geist genauso überwinden lässt wie der zwischen Natur und Kultur. Geist und Kultur sind zwar an materielle Grundlagen gebunden, aber sie sind eben doch auch etwas Neues, das die Stellung des Menschen in der Natur verändert. Also wirken sie auch auf ihre materiellen Grundlagen ein.
" Man steht immer vor dem Rätsel. Warum ist Gehirnvergrößerung in der Vorgeschichte schon von Homo eingetreten: ist das denn wie ein wuchernder Krebs? Vermutlich nicht, nach aller Wahrscheinlichkeit nicht! Sondern es sind bestimmte Funktionen, es sind Anwendungen des Gehirns, die durch das Gehirn möglich wurden, die rückwirkend dann die Gehirntätigkeit verstärkt haben, sozusagen das evolutionäre Setzen auf Gehirn verstärkt haben. Also kann ich vermutlich das Gehirn schon nicht verstehen ohne seine Tätigkeiten und die sind zum Teil kultureller Art. Dann würden Neuronen mindestens auch in den Bereich Kultur gehören. "
Es gibt zwar nur eine Natur, aber diese eine Natur hat sich in verschiedene Schichten des Physischen, des Lebendigen sowie des Geistigen und Kulturellen ausdifferenziert. Und zwischen diesen Schichten gibt es Übergänge mit Rückkoppelungen. Nach diesem Prinzip will das Jenaer Projekt der interdisziplinären Anthropologie die inneren Schichten des Menschen freilegen. Speziell Wolfgang Welsch untersucht in einem weiteren Projekt, in welcher Weise der Mensch zu objektiver Erkenntnis fähig ist. In drei Jahren wird man wissen, ob dieser Ansatz tatsächlich ein neues Bild vom Menschen liefern kann.
Ein Seminarraum an der Universität Marburg. Studenten der Biologie, Medizin, Theologie, und Philosophie sprechen mit einer Ärztin über die Früherkennung von Schädigungen bei Embryonen mittels Ultraschall. Es geht um die Frage: Wie verändert sich das Selbstverständnis von Menschen, wenn ihnen Bilder vom werdenden Menschen geliefert werden, die es früher nicht gab?
Die Veranstaltung gehört zu einem interdisziplinären Marburger Forschungs- und Lehrprojekt das den schlichten Titel " Menschenbilder" trägt. Anders als beim Projekt der interdisziplinären Anthropologie von Wolfgang Welsch geht es hier nicht darum, ein neues Bild des Menschen zu entwerfen. In Marburg will man vielmehr erforschen, welche Orientierungsleistungen Menschenbilder haben und wie damit in der Gegenwart umgegangen werden kann.
Naturwissenschaftlich geprägte Menschenbilder sind heutzutage vor allem deshalb so verführerisch, weil sie sich eben direkt bildhaft präsentieren: in Bildern von Embryonen, Chromosomen oder in letzter Zeit vor allem vom Gehirn. Solche Bilder versprechen eine wahrhaft objektive Orientierung: wir zeigen euch direkt, wie der Mensch in seinem Innersten aussieht.
Der Philosoph Peter Janich, einer der beiden Sprecher des Marburger Projekts, steht solchen wissenschaftlichen Orientierungsansprüchen jedoch skeptisch entgegen. Er relativiert grundsätzlich den Anspruch, mit naturwissenschaftlichen Methoden objektives über den Menschen sagen zu können.
" Ein ganz auffälliger Sachverhalt ist ja, dass der Mensch nicht nur als Objekt der Forschung auftritt, sondern es sind ja auch Menschen, die die Forschungen machen und die Frage ist natürlich: wie verhalten sich die Ergebnisse der Naturwissenschaften vom Menschen zu der Tatsache, dass ja eben gerade diese beforschten Menschen sozusagen auch die Prototypen der Forscher sind? Kommt im gegenwärtigen Diskurs so gut wie gar nicht vor! Und die Wissenschaften selber, alle Wissenschaften, auch die Naturwissenschaften sind Kulturphänomene, haben eine Kulturgeschichte, eine Geschichte ihrer Methoden, ihrer Rationalitätskriterien, sodass mein sozusagen Eingangswort an die Hirnforscher ist. Wollt ihr denn nicht einmal darüber nachdenken, dass ihr es selber seit, die diese Hirnforscher betreiben und was investiert ihr alles in die Hirnforschung? "
Auch in noch so objektiv erscheinende naturwissenschaftliche Beschreibungen vom Menschen gehen Vormeinungen und Selbstverständnisse der Forscher mit ein. Außerdem sind die Methoden der Naturwissenschaftler nur auf den ersten Blick neutral. Jede Methode und jeder technische Apparat grenzt bestimmte Sachverhalte aus, indem er bestimmte Eigenschaften des Menschen ins Zentrum rückt. Bevor man sich also, so Peter Janich, auf die Menschenbilder von Hirnforschern einlässt, sollte man zunächst fragen: welche unterschwelligen Voraussetzungen machen die Wissenschaftler, welche Zwecke verfolgen sie? Und überschreiten sie dabei nicht die Grenzen ihrer Wissenschaft?
Hirnforscher etwa behaupten in letzter Zeit gebetsmühlenartig: Es gibt keine Willensfreiheit, weil alle menschlichen Entscheidungen durch Vorgänge im Gehirn bestimmt werden.
" Wenn der Hirnforscher der Überzeugung ist, dass sein Hirn für ihn entscheidet, dann gilt dies auch für seine ganzen wissenschaftlichen Ergebnisse. Nun hat das aber eine irritierende Konsequenz: zu diesen Ergebnissen gibt es ja gerade Kritiken. Also, etwas simpel formuliert: Der Naturwissenschaftler stellt die These "T" auf und der Kritiker die These "Non T". Wenn aber beide Ergebnisse Produkte von Hirnaktivitäten sind, dann kann nicht mehr entschieden werden, welches - "T" oder "Nicht-T" - wahr ist. Das heißt: ohne normative Kriterien, ohne Freiheiten, uns an Kriterien zu halten oder auch nicht, haben wir keine Wissenschaften. Anders formuliert: Der Hirnforschung schwimmt sozusagen den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit weg, wenn nicht gesehen wird, dass die Ergebnisse der Wissenschaftlichkeit der eigenen Bemühungen entgegenstehen. Das ist mein Haupteinwand. "
Die modische Behauptung, dass die objektiven Erkenntnisse der Wissenschaften das traditionelle Menschenbild revolutionieren würden, kann Peter Janich daher nicht beeindrucken. Auch aus historischen Gründen.
" Also beim besten Willen weiß ich nicht, was der traditionelle Menschenbildbegriff sein soll. Die Rede von Menschenbildern selber ist erstaunlich wenig erforscht. Also hier hat ein Spezialgebiet der Geschichtswissenschaft und der Philosophie noch viel zu tun, nämlich eine Begriffsgeschichte des Begriffs "Menschenbild" zu schreiben. "
In Marburg hat man diese Aufgabe nun zumindest in Angriff genommen, und folgt dabei einer vorläufigen Spur:
Zunächst existierten in der Geschichte metaphysische, etwa religiöse Theorien, die die Welt auf übernatürliche Kräfte zurückführten. Daran schloss sich die Phase der Weltbilder an: hier wurden Theorien vom ganzen Kosmos und seinen Gesetzmäßigkeiten entworfen, das Bild des Menschen war darin integriert. Etwa in der materialistischen Aussage: Der Kosmos besteht wesentlich aus Atomen und Molekülen und gehorcht mechanischen Gesetzen. Also ist auch der Mensch ein mechanisches und materielles Wesen.
Der Theologe Dieter Korsch, der das Marburger Projekt neben Peter Janich leitet:
" Die Zeit der Weltbilder, die würde ich einmal veranschlagen in die Zeit etwa 1860 bis 1910, etwa bis vor die Vorkriegszeit. Die Weltbilder sind selbst schon Relikte, Überbleibsel von dem, was einmal Metaphysik hieß. Dass es verschiedene Weltbilder gibt, deutet schon auf eine Differenzierung und Pluralisierung der Metaphysiken hin. Das wird bei Menschenbildern noch einmal verengt. Und ich glaube, dass die Belastungen, unter denen die Menschen stehen im 20. Jahrhundert - ausgedrückt durch die sozialen Spannungen, ausgedrückt durch die großen Weltkriege - eine Konzentration auf die Frage, was der Mensch denn sei, befördert hat, was sich dann auch im Begriff Menschenbild reflektiert. "
Menschenbilder werden offenbar vor allem dann konstruiert, wenn Menschen durch Krisen und Belastungen verunsichert sind. Dabei nimmt die Menge der angebotenen Menschenbilder seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr zu. Jeder Einzelne muss sich daher sozusagen sein eigenes Menschenbild erarbeiten. Dieser Entwicklung versuchen die Marburger Wissenschaftler in ihrem eigenen Projekt gerecht zu werden. Sie möchten an Hand konkreter Konfliktsituationen erkunden, wie Menschenbilder heute bei einzelnen Individuen zum Ausdruck und zum Tragen kommen.
Diesem Zweck dienen zum Beispiel die Gespräche über pränatale Diagnostik: soll man einen eventuell geschädigten Embryo austragen oder nicht? Wie geht man mit dem Problem einer äußerst riskanten Frühgeburt um? Wobei diese Gespräche nicht allein akademischen Zwecken dienen.
" Es geht uns aber überhaupt nicht darum, nun Konfliktsituationen von Menschen in dieser Tiefe nun als Laborsituation für wissenschaftliche Erkenntnisse zu nehmen, sondern die Frage kam von den Medizinern, die sagen: wir müssen hier beraten und wir wissen nicht, wie wir das gut tun sollen. "
Daher spricht man in Marburg nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit den Betroffenen selbst. Forscherteams fragen systematisch danach, was diesen alles durch den Kopf geht, wenn sie abwägen, ob sie eine riskante Frühgeburt auf sich nehmen oder einen geschädigten Embryo weiter austragen wollen. Umgekehrt lassen die Wissenschaftler bei diesen Befragungen Kriterien und Werte einfließen, die sie aus ihren historischen Studien über Menschenbilder gewonnen haben. Ihr Ziel ist es, auf diese Weise allgemeine Entscheidungshilfen für die medizinische Beratung formulieren zu können, die über die rein ärztliche Diagnose hinausgehen
" Das heißt unser Ziel ist in diesem Sinne ein ganz praktisches, auch aufklärerisches, weil wir denken: Sie müssen selber verstehen, was sie wollen können. Also was in dieser Entscheidung, die sie auf das Mark ihres Seins hin betrifft, was da standhält. Dafür aber sozusagen die Möglichkeiten entfalten und auch den Blick zu weiten, der in Konfliktsituationen erfahrungsgemäß immer verengt ist, das wäre unser Beitrag. "
"He, Hoover, hallo, du da, Hoover!" So ruft da jemand in schwerem amerikanischem Slang. Das ist nicht allzu geistreich. Und auch die Aussprache lässt zu wünschen übrig. Allerdings ist das schnell entschuldigt, sobald man erfährt, wer da spricht.
Ein alter Fischer findet einen verwaisten Seehundwelpen. Der Mann nennt ihn Hoover, pflegt ihn einige Zeit in der Badewanne seines Hauses und spricht ihm rege zu. Als das Tier zu groß wird, vermacht er es dem Bostoner Zoo. Dort verblüfft der Meeresbewohner Besucher und Wärter immer wieder damit, dass er im perfekten Slang des Fischers sein "He, hallo Hoover" vor sich hinbrabbelt. Und nicht nur das: wenn Hoover das Verlangen nach seinem Weibchen packt, kann er noch mehr. Offenbar hat er im Haus des Fischers einiges mitbekommen.
" Eines Tages, er war inzwischen herangewachsen, sozusagen mannbar geworden, glaubten die Wärter ihren Ohren nicht trauen zu können: sie hörten ihn mehrfach etwas rufen, und zwar "come over here", "come over here"! So hatte der Fischermann seine Frau herbeigerufen in entsprechenden Mating-Situationen ! "
Die Geschichte, die der Jenaer Philosoph Wolfgang Welsch da erzählt, hat sich vor etwa zwanzig Jahren tatsächlich zugetragen. Hoovers "Come over here" bringt auf den Punkt, warum Wolfgang Welsch ein Forschungsprojekt initiiert hat, das sich der Frage widmet: "Was ist der Mensch?"
" Was mir sehr zu denken gibt, ist, dass dieser junge Hoover diesen Satz absolut situationsadäquat plötzlich verwendet hat. Das heißt nicht nur, dass er menschliche Sprache nachahmen kann, die Laute nachahmen kann, das ist gar nicht so überraschend, sondern dass er den Satz semantisch korrekt einzusetzen scheint, das ist verblüffend! "
Nicht nur der Mensch verfügt über Sprache, sondern im Ansatz sogar so mancher Seehund. Und bekanntermaßen verfügen auch Papageien oder Schimpansen über elementare sprachliche Fähigkeiten. Wolfgang Welsch folgert daraus: Man muss neu über den Menschen nachdenken, weil die Grenze zwischen Mensch und Tier grundsätzlich unscharf geworden ist.
Gegenseitige Hilfe und Empathie, Werkzeuggebrauch und Werkzeugherstellung, tradierte Kulturtechniken. Für fast alles, womit homo sapiens früher seine Sonderstellung in der Natur begründete, haben Forscher inzwischen Belege im Tierreich gefunden.
" Das Entscheidende scheint mir zu sein, dass die Abgrenzung bei der Rationalität zusammenbricht. Um ein paar Beispiele zu geben: Selbst höhere Säugetiere, selbst die Tauben verfügen schon über erstaunliche Abstraktionsleistungen, sie können symmetrische und asymmetrische Muster voneinander unterscheiden. Probieren sie das mal bei einem Kind, ab wann ein Kind das kann! Andere Rationalitätsleistungen: das Beherrschen kleiner Zahlen, vor allem das Beherrschen der Objektkategorie findet sich bei höheren Säugetieren und Primaten. Also sie können Objekte identifizieren: wenn ein Tier von links kommt, hinter einem Felsblock verschwindet, rechts wieder auftaucht, meinen sie nicht "Hoppla: ein neues Ereignis in der Welt", sondern sie verstehen: da ist genau dieses eine Tier weitergegangen. Sie beherrschen also die Permanenz von Objekten und sie beherrschen die Identifizierbarkeit von Objekten. "
Es sei nun endlich an der Zeit, meint Wolfgang Welsch, aus der Fülle dieser Einzelergebnisse Konsequenzen fürs Menschenbild zu ziehen. Die traditionelle Anthropologie sei überholt, weil sie den Menschen als ein rein geistiges Wesen versteht und dabei den Geist vom Körper trennt.
" Die klassische Anthropologie war eigentlich eine Anthropologie der humanen Schizophrenie: wir haben zwei Komponenten und wir wissen nicht, wie die zusammenkommen, aber wir sind offenbar irgendwie einheitliche Wesen. "
Eine neue Anthropologie müsse daher den Menschen mitten in die natürliche Evolution hineinsetzen und ihn von seinen körperlichen Grundlagen her begreifen. In diesem Sinne schwebt Wolfgang Welsch nichts Geringeres vor als eine Synthese des zeitgenössischen Wissens über den Menschen im Rahmen einer interdisziplinären Anthropologie.
Seine Kooperationspartner sind: Die Göttinger Evolutionsbiologin Julia Fischer, der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer, der Kieler Psychologe Rainer Mausfeld sowie aus Leipzig die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Ricarda Schubotz und der Evolutionäre Anthropologe Hannes Rakoczy. Zunächst will die Forschergruppe zwei Themenfelder bearbeiten: "Das Fortwirken der Evolution im Menschen". Und " Die Spezifik des Humanen".
" Obwohl die Wissenschaftler von der natürlichen Evolution der menschlichen Eigenschaften ausgehen, verschließen sie natürlich nicht den Blick vor den Errungenschaften des Menschen. "
Welsch:
" Es ist überhaupt unbestreitbar natürlich, dass wir beim Menschen Dinge finden, die unglaublich großartig und anders sind. Im Wesentlichen geht es darum: wie ist der Schritt zu erklären von der biologischen Evolution zur kulturellen Evolution? Also sich nicht auf die Biologie zu beschränken, sondern die kulturelle Evolution hinzuzunehmen, aber zu meinen, dass die kulturelle Evolution ansetzte an diesem Startkapital und ohne dieses nicht hätte starten können! "
Wolfgang Welsch möchte der menschlichen Kultur und dem menschlichen Geist sozusagen die Ehre erwiesen, ohne sie aus dem Zusammenhang der natürlichen Evolution zu reißen. Für dieses feinsinnige Vorhaben greift er auf einen alten Begriff zurück und erklärt ihn zum neuen Paradigma der Anthropologie: den Begriff der Emergenz.
Emergenz heißt: eine neue Qualität, etwa der denkende Geist, entsteht als eine neue Organisationsform bereits vorhandener Elemente: Geistlose Zellen verbinden sich zur neuen, netzwerkartigen Organisationsform des Gehirns - und dadurch kommt der Geist in die Welt.
Noch einen zweiten Begriff wirft Wolfgang Welsch ins Rennen für eine neue Anthropologie: Supervenienz.
Supervenienz heißt: Mit dem Geist und dem Denken sind zwar neue Eigenschaften in die Welt gekommen, aber sie bleiben weiterhin daran gebunden, dass das ihnen zugrunde liegende materielle Programm weiterläuft. Ohne die Aktivität von Nervenzellen gibt es kein Denken. Und es gibt keine Veränderungen im Denken, die nicht auf Veränderungen in der Gehirnaktivität beruhen.
Damit glaubt Wolfgang Welsch das Begriffsarsenal zusammen zu haben, mit dem sich der alte Gegensatz zwischen Materie und Geist genauso überwinden lässt wie der zwischen Natur und Kultur. Geist und Kultur sind zwar an materielle Grundlagen gebunden, aber sie sind eben doch auch etwas Neues, das die Stellung des Menschen in der Natur verändert. Also wirken sie auch auf ihre materiellen Grundlagen ein.
" Man steht immer vor dem Rätsel. Warum ist Gehirnvergrößerung in der Vorgeschichte schon von Homo eingetreten: ist das denn wie ein wuchernder Krebs? Vermutlich nicht, nach aller Wahrscheinlichkeit nicht! Sondern es sind bestimmte Funktionen, es sind Anwendungen des Gehirns, die durch das Gehirn möglich wurden, die rückwirkend dann die Gehirntätigkeit verstärkt haben, sozusagen das evolutionäre Setzen auf Gehirn verstärkt haben. Also kann ich vermutlich das Gehirn schon nicht verstehen ohne seine Tätigkeiten und die sind zum Teil kultureller Art. Dann würden Neuronen mindestens auch in den Bereich Kultur gehören. "
Es gibt zwar nur eine Natur, aber diese eine Natur hat sich in verschiedene Schichten des Physischen, des Lebendigen sowie des Geistigen und Kulturellen ausdifferenziert. Und zwischen diesen Schichten gibt es Übergänge mit Rückkoppelungen. Nach diesem Prinzip will das Jenaer Projekt der interdisziplinären Anthropologie die inneren Schichten des Menschen freilegen. Speziell Wolfgang Welsch untersucht in einem weiteren Projekt, in welcher Weise der Mensch zu objektiver Erkenntnis fähig ist. In drei Jahren wird man wissen, ob dieser Ansatz tatsächlich ein neues Bild vom Menschen liefern kann.
Ein Seminarraum an der Universität Marburg. Studenten der Biologie, Medizin, Theologie, und Philosophie sprechen mit einer Ärztin über die Früherkennung von Schädigungen bei Embryonen mittels Ultraschall. Es geht um die Frage: Wie verändert sich das Selbstverständnis von Menschen, wenn ihnen Bilder vom werdenden Menschen geliefert werden, die es früher nicht gab?
Die Veranstaltung gehört zu einem interdisziplinären Marburger Forschungs- und Lehrprojekt das den schlichten Titel " Menschenbilder" trägt. Anders als beim Projekt der interdisziplinären Anthropologie von Wolfgang Welsch geht es hier nicht darum, ein neues Bild des Menschen zu entwerfen. In Marburg will man vielmehr erforschen, welche Orientierungsleistungen Menschenbilder haben und wie damit in der Gegenwart umgegangen werden kann.
Naturwissenschaftlich geprägte Menschenbilder sind heutzutage vor allem deshalb so verführerisch, weil sie sich eben direkt bildhaft präsentieren: in Bildern von Embryonen, Chromosomen oder in letzter Zeit vor allem vom Gehirn. Solche Bilder versprechen eine wahrhaft objektive Orientierung: wir zeigen euch direkt, wie der Mensch in seinem Innersten aussieht.
Der Philosoph Peter Janich, einer der beiden Sprecher des Marburger Projekts, steht solchen wissenschaftlichen Orientierungsansprüchen jedoch skeptisch entgegen. Er relativiert grundsätzlich den Anspruch, mit naturwissenschaftlichen Methoden objektives über den Menschen sagen zu können.
" Ein ganz auffälliger Sachverhalt ist ja, dass der Mensch nicht nur als Objekt der Forschung auftritt, sondern es sind ja auch Menschen, die die Forschungen machen und die Frage ist natürlich: wie verhalten sich die Ergebnisse der Naturwissenschaften vom Menschen zu der Tatsache, dass ja eben gerade diese beforschten Menschen sozusagen auch die Prototypen der Forscher sind? Kommt im gegenwärtigen Diskurs so gut wie gar nicht vor! Und die Wissenschaften selber, alle Wissenschaften, auch die Naturwissenschaften sind Kulturphänomene, haben eine Kulturgeschichte, eine Geschichte ihrer Methoden, ihrer Rationalitätskriterien, sodass mein sozusagen Eingangswort an die Hirnforscher ist. Wollt ihr denn nicht einmal darüber nachdenken, dass ihr es selber seit, die diese Hirnforscher betreiben und was investiert ihr alles in die Hirnforschung? "
Auch in noch so objektiv erscheinende naturwissenschaftliche Beschreibungen vom Menschen gehen Vormeinungen und Selbstverständnisse der Forscher mit ein. Außerdem sind die Methoden der Naturwissenschaftler nur auf den ersten Blick neutral. Jede Methode und jeder technische Apparat grenzt bestimmte Sachverhalte aus, indem er bestimmte Eigenschaften des Menschen ins Zentrum rückt. Bevor man sich also, so Peter Janich, auf die Menschenbilder von Hirnforschern einlässt, sollte man zunächst fragen: welche unterschwelligen Voraussetzungen machen die Wissenschaftler, welche Zwecke verfolgen sie? Und überschreiten sie dabei nicht die Grenzen ihrer Wissenschaft?
Hirnforscher etwa behaupten in letzter Zeit gebetsmühlenartig: Es gibt keine Willensfreiheit, weil alle menschlichen Entscheidungen durch Vorgänge im Gehirn bestimmt werden.
" Wenn der Hirnforscher der Überzeugung ist, dass sein Hirn für ihn entscheidet, dann gilt dies auch für seine ganzen wissenschaftlichen Ergebnisse. Nun hat das aber eine irritierende Konsequenz: zu diesen Ergebnissen gibt es ja gerade Kritiken. Also, etwas simpel formuliert: Der Naturwissenschaftler stellt die These "T" auf und der Kritiker die These "Non T". Wenn aber beide Ergebnisse Produkte von Hirnaktivitäten sind, dann kann nicht mehr entschieden werden, welches - "T" oder "Nicht-T" - wahr ist. Das heißt: ohne normative Kriterien, ohne Freiheiten, uns an Kriterien zu halten oder auch nicht, haben wir keine Wissenschaften. Anders formuliert: Der Hirnforschung schwimmt sozusagen den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit weg, wenn nicht gesehen wird, dass die Ergebnisse der Wissenschaftlichkeit der eigenen Bemühungen entgegenstehen. Das ist mein Haupteinwand. "
Die modische Behauptung, dass die objektiven Erkenntnisse der Wissenschaften das traditionelle Menschenbild revolutionieren würden, kann Peter Janich daher nicht beeindrucken. Auch aus historischen Gründen.
" Also beim besten Willen weiß ich nicht, was der traditionelle Menschenbildbegriff sein soll. Die Rede von Menschenbildern selber ist erstaunlich wenig erforscht. Also hier hat ein Spezialgebiet der Geschichtswissenschaft und der Philosophie noch viel zu tun, nämlich eine Begriffsgeschichte des Begriffs "Menschenbild" zu schreiben. "
In Marburg hat man diese Aufgabe nun zumindest in Angriff genommen, und folgt dabei einer vorläufigen Spur:
Zunächst existierten in der Geschichte metaphysische, etwa religiöse Theorien, die die Welt auf übernatürliche Kräfte zurückführten. Daran schloss sich die Phase der Weltbilder an: hier wurden Theorien vom ganzen Kosmos und seinen Gesetzmäßigkeiten entworfen, das Bild des Menschen war darin integriert. Etwa in der materialistischen Aussage: Der Kosmos besteht wesentlich aus Atomen und Molekülen und gehorcht mechanischen Gesetzen. Also ist auch der Mensch ein mechanisches und materielles Wesen.
Der Theologe Dieter Korsch, der das Marburger Projekt neben Peter Janich leitet:
" Die Zeit der Weltbilder, die würde ich einmal veranschlagen in die Zeit etwa 1860 bis 1910, etwa bis vor die Vorkriegszeit. Die Weltbilder sind selbst schon Relikte, Überbleibsel von dem, was einmal Metaphysik hieß. Dass es verschiedene Weltbilder gibt, deutet schon auf eine Differenzierung und Pluralisierung der Metaphysiken hin. Das wird bei Menschenbildern noch einmal verengt. Und ich glaube, dass die Belastungen, unter denen die Menschen stehen im 20. Jahrhundert - ausgedrückt durch die sozialen Spannungen, ausgedrückt durch die großen Weltkriege - eine Konzentration auf die Frage, was der Mensch denn sei, befördert hat, was sich dann auch im Begriff Menschenbild reflektiert. "
Menschenbilder werden offenbar vor allem dann konstruiert, wenn Menschen durch Krisen und Belastungen verunsichert sind. Dabei nimmt die Menge der angebotenen Menschenbilder seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr zu. Jeder Einzelne muss sich daher sozusagen sein eigenes Menschenbild erarbeiten. Dieser Entwicklung versuchen die Marburger Wissenschaftler in ihrem eigenen Projekt gerecht zu werden. Sie möchten an Hand konkreter Konfliktsituationen erkunden, wie Menschenbilder heute bei einzelnen Individuen zum Ausdruck und zum Tragen kommen.
Diesem Zweck dienen zum Beispiel die Gespräche über pränatale Diagnostik: soll man einen eventuell geschädigten Embryo austragen oder nicht? Wie geht man mit dem Problem einer äußerst riskanten Frühgeburt um? Wobei diese Gespräche nicht allein akademischen Zwecken dienen.
" Es geht uns aber überhaupt nicht darum, nun Konfliktsituationen von Menschen in dieser Tiefe nun als Laborsituation für wissenschaftliche Erkenntnisse zu nehmen, sondern die Frage kam von den Medizinern, die sagen: wir müssen hier beraten und wir wissen nicht, wie wir das gut tun sollen. "
Daher spricht man in Marburg nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit den Betroffenen selbst. Forscherteams fragen systematisch danach, was diesen alles durch den Kopf geht, wenn sie abwägen, ob sie eine riskante Frühgeburt auf sich nehmen oder einen geschädigten Embryo weiter austragen wollen. Umgekehrt lassen die Wissenschaftler bei diesen Befragungen Kriterien und Werte einfließen, die sie aus ihren historischen Studien über Menschenbilder gewonnen haben. Ihr Ziel ist es, auf diese Weise allgemeine Entscheidungshilfen für die medizinische Beratung formulieren zu können, die über die rein ärztliche Diagnose hinausgehen
" Das heißt unser Ziel ist in diesem Sinne ein ganz praktisches, auch aufklärerisches, weil wir denken: Sie müssen selber verstehen, was sie wollen können. Also was in dieser Entscheidung, die sie auf das Mark ihres Seins hin betrifft, was da standhält. Dafür aber sozusagen die Möglichkeiten entfalten und auch den Blick zu weiten, der in Konfliktsituationen erfahrungsgemäß immer verengt ist, das wäre unser Beitrag. "
Die Stellung des Menschen in der Natur
Ein Forschungsprojekt aus Berlin
Ein Forschungsprojekt aus Berlin
Von Bettina Mittelstraß
Die Versuchsperson hat die Aufgabe, vierzig Mal eine einfache Bewegung der rechten Hand auszuführen. Sie darf entscheiden, wann sie das tut, soll aber jedes Mal signalisieren, wann sie spürt, dass sie es tun will. Gleichzeitig wird mit Hilfe des Elektroenzephalogramms, des EEGs, ein schwaches elektrisches Potential im Gehirn aufgezeichnet, das bei der Vorbereitung willentlicher Bewegungen etwa eine Sekunde vor der Ausführung der Bewegung entsteht.
Soweit in groben Zügen der Grundversuch, den der amerikanische Hirnforscher Benjamin Libet vor rund 25 Jahren anstellte. 1983 veröffentlichte er seine Ergebnisse. Die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse sei diese: Erst entsteht ein Bereitschaftspotential im Gehirn, dann folgt die Willensäußerung und schließlich die Ausführung der Bewegung. Dieser Befund hatte weit reichende Konsequenzen. Weltweit wurde interpretiert: von Willensfreiheit kann ab sofort keine Rede mehr sein. Jan Christopf Heilinger:
" Ich halte diese Aussagen mit Verlaub eigentlich für Unfug auf sehr hohem Niveau. Und die Debatten haben, so ist zumindest meine Meinung, in der letzten Zeit noch einmal deutlich bestätigt, dass aus diesen Libet Experimenten gar nicht folgt, dass wir unfrei seien. "
Dennoch sind die modernen Forschungen der Neurowissenschaften zu unseren Entscheidungsprozessen aufregend und Grund genug, um zumindest das Bild eines frei gegenüber dem Körper agierenden Geistes in Frage zu stellen. Ein philosophischer Dualismus von Körper und Geist, wie ihn Descartes vertrat, hat es heute zunehmend schwer. Nur leider - so der Philosoph Jan Christoph Heilinger - werden die Debatten um die Freiheit des Willens seit Jahren mit viel Sensationslust in den Feuilletons ausgefochten und gipfeln im Ruf nach einer völlig neuen Ethik, einer Neuroethik, und einem völlig neuen Menschenbild.
" Das scheinen mir auch im wesentlichen zum Teil übertriebene Reaktionen zu sein oder auch modische Reaktionen zu sein, und bei vielen dieser vermeintlich neuen Menschenbilder ist aus diesem Grund meiner Meinung auch Vorsicht angesagt. "
Vorsicht auch deshalb, weil der Eindruck entsteht, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herrsche wieder einmal eisige Uneinigkeit und unversöhnliche Konkurrenz: strenges Naturgesetz gegen Freiheit des Geistes. Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie in München.
" Man darf dabei nicht den Fehler machen zu glauben, es ginge um einen Gegensatz der Philosophie und der Biologie oder der Neurowissenschaft. Meistens gibt es auch innerhalb der jeweiligen Disziplin große Unterschiede. Es ist ein Gerücht zum Beispiel zu meinen, die Philosophen seien Cartesianer und meinten, der Geist wirkt unabhängig von Materie und vielleicht auf Materie ein. Das Gros der Philosophen, die ganz überwiegende Zahl ist heute im Gegenteil eher materialistischen Doktrinen zugeneigt - also es ist letztlich doch alles eine Frage materieller Vorgänge, physischer Vorgänge, die neurowissenschaftlich beschreibbar seien. Die meisten sind sogar der Auffassung, Determinismus sei mit Freiheit vereinbar, innerhalb der Philosophie! "
Julian Nida-Rümelin, Jan-Christof Heilinger sowie zahlreiche weitere Forscher aus Geistes- und Naturwissenschaften treffen sich seit nunmehr gut einem Jahr regelmäßig an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Diskussionen unter dem Titel "Humanprojekt - Zur Stellung des Menschen in der Natur" dienen dem Versuch, vor dem Hintergrund moderner Forschungsmethoden und -ergebnisse interdisziplinär und konstruktiv über ein modernes Menschenbild nachzudenken. Eine erste Frage ist, was heutzutage mit Freiheit eigentlich gemeint sein könnte. Jan-Christoph Heilinger:
" Statt nun der Frage nach der menschlichen Freiheit so nachzugehen, dass wir nur diese Option ja oder nein haben - der Mensch ist komplett frei oder komplett unfrei - haben wir versucht, ein graduelles Verständnis von Freiheit dem gegenüber zu stellen und das haben wir in doppelter Hinsicht gemacht: also zum einen gibt es die ontogenetische Sphäre des Individuums, wo man sich anschauen könnte, dass auch ein einzelner Mensch über den Verlauf seiner eigenen Entwicklung unterschiedliche Grade von Freiheit hat. Natürlich ist ein Kind ganz anderes frei als ein Erwachsener oder ein weiser Greis. Und damit sind immer unterschiedliche auch Bewusstseinszustände in Bezug auf die Freiheit verbunden. ... Und der zweite Aspekt, weil wir das ja in einer doppelten Hinsicht untersuchen, ist eben dann der Blick auch auf die Tierwelt und dass wir eben schauen, wo sich in der Natur eben auch schon verschiedenen Elemente oder Vorformen von Freiheit finden lassen. "
Volker Gerhardt:
" An erster Stelle, so denke ich, muss die Frage stehen: worin liegt denn wohlmöglich der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier? Und das sollte eine Antwort sein, die für die Tiere nicht verächtlich ausfällt und die versucht zu beschreiben, worin denn die besondere Leistungsfähigkeit des Menschen liegt. Und wenn wir hören, worüber in Ethik, auch in Religion, auch in der Politik zunächst gesprochen wird, um den Menschen als Menschen auszuzeichnen, ist wie selbstverständlich von der Freiheit die Rede. "
Die Freiheit des Menschen, die einen wesentlichen Teil unseres Selbstbildes ausmacht, muss aber von irgendwoher kommen, betont der Berliner Philosophieprofessor Volker Gerhardt. Es sei unsinnig, diese eine, besondere Fähigkeit des Menschen aus der Entwicklungsgeschichte herauszunehmen. Daher widmeten sich die ersten Debatten im Humanprojekt der "Evolution der Freiheit" beziehungsweise einer "Naturgeschichte der Freiheit".
Volker Gerhardt: " Im Umgang mit Tieren haben wir uns, wenn sie uns nahe stehen, ja sowieso schon daran gewöhnt, ihnen so etwas wie Freiheit zu unterstellen. Also man kann keinem Hund pfeifen oder ihm irgendeinen Befehl geben ohne nicht irgendwie zu unterstellen, dass er das versteht und das nach Abwägung aller Bedingungen auch in sein Verhalten integriert. "
Eva-Maria Engelen: " Ein Merkmal ist, dass Freiheit unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass wir eine Kontrolle darüber haben, was wir tun. "
Auch Tiere haben Merkmale von Freiheit, sagt Eva-Maria Engelen, als Philosophin Mitarbeiterin am Humanprojekt, und verweist auf das Spielverhalten von Tieren. Menschen erkennen unschwer, wenn ein Hund spielen will. Er drückt unvermittelt den Brustkorb mit den Vorderbeinen auf den Boden, er streckt den Hintern hoch, wedelt mit dem Schwanz, bellt und springt in dieser Haltung hin und her. Spielverhalten, so sagen es auch die Biologen, ist spontan, zweckfrei und gilt dem Vergnügen. Eva-Maria Engelen:
" Das Tier, das spielt, folgt offensichtlich keinen reinen Reizreaktionsmechanismen. Es ist nicht vollkommen determiniert in dem, was es tut, wenn es spielt. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Spiel ist, dass die Verhaltensmuster freier kombinierbar sind als im Ernstverhalten. Also: es ist nicht so, dass das Tier einem Feind begegnet und flieht. Sondern es kann im Spiel Verhaltensweisen, wie es die bei der Flucht zeigt, mit anderen kombinieren, wie es sie zeigt, wenn es auf andere Sozialpartner freudig zugeht. "
Mit anderen Worten: im Spiel kombiniert ein Hund seine Verhaltensweisen frei nach Schnauze. Und diese Beobachtung, so Eva-Maria Engelen, passt nicht in das Bild einer Natur ohne Freiheit, aus der - bestenfalls - nur der Mensch herausfällt.
" Die prominenten Diskussionen laufen ja so, dass man sagt: der Mensch ist auch determiniert und hat keine Freiheit. Und der Ansatz mit dem Spiel versucht zu zeigen: das ist nicht nur auf den Menschen keine richtige Annahme, sondern es ist sogar in Bezug auf die Tiere keine richtige Annahme, weil, wenn man schon beim Tier Verhaltensformen oder Momente findet, von denen man sagen kann: ja, aber das passt nicht zu einem rein deterministischen Weltbild, dann kann man es ja für den Menschen schon gar nicht sagen. "
Nicht nur die Philosophen sehen in der Tierwelt Ansätze für eine Entstehungsgeschichte von Freiheit, auch Biologen und Verhaltensforscher gehen mit Experimenten vorsichtig in diese Richtung. Die Primatenforscherin Professor Julia Fischer untersucht "Metakognition" bei Tieren.
" Unter Metakognition versteht man erst einmal die Frage, ob man Zugriff darauf hat, was man weiß. Weiß ich, was ich weiß? Und bei uns Menschen gehen wir davon aus, dass wir das tun. Eines der Klassiker ist - ich benutze mal die Metapher der Quizshow - man kriegt eine Frage gestellt und dann kann man auf den Knopf drücken und sagen: ich weiß die Antwort. Also das sind zwei Ebenen. Und: können Tiere das auch? "
Versuche mit Rhesusaffen lassen den Schluss zu, dass auch sie Zugriff auf ihr Wissen haben. Julia Fischer:
" Rhesusaffen werden trainiert. Auf einem Bildschirm kriegen sie was gezeigt und dann später kriegen sie eine Auswahl von verschiedenen Bildern gezeigt und dann müssen sie auf das tippen, was sie schon gesehen haben. Und jetzt kann man eine Zwischenstufe einschalten, also man zeigt ihnen erst ein Bild und dann kommt die Zwischenstufe, wo sie gewissermaßen entscheiden dürfen, ob sie diesen Test machen wollen überhaupt oder nicht. Und man hat gefunden, dass wenn sie sagen können "ne, ich will den Test nicht machen" - also haben die Auswahl: sie können ablehnen oder sie machen den. Und wenn sie ihn dann machen, dann sind sie sehr viel besser als wenn sie gezwungen werden, den Test zu machen. Sie scheiden also tatsächlich die aus, wo sie sich anscheinend nicht mehr richtig dran erinnern. Und wenn man ihnen die Möglichkeit nicht gibt, das abzulehnen, dann geht die mittlere Erkennungsrate rapide runter. Und das ist ein ganz schönes Beispiel dafür, dass die Tiere eben doch einen Zugriff anscheinend da drauf haben, woran sie sich erinnern. "
Der Befund übersteigt bei weitem das, was sich Verhaltensforscher in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vorgestellt haben. Der so genannte Behavourismus, der unsere Vorstellungen vom Tierverhalten nachhaltig geprägt hat, sah Tiere als kleine Maschinen, die automatisiert auf Reize reagieren. Moderne Untersuchungen wie die von Julia Fischer zeigen aber, dass es offenbar eine Ebene gibt, auf der Tiere irgendwie darüber nachdenken, wie sie oder ob sie handeln wollen oder nicht und dann Entscheidungen treffen. Aber heißt das schon, dass Tiere frei sind?
Julia Fischer: " Freiheit heißt ja auch, dass ich verschiedene Optionen habe. Und insofern berührt es das. Aber es berührt auch gleichzeitig die Frage natürlich nach dem Bewusstsein. Also: bin ich mir im Klaren darüber, was für Optionen ich habe. Und welche Beweggründe habe ich, um die auszuwählen? Und da bietet dieses Modell der Metakognition vielleicht einen Ansatz, um das in einem sehr kleinen, noch einfachen Zusammenhang sich anzugucken, wie so was entstehen könnte. "
Optionen, Möglichkeiten haben, das Nachdenken darüber, Kontrolle haben und bewusst "Entscheidungen" treffen - so sprechen wir über Freiheit. So sprechen Philosophen über Freiheit, aber auch Biologen, und das selbst dann, wenn sie das Verhalten so genannter niederer Lebewesen beobachten. So führte der Würzburger Neurobiologe Professor Martin Heisenberg im Humanprojekt einen Film über die Fruchtfliege Drosophila vor, der Volker Gerhardt beeindruckte:
" Da geht nun eine Drosophila über einen Steg und trifft auf einen Abgrund und es ist unerhört spannend, wie sie sich diesem Abgrund gegenüber verhält. Sie orientiert sich. Dann versucht sie herauszubekommen, wie breit der Spalt ist. Und nachdem sie - ich schildere nur die Beobachtung! - nachdem sie eingeschätzt zu haben scheint, dass das ein Spalt ist, den sie überwinden kann, lässt sie sich vorsichtig in diesen Abgrund hinab, tastet mit den Beinen so, dass sie auf die andere Seite kommt, hangelt sich mit den, ich sag mal mit den "Fingerspitzen" auf der anderen Seite nach oben, sieht einen Halt, bildet eine Brücke über den Spalt, und dann hat sie soviel Sicherheit, dass sie mit den Hinterfüßen loslässt, gegen den Spalt auf der anderen Seite schlägt und sich nach oben hangelt und das überwunden hat. Und der Biologe verwendet in der Beschreibung dieses Verhaltens Begriffe wie "Überlegung", "Beratung", "Entscheidung" und "Wille" und niemand, der den Film gesehen hat, wird dem widersprechen. "
Julian Nida-Rümelin: " Also das ist genau das Ziel dieses großen Projektes: das Abklären unserer Begrifflichkeiten, die ja nun nicht normalerweise in der Diskussion sind, sondern immer in einem Fach diskutiert werden, und selten kommen Philosophen und Biologen zusammen und diskutieren das. "
Wie kann es sein, dass man behauptet, es gäbe nach den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft keine Freiheit - nicht bei Tieren und nicht bei Menschen - und hat dann doch keine anderen Worte für die Beobachtungen in der Natur als solche, die irgendwie von Freiheit sprechen? Worte, die selbst kleinsten Lebewesen Eigenschaften von Freiheit zuschreiben. Julian Nida-Rümelin sieht in der Debatte über die verwendeten Begriffe den größten Klärungsbedarf: in dieser Debatte verstehen sich Wissenschaftler schlecht. Alle sprechen von Freiheit, aber was meint der Einzelne? Und was will oder soll man gemeinsam meinen?
" An diesem Freiheitsbegriff hängen andere Begriffe. Zum Beispiel der der Verantwortung. Üblicherweise sind wir der Auffassung, wenn jemand nicht frei ist, etwas zu tun, etwas nicht frei entscheiden kann, keine alternativen Möglichkeiten hat, dann kann er auch nicht verantwortlich gemacht werden für das, was er tut. Das ist philosophisch umstritten, ist in der Rechtstheorie umstritten, aber es ist die Basis unserer alltäglichen Verständigung. "
Es macht wenig Sinn, die Rede von Freiheit aufzugeben und unser Menschenbild in eines umzuschreiben, das uns den Willen und die Verantwortung abschreibt. Eher müsste man weiter darüber nachdenken, ob wir uns nicht schon viel früher als beim Menschen erlauben sollten, von Freiheit zu reden, und wenn ja, wie. Jan-Christoph Heilinger:
" Man könnte vermuten, und das ist auch eine These, der wir im Humanprojekt nachgehen, dass eben auch das aktuelle Menschenbild, das den gegenwärtigen Verhältnissen angemessener ist, über weite Teile eben gar kein neues sein muss, sondern auch alte Elemente integrieren kann, ohne mit denen zu brechen. Vielmehr kann es also um eine sensible Integration schon bestehender Elemente schon auch aus der Vergangenheit gehen und diese sensible Integration könnte ja dann dazu beitragen, dass Menschenbild, das wir heute haben, einfach zu schärfen. "
Schärfen will man im Humanprojekt nach dem Begriff der Freiheit als nächstes den kaum davon zu trennenden und immer wieder in der Debatte zwischen Biologie und Geisteswissenschaften verhandelten Begriff des Bewusstseins.
Nida-Rümelin: " Bewusstsein spielt für unser Menschenbild eine zentrale Rolle. Wir sind bewusst Handelnde, wir versuchen wenigstens die Motive zu klären, nach denen wir etwas tun. Wir rechtfertigen uns gegenüber anderen. Also Bewusstsein spielt eine wichtige Rolle. Und heute sind wir genau an der Nahtstelle - also diese erste Phase, Evolution der Freiheit, ist jetzt erst einmal abgeschlossen. Das Thema ist nicht endgültig erledigt, das ist klar. Jetzt beginnt die zweite Phase, nämlich "Funktionen des Bewusstseins". "
Jan Christof Heilinger: " Ich glaube auch, dass diese Aufgabe, ein Bild vom Menschen zu zeichnen, letztendlich eine beständige Aufgabe ist und aus diesem Grund auch gewissermaßen unabschließbar ist, sodass wir den Namen Humanprojekt, der ja wirklich sehr groß ist, auch vielleicht nicht ganz zu Unrecht haben. "
Die Versuchsperson hat die Aufgabe, vierzig Mal eine einfache Bewegung der rechten Hand auszuführen. Sie darf entscheiden, wann sie das tut, soll aber jedes Mal signalisieren, wann sie spürt, dass sie es tun will. Gleichzeitig wird mit Hilfe des Elektroenzephalogramms, des EEGs, ein schwaches elektrisches Potential im Gehirn aufgezeichnet, das bei der Vorbereitung willentlicher Bewegungen etwa eine Sekunde vor der Ausführung der Bewegung entsteht.
Soweit in groben Zügen der Grundversuch, den der amerikanische Hirnforscher Benjamin Libet vor rund 25 Jahren anstellte. 1983 veröffentlichte er seine Ergebnisse. Die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse sei diese: Erst entsteht ein Bereitschaftspotential im Gehirn, dann folgt die Willensäußerung und schließlich die Ausführung der Bewegung. Dieser Befund hatte weit reichende Konsequenzen. Weltweit wurde interpretiert: von Willensfreiheit kann ab sofort keine Rede mehr sein. Jan Christopf Heilinger:
" Ich halte diese Aussagen mit Verlaub eigentlich für Unfug auf sehr hohem Niveau. Und die Debatten haben, so ist zumindest meine Meinung, in der letzten Zeit noch einmal deutlich bestätigt, dass aus diesen Libet Experimenten gar nicht folgt, dass wir unfrei seien. "
Dennoch sind die modernen Forschungen der Neurowissenschaften zu unseren Entscheidungsprozessen aufregend und Grund genug, um zumindest das Bild eines frei gegenüber dem Körper agierenden Geistes in Frage zu stellen. Ein philosophischer Dualismus von Körper und Geist, wie ihn Descartes vertrat, hat es heute zunehmend schwer. Nur leider - so der Philosoph Jan Christoph Heilinger - werden die Debatten um die Freiheit des Willens seit Jahren mit viel Sensationslust in den Feuilletons ausgefochten und gipfeln im Ruf nach einer völlig neuen Ethik, einer Neuroethik, und einem völlig neuen Menschenbild.
" Das scheinen mir auch im wesentlichen zum Teil übertriebene Reaktionen zu sein oder auch modische Reaktionen zu sein, und bei vielen dieser vermeintlich neuen Menschenbilder ist aus diesem Grund meiner Meinung auch Vorsicht angesagt. "
Vorsicht auch deshalb, weil der Eindruck entsteht, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften herrsche wieder einmal eisige Uneinigkeit und unversöhnliche Konkurrenz: strenges Naturgesetz gegen Freiheit des Geistes. Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie in München.
" Man darf dabei nicht den Fehler machen zu glauben, es ginge um einen Gegensatz der Philosophie und der Biologie oder der Neurowissenschaft. Meistens gibt es auch innerhalb der jeweiligen Disziplin große Unterschiede. Es ist ein Gerücht zum Beispiel zu meinen, die Philosophen seien Cartesianer und meinten, der Geist wirkt unabhängig von Materie und vielleicht auf Materie ein. Das Gros der Philosophen, die ganz überwiegende Zahl ist heute im Gegenteil eher materialistischen Doktrinen zugeneigt - also es ist letztlich doch alles eine Frage materieller Vorgänge, physischer Vorgänge, die neurowissenschaftlich beschreibbar seien. Die meisten sind sogar der Auffassung, Determinismus sei mit Freiheit vereinbar, innerhalb der Philosophie! "
Julian Nida-Rümelin, Jan-Christof Heilinger sowie zahlreiche weitere Forscher aus Geistes- und Naturwissenschaften treffen sich seit nunmehr gut einem Jahr regelmäßig an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Diskussionen unter dem Titel "Humanprojekt - Zur Stellung des Menschen in der Natur" dienen dem Versuch, vor dem Hintergrund moderner Forschungsmethoden und -ergebnisse interdisziplinär und konstruktiv über ein modernes Menschenbild nachzudenken. Eine erste Frage ist, was heutzutage mit Freiheit eigentlich gemeint sein könnte. Jan-Christoph Heilinger:
" Statt nun der Frage nach der menschlichen Freiheit so nachzugehen, dass wir nur diese Option ja oder nein haben - der Mensch ist komplett frei oder komplett unfrei - haben wir versucht, ein graduelles Verständnis von Freiheit dem gegenüber zu stellen und das haben wir in doppelter Hinsicht gemacht: also zum einen gibt es die ontogenetische Sphäre des Individuums, wo man sich anschauen könnte, dass auch ein einzelner Mensch über den Verlauf seiner eigenen Entwicklung unterschiedliche Grade von Freiheit hat. Natürlich ist ein Kind ganz anderes frei als ein Erwachsener oder ein weiser Greis. Und damit sind immer unterschiedliche auch Bewusstseinszustände in Bezug auf die Freiheit verbunden. ... Und der zweite Aspekt, weil wir das ja in einer doppelten Hinsicht untersuchen, ist eben dann der Blick auch auf die Tierwelt und dass wir eben schauen, wo sich in der Natur eben auch schon verschiedenen Elemente oder Vorformen von Freiheit finden lassen. "
Volker Gerhardt:
" An erster Stelle, so denke ich, muss die Frage stehen: worin liegt denn wohlmöglich der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier? Und das sollte eine Antwort sein, die für die Tiere nicht verächtlich ausfällt und die versucht zu beschreiben, worin denn die besondere Leistungsfähigkeit des Menschen liegt. Und wenn wir hören, worüber in Ethik, auch in Religion, auch in der Politik zunächst gesprochen wird, um den Menschen als Menschen auszuzeichnen, ist wie selbstverständlich von der Freiheit die Rede. "
Die Freiheit des Menschen, die einen wesentlichen Teil unseres Selbstbildes ausmacht, muss aber von irgendwoher kommen, betont der Berliner Philosophieprofessor Volker Gerhardt. Es sei unsinnig, diese eine, besondere Fähigkeit des Menschen aus der Entwicklungsgeschichte herauszunehmen. Daher widmeten sich die ersten Debatten im Humanprojekt der "Evolution der Freiheit" beziehungsweise einer "Naturgeschichte der Freiheit".
Volker Gerhardt: " Im Umgang mit Tieren haben wir uns, wenn sie uns nahe stehen, ja sowieso schon daran gewöhnt, ihnen so etwas wie Freiheit zu unterstellen. Also man kann keinem Hund pfeifen oder ihm irgendeinen Befehl geben ohne nicht irgendwie zu unterstellen, dass er das versteht und das nach Abwägung aller Bedingungen auch in sein Verhalten integriert. "
Eva-Maria Engelen: " Ein Merkmal ist, dass Freiheit unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass wir eine Kontrolle darüber haben, was wir tun. "
Auch Tiere haben Merkmale von Freiheit, sagt Eva-Maria Engelen, als Philosophin Mitarbeiterin am Humanprojekt, und verweist auf das Spielverhalten von Tieren. Menschen erkennen unschwer, wenn ein Hund spielen will. Er drückt unvermittelt den Brustkorb mit den Vorderbeinen auf den Boden, er streckt den Hintern hoch, wedelt mit dem Schwanz, bellt und springt in dieser Haltung hin und her. Spielverhalten, so sagen es auch die Biologen, ist spontan, zweckfrei und gilt dem Vergnügen. Eva-Maria Engelen:
" Das Tier, das spielt, folgt offensichtlich keinen reinen Reizreaktionsmechanismen. Es ist nicht vollkommen determiniert in dem, was es tut, wenn es spielt. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Spiel ist, dass die Verhaltensmuster freier kombinierbar sind als im Ernstverhalten. Also: es ist nicht so, dass das Tier einem Feind begegnet und flieht. Sondern es kann im Spiel Verhaltensweisen, wie es die bei der Flucht zeigt, mit anderen kombinieren, wie es sie zeigt, wenn es auf andere Sozialpartner freudig zugeht. "
Mit anderen Worten: im Spiel kombiniert ein Hund seine Verhaltensweisen frei nach Schnauze. Und diese Beobachtung, so Eva-Maria Engelen, passt nicht in das Bild einer Natur ohne Freiheit, aus der - bestenfalls - nur der Mensch herausfällt.
" Die prominenten Diskussionen laufen ja so, dass man sagt: der Mensch ist auch determiniert und hat keine Freiheit. Und der Ansatz mit dem Spiel versucht zu zeigen: das ist nicht nur auf den Menschen keine richtige Annahme, sondern es ist sogar in Bezug auf die Tiere keine richtige Annahme, weil, wenn man schon beim Tier Verhaltensformen oder Momente findet, von denen man sagen kann: ja, aber das passt nicht zu einem rein deterministischen Weltbild, dann kann man es ja für den Menschen schon gar nicht sagen. "
Nicht nur die Philosophen sehen in der Tierwelt Ansätze für eine Entstehungsgeschichte von Freiheit, auch Biologen und Verhaltensforscher gehen mit Experimenten vorsichtig in diese Richtung. Die Primatenforscherin Professor Julia Fischer untersucht "Metakognition" bei Tieren.
" Unter Metakognition versteht man erst einmal die Frage, ob man Zugriff darauf hat, was man weiß. Weiß ich, was ich weiß? Und bei uns Menschen gehen wir davon aus, dass wir das tun. Eines der Klassiker ist - ich benutze mal die Metapher der Quizshow - man kriegt eine Frage gestellt und dann kann man auf den Knopf drücken und sagen: ich weiß die Antwort. Also das sind zwei Ebenen. Und: können Tiere das auch? "
Versuche mit Rhesusaffen lassen den Schluss zu, dass auch sie Zugriff auf ihr Wissen haben. Julia Fischer:
" Rhesusaffen werden trainiert. Auf einem Bildschirm kriegen sie was gezeigt und dann später kriegen sie eine Auswahl von verschiedenen Bildern gezeigt und dann müssen sie auf das tippen, was sie schon gesehen haben. Und jetzt kann man eine Zwischenstufe einschalten, also man zeigt ihnen erst ein Bild und dann kommt die Zwischenstufe, wo sie gewissermaßen entscheiden dürfen, ob sie diesen Test machen wollen überhaupt oder nicht. Und man hat gefunden, dass wenn sie sagen können "ne, ich will den Test nicht machen" - also haben die Auswahl: sie können ablehnen oder sie machen den. Und wenn sie ihn dann machen, dann sind sie sehr viel besser als wenn sie gezwungen werden, den Test zu machen. Sie scheiden also tatsächlich die aus, wo sie sich anscheinend nicht mehr richtig dran erinnern. Und wenn man ihnen die Möglichkeit nicht gibt, das abzulehnen, dann geht die mittlere Erkennungsrate rapide runter. Und das ist ein ganz schönes Beispiel dafür, dass die Tiere eben doch einen Zugriff anscheinend da drauf haben, woran sie sich erinnern. "
Der Befund übersteigt bei weitem das, was sich Verhaltensforscher in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vorgestellt haben. Der so genannte Behavourismus, der unsere Vorstellungen vom Tierverhalten nachhaltig geprägt hat, sah Tiere als kleine Maschinen, die automatisiert auf Reize reagieren. Moderne Untersuchungen wie die von Julia Fischer zeigen aber, dass es offenbar eine Ebene gibt, auf der Tiere irgendwie darüber nachdenken, wie sie oder ob sie handeln wollen oder nicht und dann Entscheidungen treffen. Aber heißt das schon, dass Tiere frei sind?
Julia Fischer: " Freiheit heißt ja auch, dass ich verschiedene Optionen habe. Und insofern berührt es das. Aber es berührt auch gleichzeitig die Frage natürlich nach dem Bewusstsein. Also: bin ich mir im Klaren darüber, was für Optionen ich habe. Und welche Beweggründe habe ich, um die auszuwählen? Und da bietet dieses Modell der Metakognition vielleicht einen Ansatz, um das in einem sehr kleinen, noch einfachen Zusammenhang sich anzugucken, wie so was entstehen könnte. "
Optionen, Möglichkeiten haben, das Nachdenken darüber, Kontrolle haben und bewusst "Entscheidungen" treffen - so sprechen wir über Freiheit. So sprechen Philosophen über Freiheit, aber auch Biologen, und das selbst dann, wenn sie das Verhalten so genannter niederer Lebewesen beobachten. So führte der Würzburger Neurobiologe Professor Martin Heisenberg im Humanprojekt einen Film über die Fruchtfliege Drosophila vor, der Volker Gerhardt beeindruckte:
" Da geht nun eine Drosophila über einen Steg und trifft auf einen Abgrund und es ist unerhört spannend, wie sie sich diesem Abgrund gegenüber verhält. Sie orientiert sich. Dann versucht sie herauszubekommen, wie breit der Spalt ist. Und nachdem sie - ich schildere nur die Beobachtung! - nachdem sie eingeschätzt zu haben scheint, dass das ein Spalt ist, den sie überwinden kann, lässt sie sich vorsichtig in diesen Abgrund hinab, tastet mit den Beinen so, dass sie auf die andere Seite kommt, hangelt sich mit den, ich sag mal mit den "Fingerspitzen" auf der anderen Seite nach oben, sieht einen Halt, bildet eine Brücke über den Spalt, und dann hat sie soviel Sicherheit, dass sie mit den Hinterfüßen loslässt, gegen den Spalt auf der anderen Seite schlägt und sich nach oben hangelt und das überwunden hat. Und der Biologe verwendet in der Beschreibung dieses Verhaltens Begriffe wie "Überlegung", "Beratung", "Entscheidung" und "Wille" und niemand, der den Film gesehen hat, wird dem widersprechen. "
Julian Nida-Rümelin: " Also das ist genau das Ziel dieses großen Projektes: das Abklären unserer Begrifflichkeiten, die ja nun nicht normalerweise in der Diskussion sind, sondern immer in einem Fach diskutiert werden, und selten kommen Philosophen und Biologen zusammen und diskutieren das. "
Wie kann es sein, dass man behauptet, es gäbe nach den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft keine Freiheit - nicht bei Tieren und nicht bei Menschen - und hat dann doch keine anderen Worte für die Beobachtungen in der Natur als solche, die irgendwie von Freiheit sprechen? Worte, die selbst kleinsten Lebewesen Eigenschaften von Freiheit zuschreiben. Julian Nida-Rümelin sieht in der Debatte über die verwendeten Begriffe den größten Klärungsbedarf: in dieser Debatte verstehen sich Wissenschaftler schlecht. Alle sprechen von Freiheit, aber was meint der Einzelne? Und was will oder soll man gemeinsam meinen?
" An diesem Freiheitsbegriff hängen andere Begriffe. Zum Beispiel der der Verantwortung. Üblicherweise sind wir der Auffassung, wenn jemand nicht frei ist, etwas zu tun, etwas nicht frei entscheiden kann, keine alternativen Möglichkeiten hat, dann kann er auch nicht verantwortlich gemacht werden für das, was er tut. Das ist philosophisch umstritten, ist in der Rechtstheorie umstritten, aber es ist die Basis unserer alltäglichen Verständigung. "
Es macht wenig Sinn, die Rede von Freiheit aufzugeben und unser Menschenbild in eines umzuschreiben, das uns den Willen und die Verantwortung abschreibt. Eher müsste man weiter darüber nachdenken, ob wir uns nicht schon viel früher als beim Menschen erlauben sollten, von Freiheit zu reden, und wenn ja, wie. Jan-Christoph Heilinger:
" Man könnte vermuten, und das ist auch eine These, der wir im Humanprojekt nachgehen, dass eben auch das aktuelle Menschenbild, das den gegenwärtigen Verhältnissen angemessener ist, über weite Teile eben gar kein neues sein muss, sondern auch alte Elemente integrieren kann, ohne mit denen zu brechen. Vielmehr kann es also um eine sensible Integration schon bestehender Elemente schon auch aus der Vergangenheit gehen und diese sensible Integration könnte ja dann dazu beitragen, dass Menschenbild, das wir heute haben, einfach zu schärfen. "
Schärfen will man im Humanprojekt nach dem Begriff der Freiheit als nächstes den kaum davon zu trennenden und immer wieder in der Debatte zwischen Biologie und Geisteswissenschaften verhandelten Begriff des Bewusstseins.
Nida-Rümelin: " Bewusstsein spielt für unser Menschenbild eine zentrale Rolle. Wir sind bewusst Handelnde, wir versuchen wenigstens die Motive zu klären, nach denen wir etwas tun. Wir rechtfertigen uns gegenüber anderen. Also Bewusstsein spielt eine wichtige Rolle. Und heute sind wir genau an der Nahtstelle - also diese erste Phase, Evolution der Freiheit, ist jetzt erst einmal abgeschlossen. Das Thema ist nicht endgültig erledigt, das ist klar. Jetzt beginnt die zweite Phase, nämlich "Funktionen des Bewusstseins". "
Jan Christof Heilinger: " Ich glaube auch, dass diese Aufgabe, ein Bild vom Menschen zu zeichnen, letztendlich eine beständige Aufgabe ist und aus diesem Grund auch gewissermaßen unabschließbar ist, sodass wir den Namen Humanprojekt, der ja wirklich sehr groß ist, auch vielleicht nicht ganz zu Unrecht haben. "